Merkels Wahlkampftauftritt in Ankara
In der Türkei wird allenthalben über den sogenannten „tiefen Staat“ geklagt. Als Recep Tayyip Erdoğan 2002 mit seiner Fortschrittspartei AKP den Wahlsieg errungen hatte, kam es zum Konflikt mit dem Militär. Das türkische Militär war traditionell ein Staat im Staate, sah sich als Hüter der laizistischen Ordnung und als Wahrer der Prinzipien von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, die eine strikte Trennung von Religion und Staat vorsahen. Auch die Justiz war kemalistisch geprägt. Erdoğan verbat sich nach seinem Machtantritt jedwede Einmischung des Militärs in politische Angelegenheiten und setzte durch, dass der Generalstab der Befehlsgewalt des Ministerpräsidenten untersteht. Die Methoden waren rabiat. Militärs wurden reihenweise mit Putschanklagen überzogen und bevölkern die Gefängnisse der Türkei. Der tiefe Staat der Kemalisten ist damit Geschichte.
Alles wäre gut gewesen, wenn Erdoğan nicht seinen eigenen Einfluß auf Justiz, Medien und Militär ständig verstärkt hätte. Im letzten Jahrzehnt ist wieder ein „tiefer Staat“ entstanden, dieses Mal unter frommen Vorzeichen der regierenden AKP. Die türkische Opposition beklagt das. Aber was würde sie machen, wenn sie an die Macht käme? Säubern und die Macht zementieren.
Im Juni wurde in der Türkei gewählt. Der Präsident strebte eine Zweidrittelmehrheit an, um per Verfassungsänderung aus dem Land eine autoritäre Präsidialdiktatur zu machen. Dabei fiel er auf den Bauch. Das Wahlergebnis war überraschend deutlich. Auf den ersten Blick ein klares Votum gegen seine Alleinherrschaft:
Partei | Stimmen | Sitze |
Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei AKP | 40,9% | 258 |
Republikanische Volkspartei CHP | 25,0% | 132 |
Partei der nationalistischen Bewegung MHP | 16,3% | 80 |
Volksdemokratische Partei HDP | 13,1% | 80 |
Den mit levantinischen Finessen und orientalischer Macht- und Prachtentfaltung vertrauten türkischen Beobachtern war von vornherein klar, daß Staatspräsident Erdogan nach dem Verlust der Parlamentsmehrheit konsequent auf Neuwahlen hinarbeiten würde.
Sie haben Recht bekommen. Ein Selbstmordanschlag an der Südgrenze ergab für Erdogan die Handhabe, um gegen die Kurden loszuschlagen und ein allgemeines Chaos zu erzeugen, in dem die Türken am 1. November einen starken Retter wählen sollen.
Die bisherige Regierungspartei AKP ist eine konservative Kraft, die den Islam zur Richtschnur der Politik machen möchte. Anfangs faßte sie den EU-Beitritt ins Auge, orientiert sich in den letzten Jahren jedoch mehr nach Asien. Die Islamisierung hatte in der Türkei natürlich auch einen positiven Aspekt, nämlich die Liberalisierung der türkischen Wirtschaft, die damit verbundene erhebliche Steigerung des Wohlstands und die Zurückdrängung des verkrusteten faschistoiden Staatssektors. Die AKP wurde in letzter Zeit jedoch zunehmend eine autoritäre Einmann-Veranstaltung des Präsidenten. Ein Symbol dafür ist der jüngst fertiggestellte überdimensionierte Präsidentenpalast.
Die Republikanische Volkspartei CHP hängt den Maximen des Staatsgründers Kemal Atatürk an. Der Kemalismus wurde aus Republikanismus, Trennung von Staat und Religion, Populismus, aus permanentem Reformismus, aus dem Kampf gegen ein multiethnisches Staatskonzept und aus Etatismus mit reichlich Planwirtschaft gebacken. Die Zutaten entsprachen den zeitgenössischen Vorstellungen der europäischen Jugendbewegung und wurden in Italien und vielen anderen Staaten fast zeitgleich umgesetzt. In Europa nannte sich dieses Konzept Faschismus.
Die Nationalistische Bewegung MHP (auch als Idealisten oder Graue Wölfe bekannt) möchte das Türkentum lupenrein erhalten und eine Großtürkei erkämpfen. Sie ist deswegen gegen den EU-Beitritt der Türkei. Devlet Bahçeli, der Vorsitzender der MHP, hantierte in vergangenen Wahlkämpfen mit einem Strick und versprach seinen Anhängern, die Todesstrafe wieder einzuführen, damit der Kurdenführer Abdullah Öcalan endlich gehängt werden könne.
Die volksdemokratische Partei der Völker will genau das Gegenteil. Sie ist gegen die Eintürkung der Kurden. Sie kämpft für kurdische Schulen, für kurdische Buchstaben, für kurdische Namen und alles was kurdisch ist, ist darüber hinaus ein Sammelbecken für Extremisten aller Art.
Von diesen vier Parteien kann keine mit keiner. Es ist bei der Neuwahl am Sonntag entweder eine knappe AKP-Mehrheit möglich, als auch die Fortsetzung der parlamentarischen Hängepartie ohne Regierungsbildung. Im letzteren Fall scheidet die Türkei als Problemlöser der Bundeskanzlerin im Asylkrimi aus. Merkel braucht in Ankara jedoch unbedingt einen Ansprechpartner, der wirklich etwas zu sagen hat. Im unsäglichen Interwiev mit Anne Will im zwangsfinanzierten Staatsfernsehen hatte Merkel dem deutschen Publikum den Bittgang nach der Türkei als Patentlösung in der Asylkrise verkauft.
In außenpolitisch interessierten Kreisen wurde der Zeitpunkt der Merkel-Reise kurz vor der Wahl als unglücklich bezeichnet. Merkel wird den Zeitpunkt jedoch absichtlich gewählt haben. Im Bomben- und Kriegs-Durcheinander des Wahlkampfs spielte Angela Merkel nämlich eine vielleicht wahlentscheidende Rolle. Zwei Wochen vor der Wahl kreuzte sie in Ankara auf, um Erdoğan wirksame Hilfe zu leisten, und nur ihm. Auf Kontakte mit der Opposition verzichtete sie. Die Meinungsumfragen zum Zeitpunkt ihres Besuchs sahen für den Türkenpräsidenten nicht gut aus. Seine Partei dümpelte bei 40 % herum, das Ergebnis der Juni-Wahl hätte sich nach vier verschiedenen Wahlprognosen mit geringsten Abweichungen wiederholt.
Merkel kam infolge der selbst verschuldeten deutschen Asylkatastrophe als auf Knien rutschende Bittstellerin nach Ankara und mußte demütig alle Forderungen des im Wahlkampf befindlichen Präsidenten erfüllen, bzw. die Erfüllung ankündigen. Dazu gehörten der visafreie Verkehr zwischen Europa und der Türkei, der EU-Beitritt der Türkei und 3 Milliarden € für die Betreibung von Lagern für Syrienflüchtlinge. Erdogan konnte vor Kraft nicht mehr laufen und kann den türkischen Wählern einen diplomatischen Erfolg ersten Ranges präsentieren.
Am Sonntagabend werden wir sehen, ob des Komplott zwischen dem Bundeskanzleramt und dem türkischen Präsidentenpalast Früchte getragen hat. Ob der Ankara-Besuch der Kanzlerin den Stimmungsumschwung zugunsten von Erdogan und seiner Regierungspartei gebracht hat, oder auch nicht. Sollte die AKP verlieren, steht Merkel was die Eindämmung des Asylantenstroms auf der Balkanroute betrifft, mit leeren Händen vor dem deutschen Volk.