Die bockige Kulturrevolution

Die WELT berichtet heute über das Ausgehverhalten der Jugend. Man meidet zunehmend die öffentlichen Räume und feiert mit Freunden im eigenen doppeldeutigen Schneckenhaus.

Liebe Leserin, sie mögen sich verwundern, daß ich schon wieder den kulturellen Raum ausmesse, aber es hat seinen Sinn, weil die Kultur der Gesellschaft ein Jahrzehnt voraus ist. Sie ist neben der Kunstgeschichte das beste Prognosewerkzeug. Wir befinden uns nämlich am Übergang von der Staatskunst zur bürgerlichen Welt. Und vieles wiederholt sich, wenn man tiefer blickt. Der Rückzug ins Überschaubare und Individuelle war bereits in der Sattelzeit von 1750 bis 1850 die bürgerliche Norm. Neben dem sparsamen Rückzug ins Private war das Biedermeier der ersten Hälfte des 19. Jh. auch für seine Innerlichkeit berühmt-berüchtigt, und so ist es auch mit dem Biedermeier 2.0, das großtechnisch mit Kórona begann,

Auf einer Waldwiese im Sommer 2020. Die Leut hatten sogar Tischdeckchchen mitgebracht

Zutreffend ist sicherlich die Feststellung, daß etliche Autoren des derzeitigen Biedermeiers 2.0 von einer traditionellen bis reaktionären Grundhaltung bestimmt sind und sich in einer zerfaserten Welt nach einem übersichtlichen Leben sehnen. Die Erzählungen sind dem in den Mainstreammedien waltenden Zeitgeist zunehmend abgewandt und somit ein Reflex auf die gesellschaftliche Gegenwart, auf eine Entfremdung, der in Besinnung auf allgemeinmenschliche Basics entgangen werden soll.

Im folgenden Video – ganz frisch auf dem Markt – zeigt uns Nina Chuba statt einem Lastenfahrrad ein schickes Yamaha-Motorrad R9 für schlappe 13.999 €. Der Waldbrand hat selbstredend nichts mit dem Klima zu tun, sondern findet nur in ihrem menschgemachten Körper statt. Ob im Herz oder im Kopf? Auf jeden Fall nicht im Wald. Dieser Rückzug der Handlung aus dem Umfeld in die eigene Seele ist typisch für Sturm und Drang, Biedermeier und neueste Neuzeit, man findet das Phänomen der ersehnten Problemimplosion jetzt auch in Amerika.

Diese Individualisierung ist einerseits eine Flucht aus der politisierten Staatskunst, oft aber so heftig, daß man wiederum an die Grenzen des Narzismus stößt. Schon in Goethes „Werther“ wird dieses Abgleiten in überbordende Bedeutsamkeit des eigenen Ichs sehr deutlich. Avantgardisten des Bürgertums hielten sich schon im ausgehenden 18. Jh. für so wichtig, daß sie der Öffentlichkeit nichts, aber auch garnichts vorenthalten durften. Die Vielschreiberei von Goethe und dessen Gegenwärtigkeit auf allen möglichen Spielfeldern hat auch mit dieser fast asozialen Selbstbezogenheit zu tun.

Und so kehrt uns auch Nina nach alter Väter Art und Sitte ihre Seele aus. System? Zufall?

Schon wieder ne fette Halskette.

Grüße an den Inlandsgeheimdienst. „Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradisisch macht.“ (Goethe, Leiden des Werther)