Wie man einen Staat destabilisiert – Teil 3: Ein inszenierter Hilferuf und die litauische Okkupation des deutschen Memellandes 1923

Gastbeitrag von Helmut Roewer

1923 besetzte Litauen in einem geheimdienstlich organisierten Gewaltstreich das Memelland. Heutige Politikinterpreten würden vielleicht von einer völkerrechtswidrigen Okkupation reden. Doch der Reihe nach:

Eins

Von der Maas bis an die Memel

Der eine oder andere erinnert sich noch an den Text des Deutschlandliedes, in dessen erster Strophe die Zeile „von der Maas bis an die Memel“ vorkommt. Die Memel war in der Tat bis 1918/19 ganz oben rechts auf der Landkarte der nordöstlichste deutsche Fluss, flussauf kam dann recht bald Russland, wo die Memel in ihrem Oberlauf auf Russisch Njemen heißt.

Memel, die gleichnamige Kreisstadt, war – späteren Legenden zum Trotz – durch und durch von Deutschen bewohnt. Zwar war es im damaligen Preußen im Gegensatz zum benachbarten Russischen Reich nicht üblich, beim Zählen der Einwohner diese in Nationalitäten zu trennen. Doch beim religiösen Bekenntnis war man genau. So waren im Jahre 1900 in Memel 20.166 Einwohner erfasst worden, von denen 899 Israeliten und 862 Katholiken waren. Nur unter den letztgenannten können wir Litauer und Polen vermuten, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bestand also aus Deutschen. Die Daten entnehme ich einer seriösen Quelle, dem Großen Brockhaus aus dem Jahre 1907. (siehe Beitragsbild)

Mit dem Diktat der Siegermächte von Versailles 1919 änderte sich die Lage von Memel als nördlichster deutscher Stadt grundlegend. Das umliegende Memelland wurde von Ostpreußen abgeschnitten und zum Freistaat unter alliierter Kontrolle erklärt. Der Grund war: Die Sieger wollten dem frisch gekürten und von ihnen völkerrechtlich anerkannten Staat Litauen etwas Gutes tun, denn Memel hatte einen Hafen, aus dem über das Kurische Haff die Ostsee bequem zu erreichen war.

Dasselbe grimmige Spiel veranstalteten die westlichen Siegermächte ein Stück weiter südwestlich, wo man die deutsche Großstadt Danzig zum Freistaat erklärte, um dem frisch gebackenen Staat Polen einen Ostseehafen zukommen zulassen. Beide Raubzüge, die vor allem auf französisches Konto gingen, sollten binnen zweier Jahrzehnte für viel Ärger sorgen. Doch konzentrieren wir uns hier allein auf Memel und das Memelland.

Die Durchsetzung der Amputationspolitik geschah in drei Phasen: (1) Der Erzwingung der militärischen Kapitulation Deutschlands am 9. November 1918 einschließlich der Abgabe aller schweren Waffen, (2) der Fortsetzung der see-gestützten Hungerblockade zur Erzwingung der deutschen Unterschrift unter den Friedensvertrag von Versailles, (3) der fortgesetzten Militärpräsenz alliierter Truppen in den von Deutschland abzutrennenden bzw. bereits abgetrennten Gebieten. So wurden im Hafen von Memel britische und französische Seestreitkräfte stationiert, von denen gleich die Rede sein wird.

Zwei

Der Okkupationspusch

Im Herbst 1922 wurde die illegale Okkupation des Memellandes in Litauen konkret vorbereitet. Die Situation wurde vor Ort erkundet, Männer und Waffen wurden zusammengezogen und für die Verkleidung der Stoßtrupps gesorgt. Ein Koordinator und ein Führer wurden ernannt und für die Durchführung des Handstreichs getarnt.

Diese Tarnung war geboten, weil die litauische Regierung sich nicht sicher war, wie eine offene Aggression bei den im Lande befindlichen westalliierten Siegermächte ankommen würde. Ich bin bei den jetzt folgenden Absprachen nicht dabei gewesen, nehme aber an, dass vor Ort auch die französischen und britischen Diplomaten und die Militärkommandanten davon abrieten, einfach mit Truppen im Memelland einzumarschieren, was die alliierte Schutzmacht zu einem Eingreifen hätte veranlassen müssen.

Bei dieser Lage entschloss man sich in Kaunas (Kowno) einen militärischen Theater-Coup zu inszenieren, von dem selbstredend niemand in der litauischen Regierung je etwas gehört hatte. Wie geplant, so getan: Eine Gruppe von litauischen Militär-Geheimdienstlern, sickerte in Memel im Januar 1923 ein, inszenierte einen scheinbaren Überfall deutscher Nationalisten auf die friedlich lebenden Litauer, lieferte sich Schießereien mit der preußisch-deutschen Polizei, die man liquidierte oder wenigstens zum Rückzug zwang, und rief schlussendlich als scheinunterdrückte Bevölkerung den litauischen Staat zu Hilfe. Der Handstreich klappte wunschgemäß, weil die alliierten Mandatstruppen die Hände in die Taschen steckten und dem Treiben dort zuschauten. Im Februar 1923 wurde die Operation mit dem offiziellen Einrücken der litauischen Armee in der Stadt Memel zu Abschluss gebracht.

Drei

Die Täter

Neugierig fragen wir: Wer war das? Litauer, gewiss, aber wer genau? Bei der Suche nach den Verantwortlichen kam mir bei der aus einem ganz anderem Grunde vorgenommenen Durchsicht der Sonderfahndungsliste Sowjetunion des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Frühjahr 1941 ein Zufall zu Hilfe. In den Fahndungsvermerken der Gestapo, Gruppe IV – das war die Spionageabwehr – stieß ich auf zwei Männer, die sich nach einigen umständlichen Umwegen als diejenigen erweisen sollten, nach denen ich suchte. Es waren zwei junge, in der litauischen Provinz des Russischen Reiches geborene ehemals zaristisch-russische Offiziere, jetzt im Dienst der jungen litauischen Armee. Hier sind sie:

Beginnen wir mit demjenigen, der, wie ich annehme, die unumgänglich notwendigen Absprachen mit den Alliierten zustande brachte. Es handelt sich um Leopoldas Dýmša, geboren 1893 im Gouvernement Kowno (später: Kaunas). Er machte 1915 in Kasan das Abitur, trat als Freiwilliger in die russische Armee ein, die ihn 1916 an der Kasaner Kriegsschule zum Offizier ausbildete. Sein anschließender Fronteinsatz kann nicht lange gedauert haben, denn schon 1917 wurde er als Kriegsgefangen bezeichnet, von wem gefangen genommen, bleibt unklar. Jedenfalls meldete er sich 1919 in seiner soeben unabhängig gewordenen Heimat Litauen zurück. Dort trat er sogleich in die Armee ein und wurde ein Jahr später zum Kapitän (Hauptmann) ernannt. Kapitän Dýmša wurde sogleich mit einer wichtigen Aufgabe des jungen Staates betraut: Er wird der Verbindungsoffizier zu den westalliierten Garantiemächten. Er wird sich durch Sprachtalente ausgezeichnet haben. Französisch in den besseren Kreisen des Zarenreichs war üblich, englisch dagegen keineswegs. Ich nehme an, dass er auch das konnte. Er startete seinen Dienst als Vertreter der litauischen Regierung zunächst bei der interalliierten Militärmission in Kaunas, wechselte dann aber über nach Klaipeda, das damals noch unzweifelhaft Memel hieß.

Moment mal. Die Anwesenheit von deutschen oder litauischen Soldaten war nach dem Statut des Völkerbundes verboten. Seine Tätigkeit dort kann also nur unter einer Tarnung erfolgt sein. Und richtig: Seine Lebenslaufangaben vermelden, dass er im Jahre 1922 aus Krankheitsgründen aus der Armee ausgeschieden sei. Krank? Kann sein, ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Erst nach der Putsch-Periode tauchte er wieder auf, als ein Student in London, wo er Mitte oder Ende der 1920er Jahre einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften machte. Das finanzierte wer? Ich weiß es nicht, denke mir aber mein Teil. Diese Gedanken scheinen nicht abwegig, denn 1929 stieg er in den litauischen Staatsdienst auch offiziell wieder ein. Er wurde Diplomat.

Nun der zweite Mann. Bei ihm macht die Fixierung des Namens nicht nur wg. seiner Heimatsprache Schwierigkeiten. Es war Jan Polowinskij (Ян Половинский, litauisch: Jonas Polovinskas). Er kam 1889 in Kowno zur Welt, wo er 1907 Abitur machte. 1910 diente er in der russischen Armee, die ihn 1914 bei Kriegsbeginn erneut einzog. Im Schlachtgetümmel des Ersten Weltkriegs finden wir ihn als Nachrichtenoffizier in verschiedenen Korps und Armeen an allen Fronten.

Nach der Oktoberrevolution 1917 entschied er sich, bei den zarentreuen Verbänden zu verbleiben. Zu der Zeit befand er sich in Fernost, wo er zum Chef der Spionageabwehr der Weißen aufstieg. Das war letztendlich keine gute Wahl, denn die Armeen der Weißen wurden in den kommenden zwei Jahren geschlagen und deren Offiziere, wo man ihrer habhaft werden konnte, kurzerhand erschossen. Polowinskij entkam diesem Schicksal durch Flucht nach China. Diese Flucht muss abenteuerlich gewesen sein. Immerhin schaffte er es, sich 1921 zu Hause zurückzumelden, wo man ihn stehenden Fußes zum Chef der militärischen Spionageabwehr ernannte. Dann allerdings kam der Sonderauftrag, wie man das beim Dienst so nennt. Zu diesem Zweck erhielt Polowinskij einen neuen, litauischer klingenden Namen, den er später von Fall zu Fall beibehielt: Jonas Budrys. Es ging darum, den Theatercoup von angeblich auf dem Gebiet von Memel lebenden Litauern zu inszenieren, die in ihrer Empörung alle wichtigen Schaltstellen in
Stadt und Land besetzten. Hierzu galt es in einem ersten Schritt, die immer noch deutsche Polizei zu liquidieren. Bei dem Feuerüberfall sahen die Interventionsmächte zu, ohne einen Finger zu krümmen. Ihr Einverständnis war rechtzeitig, wenn auch heimlich, eingeholt worden.

Bitte recht freundlich zum Gruppenbild der Revoluzzer vom Januar 1923 (mit den Klarnamen in Klammern). Vorderer Reihe von links: Mykolas Bajoras (Kalmantavičius/ Kalmantas), F. Butkeraitis (A. Goncerauskas), Jonas Budrys (Polovinskas), Oksas (Juozas Tomkus); obere Reihe: Juozapaitis (Juozas
Šarauskas), Endrikeitis (Andrius Pridotkas), Martynas Lacytis.

Der getürkte Hilferuf erklang, und noch im Februar 1923 besetze litauisches Militär ganz offiziell das Memelland. Außer den Deutschen juckte das niemanden. Der erfolgreiche Eroberer Polowinskij-Budrys wurde zum Regenten des Memellandes ernannt. Im Jahre 1925 wurde die Bevölkerung zu Wahlen aufgerufen, um den Handstreich zu sanktionieren. Das misslang gründlich. Die Leute wählten mit einer satten Mehrheit die dezidiert deutsche Parteien. Daraufhin wurde zur Strafe über das Memelland das Kriegsrecht verhängt. Zensur, Ausgangssperre, Annullierung von Wahlergebnissen und solche Sachen. Der Leser kennt dergleichen aus Corona-Zeiten.

Vier

Ausklang

Die Freude an der Beute währte 16 Jahre. Im März 1939 schrieb der deutsche Außenminister an die litauische Regierung eine Note, man möge sich umgehend aus dem Memelland zurückziehen und die vollziehende Gewalt an die deutsche Regierung übergeben. Die Litauer beeilten sich innerhalb von Tagen, diesen Anliegen Folge zu leisten. Heutigen Geschichtsdeutern gilt diese Aktion als Nazi-Verbrechen. Nun ja.

Die beiden Helden dieser Geschichte, die in den 1930er Jahren alle beide ihrem Staat als Konsuln, und das auch noch in Deutschland, gedient hatten, haben die Zeit der sowjetischen Besetzung ihres Landes im Sommer 1940 und den sogleich einsetzenden NKWD-Terror überstanden. Das bewahrte sie nicht davor, auf die Fahndungslisten der Gestapo zu geraten. Einer von beiden, Dýmša, wurde nach der deutschen Besetzung des Baltikums im Sommer 1941 aufgegriffen und interniert.

Er diente dann – kaum überraschend, wenn man die Gestapo-Notierung über ihn genau liest („als V-Mann anzuwerben“) – als vom Deutschen Reich eingesetzter Treuhänder litauischen Vermögens, ab 1944 sogar als litauischer Gesandter in Deutschland, und, als es das nicht mehr gab, in derselben Funktion den britischen Besatzungsbehörden und für die amerikanische katholische Bischofskonferenz. So kam er schließlich in die USA, wo er 1959 gestorben ist.

Dem anderen, Jonas Budrys, gelang es auf anderem Wege, der sowjetischen und der deutschen Verfolgung zu entkommen. 1928 war er zum Konsul in Königsberg ernannt worden, 1933 zum Generalkonsul für ganz Ostpreußen. 1936 musste er beschleunigt das Land verlassen, nachdem den deutschen Behörden der wirkliche Namen und Vorleben dieses Diplomaten klar geworden war. Für Budrys bedeutete das Glück im Unglück, denn es folgte eine Ernennung zum Generalkonsul in New York. Dort avancierte er während des Krieges zum Repräsentanten einer litauischen Exilregierung in den USA. Er blieb auch nach dem Krieg, verständlich genug, in den Staaten, wo er in New Jersey eine Hühnerfarm betrieb und schließlich 1964 starb.

Ironischer Schlusspunkt der Geschichte: Im Sommer 1945 ordneten die Sowjets nach dem Sieg über Deutschland ihr Imperium neu. Den nordöstlichen Teil Ostpreußens einschließlich seiner alten Hauptstadt Königsberg schlugen sie ihrem eigenen Bestand zu, allerdings ohne das Memelland, das erneut an Litauen fiel, welches selbst Teilstaat der Sowjetunion wurde. Nachdem das sowjetische Imperium in den Jahren nach 1989 auseinanderbrach, blieb das Memelland Teil des erneut selbstständig gewordenen Litauen. So hatte der Coup von 1923 letztlich reiche Früchte getragen, und Klaipeda liegt dort, wo früher einmal Memel war.

©Helmut Roewer, Oktober 2023


Hinweis auf ausgewählte Quellen: Den Einstieg bot die Sonderfahndungsliste SU des
Reichssicherheitshauptamtes aus dem Frühjahr 1941, die deutschen Akten und die Weißbücher zu Auswärtigen Politik sowie im Militärarchiv in Freiburg die Sammlung Die Nachhut der Arbeitsgemeinschaft
ehemaliger Abwehrangehöriger. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Veröffentlichungen auf Litauisch, die den Verfasser mit den Rätseln dieser Sprache bekannt gemacht haben. Zu beiden Hauptfiguren dieses Aufsatzes existieren zudem Beiträge auf den diversen Ahnenforschungsplattformen, denen ich, da sie nach meiner Beobachtung von noch lebenden Angehörigen der Beschriebenen verfasst wurden, mit der gewohnten Skepsis begegnet bin. Eine sehenswerte Postkartensammlung mit historischen Stadtansichten findet sich bei: deutsche-schutzgebiete.de/wordpress/projekte/kaiserreich/koenigreich-preussen/provinzostpreussen/memel/.