Eine nationale Revolution
„Die Revolution von 1989 war keine liberale Revolution„. Unter diesem Titel postete Thomas Schmid in der WELT einen die Herstellung der deutschen Einheit betreffenden Eintrag.
Die 89er Revolution war im Rückblick weder ein sozialistischer noch ein liberaler noch sonst irgendein ideologisch bestimmter Umsturz, denn die Änderungen im Wirtschafts- und Sozialsystem erfolgten erst nach dem Ende der Massenbewegung im Rahmen der Herstellung der deutschen Einheit. Die Demonstrationen endeten schon kurz vor der Volkskammerwahl im Marz 1990 und damit auch das Revolutiönchen. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche System wurde erst im Rahmen des Einigungsvertrags im Juni/Juli 1990 reformiert.
Das ganze läßt sich anhand meiner Unterlagen nachvollziehen. Im November 1989 stellte ich einen Antrag auf die Gründung eines privaten Ingenieurbüros. Der wurde wegen fehlenden gesetzlichen Grundagen abgelehnt. Sieht so eine liberale Revolution aus? Nee, bestimmt nicht! Meine Freundin bekam ihr Gewerbe im Juni 1990 genehmigt. Vierzehn Tage vor der Währung. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich schon drei Monate im Westen. Jeden Montag und jeden Freitag war auf der Autobahn Völkerwanderung, weil das Hunderttausende so regelten.
Am ehesten war es eine nationale Revolution, denn es ging ja darum, dem russischen Machtbereich zu entrinnen, um die Berliner Statthalter und die Plan- und Mangelwirtschaft loszuwerden. Die erste Demo in Weimar fand am 24. Oktober 1989 mit etwa 5.000 Teilnehmern statt. Neben dem Versammlungsort waren zwischen Schloß und Landschaftshaus etwa 10 russische Schützenpanzer aufgefahren. Sie machten nichts, aber sie waren eben da. Wozu ist nie geklärt worden. Bei der Veranstaltung empfanden sie viele Leute gewohnheitsmäßig als Bedrohung.
Die Rufe „Wir sind ein Volk“ lassen sich nur national deuten, denn die Frage nach der zukünftigen Oberherrschaft über das DDR-Gebiet überlagerte alles. Daß die DDR ohne Kernwaffen keine eigenständige souveräne Politik betreiben konnte, war den meisten Leuten klar. Darum scheiterten auch alle Aufrufe zu einer Weiterführung der Republik wie „Für unser Land“. Was mit Polen, Tschechien, Ungarn und anderen Sowjetsatelliten bündnistechnisch geschehen würde, lag 1989 noch voll im Nebel. Und damit wer hinter der Oder-Neiße-Ostgrenze die Strippen ziehen würde.
Eine Anmerkung zur liberalen Revolution: Der Weimarer Dissident Andreas Koßmann und ich hatten zu einer Versammlung des Demokratischen Aufbruchs Fragebögen vorbereitet und ausgegeben, die anonym ausgefüllt wurden. Fast die Hälfte der Anwesenden entschied sich für die Weiterführung des Sozialismus, allerdings mit menschlichem Antlitz, die knappe Mehrheit für Marktwirtschaft.
Der Haken an der Umfrage war natürlich, daß niemand richtig eine Ahnung vom westlichen System hatte. Die Grenze war gerade erst geöffnet worden, man kannte ein paar Aldis und Auzahlstellen vom Begrüßungsgeld und hatte gesehen, daß die Straßen jenseits des Stacheldrahts in einem guten Zustand waren. Das wars eigentlich. Die Wessis wußten vom Osten auch weniger als nichts. Fehlende Analyse war keine gute Grundlage für weitreichende Entscheidungen. Aber die Zeit drängte, Rußland war instabil, im August 1991 putschte die Kommunistische Partei in Moskau. Das ging nochmal gut, aber das außenpolitische Zeitfenster war zu klein, um in aller Ruhe Überlegungen anzustellen.
Außerdem machten ab dem Jahreswechsel 1989/90 die Leute weg. Wegen grassierender Wohnungsnot, wegen verweigerten Gewerbeerlaubnissen, wegen höheren Löhnen im Westen, wegen verwandschaftlichen Beziehungen und allem möglichen. Im Westen herrschte wegen den vielen Neuankömmlingen Panik. Man wollte die Flut der Übersiedler eindämmen. Die Währung und das Versprechen „blühender Landschaften“ schaften das auch einigermaßen.
Thomas Schmid hat recht wenn er bezweifelt, daß die 89er Revolution liberal war. Unter den außenpoltischen Vorzeichen der damaligen Zeit war es eher eine nationale Revolution.