Ohne Moos nix los –Eugenia Sumenson und des Kaisers Millionen

Gastbeitrag von Helmut Roewer

Stellen Sie sich vor, es hätte diese Frau nicht gegeben, die Oktoberrevolution 1917 hätte nicht stattgefunden. Stimmt nicht? Na ja, aber lesen Sie selbst.

Eins
Menschenjagd

Dieses ist die Geschichte einer Menschenjagd. Doch keine Angst, alle Beteiligten sind längst tot, und der Jäger bin ich, der Autor. Die Jagd gilt Eugenia Sumenson. Sie war in den Jahren 1916/17 die finanzielle Drehscheibe für die an die Macht strebenden Bolschewiki in Russland. Den Grund für meinen Jagdeifer vermag ich ohne Mühe zu nennen: Diese Frau war in einem komplexen System der Heimlichkeit tätig, um das Gold des Kaisers, wie man damals sagte, in die Münze der Revolution umzurubeln. Oder, weniger poetisch: Sie betrieb die einschlägige Geldwaschanlage, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde.

Bei meinen ersten Recherchen zu dem Komplex der deutschen Finanzierung der Oktoberrevolution 1917 stieß ich vor rund 20 Jahren auf die üblichen Schwierigkeiten. Eine nicht gerade üppige Faktenlage wurde seit den 1950er Jahren von einem Forscher zum anderen weitergereicht. Neues und Tiefbohrungen blieben aus. Man kann das verstehen, denn ausgesprochen erschwerend war der Umstand, dass die Täter beider beteiligten Seiten kein Interesse daran hatten, das eigene fragwürdige Tun bei diesen Weltereignissen klarzustellen: Die deutschen Verursacher mauerten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, da niemand in der Installierung des Sowjetregimes eine Ruhmestat erkennen mochte. Über das Schweigen der sowjetischen Seite muss man nicht lange räsonieren. Wer gibt schon gerne zu, dass er auf fremde Kosten unterwegs war, und ohne diesen Sponsor nichts gelaufen wäre.

Zwei
Die deutschen Hintermänner

Die Frage Wer-war-das? stellt sich jedem, der nicht daran glaubt, dass Geschichte sich nach den Marx’schen Determinanten abspielt, sondern für unumstößlich hält, dass es ganz normale Menschen sind, die das verursacht haben, was wir in der Rückschau einen historischen Augenblick nennen.

Ich konzentrierte mich seinerzeit auf die deutschen Verursacher des russischen Desasters, denn als ein solches sehe ich noch heute die einschlägigen revolutionären Ereignisse in Russland an. Es waren zu meiner Verblüffung nicht irgend welche Geheimdienst-Finsterlinge, sondern ein knappes Dutzend hochrangiger kaiserlich deutscher Beamter aus dem Auswärtigen Amt und drei Gesandtschaften, nämlich denen aus Bern, Stockholm und Kopenhagen. Was sie erdachten, war der Systemsturz in Russland, um diesen Staat aus der Phalanx der Feindstaaten des Ersten Weltkriegs herauszubrechen – und zwar durch Anzetteln einer Revolution zugunsten einer zum Frieden bereiten sozialistischen Regierung.

Diese für die stockkonservativen Würdenträger einer Monarchie, wie den Diplomaten Ulrich Graf Brockdorff Rantzau, nicht gerade auf der Hand liegenden Gedanken waren der Erkenntnis geschuldet, dass bereits im September 1914, nach nur fünf Wochen der Kriegführung, der für wunderbar gehaltene deutsche Schlieffen-Plan für eine Zweifronten-Kriegführung gescheitert war: Die Franzosen waren nicht in einem Blitzfeldzug niedergeworfen worden, und die russische Armee war überraschend rasch über die deutsche Ostgrenze vorgerückt. Der Krieg war demnach mit militärischen Mitteln nicht mehr zu gewinnen.

Genau diese Erkenntnis zwang zu Überlegungen, die Feinde auf andere Weise unschädlich zu machen. Im Falle Russlands sollte das durch Revolutionierung im Innern und durch Aufwiegelung von dessen Randstaaten gegen die Zentralmacht geschehen. Ab Dezember 1914 konzentrierten sich die einschlägigen Bemühungen auf den Bolschewiki-Führer Wladimir Uljanow (Lenin), der in der Schweiz im Exil saß. Er war der einzige russische Revolutionär von Gewicht, der den sofortigen Kriegsausstieg propagierte.

Alsbald war den Beteiligten klar, dass es auf Heimlichkeit und finanzielle Unterstützung ankam. Diese Erkenntnis bestimmte das praktische Tun. Eine Handvoll von dubiosen Leuten wurde als Handlanger unter Vertrag genommen.

Drei
Die russischen Hinterleute

Es ist eine eher theoretische Erwägung, welche der in einem mehrgliedrigen Revolutionierungs-Geschehen Beteiligten nun deutsche Agenten waren, und welche nicht. Hierüber ist viel gestritten worden. Für die russische Führung im Sommer des Jahres 1917 war es noch sonnenklar, dass Lenin & Co, die am deutschen Geldtropf hingen, feindliche, also deutsche Agenten seien.

Die Prokuratur (= Staatsanwaltschaft) in Petrograd eröffnete im Zusammenwirken mit der militärischen Spionageabwehr im Juli 1917 ein Strafverfahren wegen Hochverrats (Zusammenarbeit mit dem Feinde) gegen diejenigen Bolschewiki, die nach ihrer Ansicht am deutschen finanziellen Gängelband liefen, allen voran Wladimir Uljanow, genannt Lenin, der sich dank deutscher Fahrkarte seit April 1917 wieder in der russischen Hauptstadt aufhielt, und Eugenia Sumenson, welche die Schatulle mit dem deutschen Geld unter ihrer Kontrolle hatte.

Lenin gelang es unterzutauchen, Sumenson kam in Untersuchungshaft. Aus den Haftunterlagen sind wir insofern über das Geschehen unterrichtet, als es die Staatsanwaltschaft aus propagandistischen Gründen für richtig hielt, die Ermittlungsergebnisse noch vor Anklageerhebung zur Presse durchzustechen. Auf der Suche nach den einschlägigen Tageszeitungen wird man mit etwas Glück noch heute fündig, denn – ich sagte es bereits – die Bolschewiki, kaum an der Macht, hatten nichts dringlicheres zu tun, als möglichst alle Spuren des deutschen Geldes zu verwischen. Das gilt selbstredend und in erster Linie für die Akten. Die eine oder andere Zeitung hat die Geschichtsbereinigung überdauert. So die Zeitung Lebendiges Wort
(Живое слово) vom 5. (18.) Juni 1917. Dort lautete die knallige Überschrift eines Artikels, der vermeintlich von einem ehemaligen zaristischen Häftling, in Wirklichkeit jedoch vom russischen Justizministerium geschrieben worden 9ar: „Lenin, Ganezkij und Co sind Spione!“

Wir behalten diesen Artikel und einen weiteren vom 9. (22.) Juli 1917 „Die Anklage des Verrats gegen Lenin, Sinowjew und andere“ im Auge, denn sie werden uns dazu dienen, wichtige Details aus dem Leben der Heldin der vor dem Leser liegenden Geschichte zu erfahren, von Eugenia Sumenson.

Vier
Die Geldwasch-Anlage

Das Problem der deutschen Reichsleitung und der von ihr gesponserten bolschewistischen Revolutionäre war der Geld-Transfer. Es mussten Goldmark nicht nur nach Russland geschafft, sondern zugleich in Rubel gewechselt werden. Nach Anlaufschwierigkeiten wurden zwei Tarnfirmen installiert, mit deren Hilfe das Allfällige organisiert wurde.

Auf deutscher Seite handelte es sich um die in Kopenhagen, später in Stockholm angesiedelte Handels- og Exportkompagniet. Sie stand unter der Leitung des ehemaligen russischdeutschen Sozialisten und Abenteurers Alexander Helphand, Deckname: Parvus. Auf der russischen Seite wurde in Petrograd (= St. Petersburg/Leningrad) die ursprünglich in Warschau ansässige Handelsgesellschaft Fabian Klingsland S/A tätig. Diese zwei Firmen führten dann tatsächlich den zwischen Deutschland und Russland beiderseits strikt verbotenen Handel mit raren Waren durch: Aus Deutschland kamen bevorzugt Medikamente, aus Russland Gummi.

Beide Firmen nutzten zur Geschäftsabwicklung Konten bei der Nya-Bank in Stockholm. Die Firma Fabian Klingsland unterhielt in Petrograd auch ein Apothekenlager. MedizinProdukte waren in Russland tatsächlich rar, und wohlhabende Russen waren gewillt, nahezu beliebige Preise zu zahlen. Die Gewinnspanne bei Klingsland war entsprechend hoch, sodass beträchtliche Überschüsse erwirtschaftet wurden und für die Zwecke der Bolschewiki zur Verfügung standen. Diese Gewinne hatten den Charme, dass man ihnen nicht ansah, dass ihr Ursprung das deutsche Sponsoring war.

Wie sich später herausstellen sollte, war diese Art der Tarnung vortrefflich gelungen, denn sie war geeignet, die Herkunft der Gelder unaufklärbar zu verschleiern. Ein hieb- und stichfester Nachweis, dass es sich hier um zweckgebundene Revolutionierungs-Subventionen handelte, scheint jedenfalls im Sommer 1917, in der kurzen Phase der Ermittlungen, nicht gelungen zu sein. Noch heute beruft sich in Russland und in Deutschland alles, was links und edel ist, auf dieses Defizit. Als ob es darauf ankäme.

Geht man hingegen den Dingen von der anderen Seite nach, also von der Geldquelle, oder noch genauer: der deutschen Staatskasse, so kommen Zahlungen in Höhe von etlichen Millionen Goldmark ans Licht. Die Akten des Auswärtigen Amtes lassen wenig Spielraum. Sie wurden durch Aussagen des sozialistischen Abgeordneten Eduard Bernstein ergänzt, der den strikt geheim gehaltenen Fundus bald nach Kriegsende 1918/19 kontrollierte, zu einer Zeit also, als noch nicht die spätere Bereinigungen durch die westalliierten Sieger des Zweiten Weltkriegs für eine Ausdünnung des Akten-Bestandes gesorgt hatte.

Fünf
Die Geld-Wäscherin

Nun sind wir nach diesen scheinbaren Umwegen bei der Hauptperson angekommen. Eugenia Sumenson wurde etwa 1880 im Russischen Reich geboren, höchstwahrscheinlich in Warschau. Damit sind wir bereits am Ende der harten Fakten angelangt. Schon die Namensschreibung dieser Frau ist unsicher. Manche schreiben die russische Namensversion Jewgenija Mawrikijewna Sumenson (Евгения Маврикиевна Суменсон), den Nachnamen zuweilen auch mit dem runden S, also Зуменсон, und schließlich auch Samuelson (Самуелсон). Dieser letztere, ein jüdisch klingender Name ist vermutlich der Geburtsname, während Sumenson der finnisch oder schwedisch klingende Ehename ist, was mit ihrer Eigenangabe nach der Festnahme insofern zusammenpasst, als sie angab, sie sei eine Witwe, zudem lutherischen Glaubens, was sie ursprünglich kaum gewesen sein dürfte.

Aus ihrer Vernehmung durch die Staatsanwälte in Petrograd stammen die am wenigsten ungenauen Angaben über ihr Leben: Jewgenija Mawrikijewna Sumenson, eine bürgerliche Frau in Warschau, 37 Jahre alt, eine lutherische Frau, eine Witwe, ich habe keine Kinder, ich habe keine Immobilien, ich war nicht vor Gericht, absolvierte das Warschauer Frauengymnasium, lebte dauerhaft in Warschau und ungefähr einen Monat vor der Eroberung Warschaus zog ich nach Petrograd.

Zugegeben, der Stil ist gewöhnungsbedürftig. Der Text deutet darauf hin, dass hier von eiliger Hand einiges zu Veröffentlichungszwecken zusammengeschustert worden ist. Es geht im Weiteren um die Firma Fabian Klingsland, deren Angestellte die Sumenson war. Lange habe ich angenommen, es sei eine Scheinfirma gewesen. Doch das ist falsch. Es gab diese Firma tatsächlich und ihr Inhaber war kein Phantom, sondern ein wohlhabender jüdischer Kaufmann in Warschau, dessen Grab heute noch existiert. Ich bin durch puren Zufall auf die Einzelheiten gestoßen, nämlich bei einem Besuch des Impressionisten-Museums von Rouen. Das liegt in Nordfrankreich. Ich gebe zu, dass ich meinen Augen nicht traute, als ich in einem Katalog den Namen Fabian Klingsland fand und auch noch ein Foto dazu, das den Mann mit zweien seiner Töchter zeigt, aufgenommen vor dem Ersten Weltkrieg. Der Grund für die Abbildung war
nicht dieser Mann, sondern eine der Töchter, die sich als Malerin Meta Muter nannte.

Kurzum, so konnte ich mich, wie man so sagt, weiterhangeln und stieß dabei auf folgende bezeichnende Einzelheiten: Klingsland war ein Warschauer Händler, der ein Vermögen mit dem Import von Babynahrung der schweizerischen Firma Nestlé gemacht hatte. Eine seiner Töchter, gewiss eine gute Partie, heiratete in eine andere wohlhabende jüdische Familie in Warschau ein, die Fürstenbergs. Heinrich Fürstenberg, der Schwiegersohn von Klingsland, wurde, auch nichts Sensationelles, Teilhaber des Alten.

Jetzt muss der Leser ein bisschen Luft holen, um den Faden nicht zu verlieren: Heinrich Fürstenberg hatte einen Bruder namens Jakob, der selbstredend auch Fürstenberg hieß, jedoch irgendwann nach der Jahrhundertwende vermied Jakob, der Revoluzzer, seinen richtigen Namen. Er nannte sich fortan Jakub Ganezkij. Oder, je nach geforderter ortsüblicher Schreibweise: Ganetzki, Ganetsky, Hanecki oder was es sonst noch für Varianten geben mag. Wir bevorzugen hier die russische, also Jakub Ganezkij (Яакуб Ганецкнй).

Ganezkij hatte frühzeitig einen engen politischen Kumpel. Das war Wladimir Uljanow, ein politischer Außenseiter und Spross aus dem russischen Dienstadel, der sich als quasi-anonymer Autor seit etwa 1901 N. Lenin nannte. Ganezkij wurde einer seiner engsten Vertrauten. Die Verbindung hielt bis zu dessen Machtergreifung und darüber hinaus. Immer wenn es etwas zu deichseln gab, womit der Meister sich nicht kompromittieren mochte, dann musste Ganezkij ran. Das galt besonders für die Zeit der Geldsorgen, als Lenin ab Kriegsbeginn bis zum April 1917 relativ verbindungslos und nahezu bedeutungslos im schweizerischen Exil saß oder, wenn man so will: festsaß.

Jetzt kam Ganezkijs große Stunde. Er kannte den bei Kriegsbeginn aus der Türkei nach Deutschland zurückgekehrten Alexander Helphand. Der Leser erinnert sich: Das ist der, der dem Auswärtigen Amt versprochen hatte, die Revolutionierung Russlands mit deutschem Geld voranzutreiben. Er hatte deswegen Tarnfirmen in Kopenhagen und Stockholm gegründet. Jetzt fehlte nur noch das korrespondierende Spundloch nach Russland hinein.

Wer genau wem die zündende Idee eingeblasen hat, ist nicht überliefert. Einer von beiden, Helphand oder Ganezkij, muss es gewesen sein. Sie erörterten, wie es wohl gehen müsste, das Geld zu transferieren (und dabei selbst nicht zu kurz zu kommen). Ganezkijs Bruder, Heinrich Fürstenberg, war, wie wir schon sahen, Teilhaber einer real existierenden, eingespielten Importfirma. Der hatte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Strich durch ihren lukrativen Rechnungen gemacht, denn die Grenzen zwischen dem Zarenreich und den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn waren für Normalsterbliche unpassierbar geworden. Mit dem Import aus der Schweiz war also Schluss. Man müsste, so sinnierten beide, die Firma in die russische Hauptstadt verlegen, denn in Warschau würden in absehbarer Zeit die Deutschen einmarschieren.

Aber das Firmenschild in Warschau abschrauben und in St. Petersburg-Petrograd wieder anbringen, das würde nicht ohne weiteres gehen. Da würde die Polizei ein Wort mitreden und kein gutes, denn in der russischen Hauptstadt bestand seit Jahren ein kompromissloses Zuzugsverbot für Juden. Nicht nur meinte die Obrigkeit, dass es bereits übergenug viele Juden dort gäbe, auch war sie überzeugt, dass aus diesem Personenkreis das Gros der zur Gewalt neigenden Revolutionäre hervorgegangen sei. Inwieweit dieses Vorurteil auf bestimmten Erfahrungen beruhte, lasse ich hier mal dahingestellt.

Wie dem auch sei: Ganezkij wusste Rat. In der Firma Klingsland in Warschau arbeitete seit Jahren eine junge Witwe, eine Cousine übrigens. Sie war dort als FremdsprachenKorrespondentin angestellt, hatte keine Kinder und war bestens geeignet, Knall auf Fall nach Petrograd umzuziehen. Für sie galt das lästige Zuzugsvorbot nicht, denn sie war – wie ich annehme: seit ihrer Heirat mit Sumenson – eine Protestantin. Ob sie bei solcher Gelegenheit getauft wurde, weiß ich nicht, möglich wäre es.

Sechs
Der Plan wird Wirklichkeit

Die heimlichen Verbündeten ließen keine Zeit unnütz vergehen. Einen Monat vor dem deutschen Einmarsch in Warschau, man schrieb den 5. August 1915, zog Eugenia Sumenson von Warschau nach Petrograd. Sie residierte fortan in einer Datscha in Pawlowsk, eine knappe Eisenbahnstunde von der City von Petrograd entfernt, wo sie zusätzlich eine 4-Zimmer-Wohnung anmietete. Damit war der erste wichtige Schritt getan. Weitere folgten. So das Treffen aller Beteiligten in Kopenhagen 1916. Am Tisch saßen die für den Deal notwendigen Personen, und nur diese: die beiden Fürstenbergs, einer, Heinrich, war der Firmenmiteigentümer von Fabian Klingsland, der andere (Jakub Ganezkij-Fürstenberg) der Emissär Lenins. Mit von der Partie auch der Agent der deutschen Reichsleitung Alexander Helphand sowie die künftige Operateurin der Gelddrehscheibe in Petrograd, Eugenia Sumenson, und schließlich Lenins Geld-Entgegennehmer und -Weiterverteiler in Petrograd, der polnische, in der russischen Hauptstadt zugelassene Rechtsanwalt, Mieczyslaw Koslowski. Es gab also fünf Personen, die Bescheid wusste, genau fünf und nur diese.

Wie gut diese Geldbeschaffungsmaschine funktionierte, lässt sich am Umstand ablesen, dass eine Druckerei gekauft und fortan bolschewistisches Propagandamaterial in Russland, vor allem in seiner tonangebender Hauptstadt in Hülle und Fülle gedruckt und verteilt werden konnte. Über die Wichtigkeit und den Einfluss der zersetzenden bolschewistischen Propaganda sollte man wenig Zweifel haben.

Auch die siegreichen Bolschewiki wussten das, und sie wurden nicht müde, in ihren Heldensagen die Geschichte der Prawda (Правда) zu erzählen. Ein bisschen schlechtes Gewissen hatten sie hierbei schon, denn sie sahen sich veranlasst, über die Herkunft der Druck- und Verteilungskosten ungefragt Auskunft zu geben. Es seien Parteispenden der werktätigen Massen gewesen. Sie vertrauten bei diesem Märchen darauf, dass sich niemand daran erinnern würde, dass es diese Arbeitermassen hinter den Bolschewiki nicht gab, denn diese waren kraft eigener Überzeugung keine Massenpartei à la deutscher Sozialdemokratie, sondern eine elitäre Gruppe von Berufsrevolutionären. Das waren sie wirklich. Alles andere ist Unsinn.

Sieben
Aus der Traum

Im Juli 1917 kippte die Geldwaschanlage auf. Stellt sich die Frage, warum und warum nicht früher. Ich kann hierzu nur Vermutungen äußern, die sich auf einige dürftige Quellen von Überlebenden stützen. Die Auslandsabteilung der russischen Geheimpolizei (Ochrana – Охрана) hatte keine Illusionen, was die Gefährlichkeit des im schweizerischen Exil lebenden Lenin betrifft. Sie überwachte ihn, so gut sie vermochte, mit Spitzeln, die über sein woher und wohin regelmäßig berichteten. Doch nach der Februar-Revolution von 1917 war die Messe gelesen. Denn wenn es jemanden gab, der aufgrund dieses Ereignisses um sein Leben fürchten musste, so waren es die Mitarbeiter der russischen Sicherheitsbehörden. Sie flogen Knall auf Fall raus, viele von ihren wurden kurzerhand ermordet und ihre Akten in Petrograd unter dem Applaus des Straßenpublikums in einen Scheiterhaufen verwandelt.

Ich kann also nicht mit Bestimmtheit sagen, ob man von der Existenz des Geldverschiebebahnhofs bereits 1916 etwas mitgekriegt hatte. In den Überresten des Fahndungsbuchs der Spionageabwehr für das Jahr 1916 habe ich die Verantwortlichen jedenfalls nicht entdecken können. Ich bedaure das auch deswegen, weil ich zu gerne ein Foto der Sumenson in Händen gehalten hätte.

Der Anstoß, auf die Geldwäscher schließlich aufmerksam zu werden, kam von außen und durch ein äußeres Ereignis. Es handelt sich um Lenins Rückkehr nach Russland, die im April 1917 von der deutschen Reichsleitung organisiert und in die Tat umgesetzt wurde. Dem französischen Auslandsdienst und der Spionageabwehr der russischen Armee schwante bei diesem Ereignis nichts Gutes.

Die französischen Abhör-Spezialisten, die auch in Petrograd eine heimliche Dependance errichtet hatten, bekamen bei der Gelegenheit einen seltsamen telegraphischen NachrichtenVerkehr zu fassen, den sie an die (noch) verbündeten Russen durchreichten. Hierbei ging es etwas kryptisch um Anforderungen und Bestätigungen für irgendetwas, auf jeden Fall um einen Informations-Austausch zwischen Ganezkij in Stockholm und Sumenson in Petrograd. Die verbliebenen Abwehrleute unter dem russischen Obristen Boris Nikitin hatten bald keinen Zweifel mehr, hier floss Geld, das sodann weitergereicht wurde. Als Spinne im Netz orteten sie zurecht Eugenia Sumenson. Ebenfalls zutreffend stellten sie fest, dass diese in einer
Datscha in Pawlowsk hauste oder in der Wohnung des polnischen Rechtsanwalts Koslowski anzutreffen war. Zunächst dachte man sich nur sein Teil und grinste, dann aber sickerte allmähliche der Verdacht in die Hirne der Ermittler, dass dies keine erotische Beziehung sei (oder nicht nur), sondern dass hier revolutionäre Profis mit Geld jonglierten, das dazu diente, Bares an die Genossen weiterverteilen zu können. Allein auf Koslowskis Konto bei der Sibirischen Bank befanden sich zum Zeitpunkt seiner Festnahme über 2.000.000 Rubel.

Nun wäre immer noch nicht eingeschritten worden, denn die Militärs hatten im revolutionären Russland keine Befugnis dies zu tun und die neu gebildeten Volksmilizen hatten keine Lust dazu. Das änderte sich schlagartig am 3. (15.) Juli 1917 als Lenin seine bewaffneten Kader gegen die Vorläufige Regierung losschlagen ließ. Der Putsch-Versuch scheiterte kläglich. Er bewirkte indessen, dass die Doppelherrschaft aus Vorläufiger Regierung und Arbeiter- und Soldatenräten plötzlich darin einig war, jetzt unnachgiebig gegen die Putschisten vorzugehen.

Lenin entfloh ohne Bart, dafür mit Perücke und Landarbeiter-Kluft im letzten Moment in die Wälder Finnlands. Die Sumenson hingegen kam zusammen mit einem guten Dutzend Bolschewiken in U-Haft. Dort verblieben sie bis September. Da fand ein weiterer überraschender Putschversuch statt, nämlich der des Generals Kornilow gegen die von der Duma eingerichtete Vorläufige Regierung. Deren Macht zerbröselte zusehends. Als sie gegen den putschenden General Hilfe suchte, fand sie solche bei den zuvor wütend bekämpften Bolschewiki. Eine Hand wäscht die andere: die bis vor Tagen noch mit der Hinrichtung bedrohten Hochverräter kamen Knall auf Fall auf freien Fuß. Von dem für Oktober terminierten Prozess sprach niemand mehr. Oder doch fast niemand.

Mir ist schleierhaft, wie es die nur noch mühsam strampelnde Vorläufige Regierung angesichts des im Lande und in der Hauptstadt herrschenden Chaos fertigbrachte, eine Dokumenten-Sammlung ihrer Herrschaft edieren und herauszubringen zu lassen. Sie kam, soweit man weiß, bis Band 21, dann blieb ihr nach Lenins November-Putsch (=Oktoberrevolution) nur noch die Flucht. Ich erwähne diese Edition, weil in ihrem 18. Band, von dem ich bislang lediglich Rudimente entdecken konnte, das Vernehmungsprotokoll der Sumenson enthalten sein muss, in dem diese als einzige der Angeklagten eine Aussage zur Sache
machte. Sie räumte hierin den Geldtransfer ein. Im Oktober 1917 kam sie dann als letzte der angeklagten Hochverräter gegen Kaution auf freien Fuß.

Was war nun fürderhin mit den deutschen Zuwendungen? Das im Juli 1917 vorgefundene Geld wurde beschlagnahmt, doch es gelang nicht, den weiteren Geldfluss an die Bolschewiki zu stoppen. Vielmehr hatte Lenins neuer Statthalter in Stockholm, Karl Radek, alsbald andere Kanäle installiert. Das Geld erhielt er jetzt aus der dortigen deutschen Gesandtschaft (von einem gewissen Svenson, Klarname: Hans Steinwachs) und leitete es nach Umtausch in Rubel mit Kurieren über die russische Grenze. Die erneut heimlich und in großer Stückzahl gedruckte Prawda (sie hieß in dieser Zeit: Rabotschij i Soldat – Рабочий и Солдат) erschien wieder wie gehabt, und Anfang November 1917 gelang der nunmehr besser vorbereitete zweite Putsch des Wladimir Lenin. In Sowjet-Russland begann die Neue Zeit.

Acht
Der Dank des Vaterlandes der Werktätigen

Bleibt noch zu klären, was mit den Geldwäschern geschah. Alexander Helphand zog es vor, nicht erneut ein Leben in Russland auszuprobieren. Er ist in Berlin eines natürlichen Todes gestorben. Der polnische Rechtsanwalt Koslowski blieb in Sowjetrussland, machte sich verdient, indem er den Vorschriften-Apparat der neuen Geheimpolizei, der Tscheka, entwarf. Auch er starb bald eines natürlichen Todes. Nicht so Lenins Vertrauter, Jakub Ganezkij. Es half ihm nichts, dass er vor einem Parteigericht die Bekanntschaft mit der Sumenson leugnete und sie abwertend als einen dicken Ofen bezeichnete. Er musste in der Sowjethierarchie bis 1937 eine Stufe nach der anderen nach unten klettern, dann wurden er, seine Frau und sein Sohn auf Stalins Geheiß vom NKWD verhaftet und erschossen, die Tochter kam mit langjähriger Lagerhaft davon.

Und die Sumenson? Sie verschwand von der Bildfläche, so als hätte es sie nie gegeben. Auf einer russischen Frauenrechts-Seite fand ich sie vor Jahr und Tag abgebildet, aber ich habe starke Zweifel, dass das verschwommene Bild authentisch ist. Mehrfach las ich die Behauptung, dass Sumenson die Große Säuberung 1936-39 nicht lebend überstanden habe. Andere wollen wissen, sie sei in die USA ausgewandert und habe in einer jüdischen Gemeinde in New York ihr Leben beschlossen. Ob’s stimmt. Wer weiß.

©Helmut Roewer, August 2023


Hinweis auf ausgewählte Quellen:
Wladimir Burzew: Borba za svobobnuju Rossiju. Moi vospominanija 1882-1924 [Der Kampf um ein freies
Russland. Meine Erinnerungen aus den Jahren 1882-1924]. Berlin 1924.
Michael Futrell: Northern Underground. Episodes of Russian Revolutionary Transport and
Communications through Scandinavia and Finland 1873-1917. London 1963.
Ганецкий Я. [Jakow Ganezkij]: Воспоминания о Ленине [Woslominanija o Leninje – Erinnerungen an
Lenin]. Moskwa 1933.
W.K. von Korostowetz: Lenin im Hause der Väter, Berlin 1928, S. 271-284.
Космач Вениамин Аркадьевич/П. М. Машерова. Журнал Псковский военно-исторический вестник
№ 2/2016 [Kosmatsch Weniamin Arkadjewitsch/P. M. Masherov: Zeitschrift Pskow Militärhistorisches
Bulletin Nr. 2/2016]; https://zapadrus.su/rusmir/istf/1657-bolsheviki-i-germaniya-v-gody-pervoj-mirovojvojny.html.
Gustav Mayer: Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Mit
Erläuterungen und Ergänzungen, einem Nachwort und einem Personenregister von Gottfried Niedhart.
Nachdruck der Ausgabe Zürich/München 1949. Hildesheim/Zürich/New York 1993.
B[oris] V[ladimirovich] Nikitine [i.e. Boris Wladimirowitsch Nikitin]: The fatal Years. Fresh Relevations on a
Chapter of Underground History. With a Preface by Alfred Knox. London 1938. Nachdruck:
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Fritz Platten: Lenins Reise durch Deutschland im plombierten Wagen. Frankfurt 1985.
Stefan T. Possony: Lenin, Gütersloh, 1965, S. 282-298.
Kurt Riezler: Tagebücher, Aufsätze, Dokumente. Eingeleitet und herausgegeben von Karl Dietrich
Erdmann. Göttingen 1972.
Winfried B. Scharlau/Zbynèk A. Zeman: Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische
Biografie. Köln 1964.
Виктор Штанько: Философский взгляд на … Том 5 (продолжение) [Wiktor Schtanko: Ein
philosophischer Blick auf… Band 5 (Fortsetzung); https://leninism.su/lie/5153-filosofskij-vzglyad-na-tom5.html.
Fedor Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884-1922.
München 1961.
A.T. Wassiljew: Ochrana. Aus den Papieren des letzten russischen Polizeidirektors. Zürich/Leipzig/Wien
1930.

Beitragsbild: Koslowski und Lenin