Halbzeit im Euro-Endspiel – Chaos in der Kabine
Die Statistik ist keine exakte Wissenschaft. Da gibt es subjektiv das Interesse der Herrschenden etwas zu beweisen, was sie sich wünschen, was es aber nicht gibt. Fakten werden zugunsten einer heilen ideologischen Welt wegretuschiert oder Zahlen werden für einen guten Zweck brauchbar gemacht. Und objektiv sind jeder genauen Datensammlung Grenzen durch die Bürger und nationale Statistikämter gesetzt, die sich nicht in die Karten gucken lassen wollen.
Das betrifft natürlich auch die Datensammlungen zur Eurokrise. Es gab die Maastricht-Kriterien der Obergrenze von 60 % Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die zulässige Neuverschuldungsobergrenze von 3 % des BIP.
Vom 60 % – Kriterium redet kein Mensch mehr. Nur Finnland, die Slowakei, Slowenien, Estland und Luxemburg erfüllen das 60-%- Kriterium. Alle anderen Länder einschließlich Deutschland und Österreich müssten aus dem Euro-Verband im hohen Bogen herausgeworfen werden, wenn einmal getroffene Abmachungen gelten würden. Aber der Rechtsbruch ist ja das geltende Prinzip der EU und alle Sünder dürfen drinne bleiben.
Warum man 3 % des BIP Schulden machen darf erschließt sich nur demjenigen, der weiß, wie diese 3 % zustande gekommen sind. Die Väter von Maastricht gingen von 5 % Wirtschaftswachstum aus. 60 % davon sind 3 %. Wenn man 5 % Wirtschaftswachstum hat, dann wachsen bei einer Neuverschuldung von 3 % die Schulden nicht über 60 % des BIP hinaus. Wenn nun allerdings das Wirtschaftswachstum bei 0 % liegt, dann darf man mathematisch überhaupt keine neuen Schulden machen, wenn man die 60-% Grenze nicht überschreiten möchte. Die Wachstumsphantasien sind mit den Maastricht-Vätern durchgegangen, 5 % waren von Anfang viel zu hoch und völlig unrealistisch. Soweit die Theorie von Maastricht. Und nun ein Blick in die Praxis:
Ende 2011 betrug der durchschnittliche Schuldenstand aller Euro-Länder 87,2 % gemessen am BIP. 2012 wurde eine euro-weite Neuverschuldung von 3,7 % gemessen am BIP produziert. Das inflationsbereinigte „Wachstum“ betrug im Euroraum -0,6 %. Die Inflation wurde laut Statistik mit 2,5 % ausgewiesen. Normalerweise würde man nun folgenden Überschlag rechnen, um den aufgelaufenen Schuldenstand Ende 2012 zu berechnen:
Schuldenstand alt plus Neuverschuldung minus Wachstum minus Inflation = Schuldenstand neu
87,2 % Schuldenstand 2011 + 3,7 % Neuverschuldung -(- 0,6) % preisbereinigtes Wachstum – 2,5 % Inflation = 89 % Schuldenstand 2012. Ausgewiesen wird Ende 2012 jedoch ein Schuldenstand von 92,7 %. Etwas stimmt nicht.
Nehmen wir mal an, das Wirtschaftswachstum wäre nominal, also nicht inflationsbereinigt ausgewiesen worden. Wenn das so wäre, dann würde die Rechnung so aussehen: 87,2 % Schuldenstand 2011 + 3,7 % Neuverschuldung -(- 0,6) % nominales Wachstum = 91,5 % Schuldenstand 2012. Auch bei dieser Interpretation der Ergebnisse kommt nicht der Schuldenstand von 92,7 % Ende 2012 heraus.
Ein dritter Versuch: Es wird die Differenz zwischen dem neuen und dem alten Schuldenstand gebildet und davon die Neuverschuldung abgezogen. Das Ergebnis ist das nominale Wirtschaftswachstum. 92,7 % minus 87,2 % = 5,5 %. Davon abgezogen die Neuverschuldung 3,7 % ergibt ein nominales Wirtschaftswachstum von 1,8 % im Jahr 2012. Schön wärs! Würde aber auch nicht reichen, um den alten Schuldenstand Ende 2011 zu halten.
Statistik ist das Auflösen von Gleichungssystemen, wo es nur Unbekannte gibt. Also machen wir noch einen Versuch: Wir nehmen an, daß alter und neuer Verschuldungsstand richtig ausgewiesen sind und nehmen an, daß das nominale Wirtschaftswachstum mit -0,6 % stimmte. Dann hätte die europaweite Neuverschuldung 92,7 – 87,2 + 0,6 = 6,1 % betragen. Vielleicht, vielleicht auch nicht?
Wie man es auch rechnet, logisch und mathematisch verwickelt man sich in Widersprüche, weil es Spannungen im Zahlenwerk gibt. Und die gibt es auch für jedes einzelne Euroland, welches man sich herausgreift.
Für Deutschland wird 2012 ein Wachstum von 1,4 % dargestellt, die Verschuldung beträgt angeblich minus 0,2 %, die Inflation wurde mit 2,1 % angegeben, trotzdem steigt der Schuldenstand gemessen am BIP im betrachteten Zeitraum 2012 um beachtliche 1,5 %. Dieses Ergebnis grenzt an Voodoo-Zauberei.
Die Wirtschaftsdaten von 2012 sprechen eine klare Sprache. Von einer Entspannung in der Eurozone kann man erst ausgehen, wenn in sich schlüssige Zahlen zur Verschuldung vorliegen und ein Ende des Schuldenwachstums ausweisen. In 2012 kann man aus den Zahlenwerken keinen Honig saugen, der Schuldenpegel ist gestiegen.
Wenn man die Eurokrise mit einem Fußballspiel vergleicht, ergibt sich folgendes Bild: Es ist Halbzeit im Euro-Endspiel. In der Kabine gibt es widersprüchliche taktische Anweisungen, weil jeder der Trainer sein will: Hollande, Merkel, Dijsselbloem, Barroso…. Die Blessuren der Spieler werden derweilen auf gemeinsame Rechnung von Mannschaftsarzt Dr. Draghi behandelt. Die Spieler grausen sich vor der zweiten Halbzeit.
Wachstumszwang
1. Die aggregierten Sparguthaben einer Ökonomie entsprechen genau den aggregierten Schulden. Die Verzinsung von Sparkapital und der dadurch bedingte Anstieg der Sparguthaben erzwingt eine symmetrisch zunehmende Verschuldung und entsprechende Zinszahlungen der Unternehmen.
2. Wächst das Bruttoinlandsprodukt weniger stark als die Zinsanteile, so verringern sich die Einkommen in der Ökonomie. In diesem Fall fließt ein größerer Teil des Bruttosozialprodukts über Zinszahlungen an die Geldkapitaleigner, während sich der Lohnanteil entsprechend verringert. Damit erzwingen Bestrebungen, den Zinsanteil im Bruttoinlandsprodukt zu begrenzen, ein ständiges Wirtschaftswachstum.
3. Die Haushalte mit geringem Lohneinkommen können sich den Konsum bei wachsendem Zinsanteil im Bruttoinlandsprodukt zunehmend weniger leisten und verschulden sich schließlich. Dies kann als Verarmung oder als Beschäftigungslosigkeit charakterisiert werden. Die Verarmung eines zunehmend größeren Prozentsatzes der Haushaltsgruppen destabilisiert schließlich die Ökonomie.
4. Gruppen mit vergleichsweise geringem Vermögen verfügen über geringfügige oder keine Zinseinnahmen, zahlen aber über ihren Konsum soviel Zinsen, dass sie Netto-Zinszahler sind. Bei Gruppen vergleichsweise vermögender Haushalte überwiegen dagegen die Zinseinnahmen über die Zinszahlungen. Diese Gruppe besteht aus Netto-Zinsempfängern. Damit fließt in der Ökonomie ein stetiger Zinsstrom von den Netto-Zinszahlern zu den Netto-Zinsempfängern. Es ist ein auf den ersten Blick nicht sichtbarer Umverteilungsmechanismus, dessen negative Auswirkungen bei hohen Wachstumsraten der Wirtschaft kaum erkennbar sind. Zerstörerisch wird dieser Mechanismus aber dann, wenn das Wachstum nachlässt.
5. Die zeitliche Entwicklung von Einkommen, Vermögen und Konsum bleibt für jede Haushaltsgruppe stabil, wenn der Zinssatz der Ökonomie auf Null gesetzt wird. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn das Wirtschaftswachstum nachlässt oder stagniert. Die Verzinsung von Kapital hat nur dann langfristig keine destabilisierende ökonomische Wirkung, wenn die Wirtschaft stetig und zeitlich unbeschränkt, d. h. exponentiell, wächst. Aufgrund der Endlichkeit der Ressourcen der Erde ist ständiges Wachstum jedoch weder wünschenswert noch möglich. Wenn eine Wirtschaftsordnung langfristig stabil bleiben soll, dann muss sie sich vom Konzept der Vermögensverzinsung verabschieden.
Der blinde Fleck der Volkswirtschaftslehre
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2011/11/der-blinde-fleck-der.html