Eine Welt ohne Allergien
Heute haben die Deutschen fein geflieste Räume mit Wassertoiletten, Waschbecken und Duschen mit warmem und kaltem Wasser. Und sie werden zwar immer älter, aber auch immer allergischer. Als wenn die Hygiene schädlich für die Gesundheit wäre. Kein Menschenalter ist es her, daß Allergien und Hygiene nahezu unbekannt waren.
Wenn man durch die Weimarer Innenstadt geht, kommt man an einem markanten Fachwerkhaus vorbei, in dessen Erdgeschoß sich eine Schwarzbierwirtschaft befindet. In den siebziger und achtziger Jahren stand das Erdgeschoß leer und in den Obergeschossen waren mehrere Familien pro Etage einquartiert. Im seit dem Dritten Reich nicht mehr renovierten Hausflur befand sich pro Etage ein Gemeinschaftsausguß und am Ende des Gangs jeweils eine Gemeinschafts-Trockentoilette. Im Amtsdeutsch des Wohnungsamts war das eine TC-Anlage. Wenn das Gemach im 2. Obergeschoß benutzt wurde, was man am Knarren der Dielen hören konnte, so mußte man im 1. Obergeschoß fluchtartig das Örtchen verlassen, da eine ergiebige Urin- und Fäkaldusche bevorstand. Die kommunale Wohnungsverwaltung war großzügig und ließ sich zu einer Mietminderung von 45 % = 4,35 Mark herab und vergütete gemäß Mietvertrag monatlich 3,00 Mark „für Reinigungsarbeiten im TC-Raum“. Der verbleibende zu entrichtende Mietpreis betrug daher monatlich 2,30 M. Fürwahr eine Traummiete im sozialistischen Sowjetparadies, und darüber hinaus sind die damaligen Mieter durch häufiges Reinigen des Örtchens für den Rest ihres Lebens gegen Allergien gefeit.
Etwas überrascht war ein Kohlenmann, der einige Zentnersäcke mit Briketts für ein Flüchtlings-Rentnerehepaar aus Schlesien brachte. Er mußte durch einen engen Zwischenraum zwischen dem Haus und der Nachbarwand hindurchlaufen und um sich Weg zu ersparen, nahm er immer zwei Säcke auf einmal. Mit den vollen Säcken kam er unbeschadet über die Blechabdeckung der Klogrube. Als er mit den leeren Säcken zurückkam, fiel er durch die verrostete Abdeckung. Geistesgegenwärtig winkelte er die Arme ab und konnte sich so auf den Rändern der Grube abstützen. So entging er dem sicheren Tod. Er bekam nach dem Unfall einen neuen Arbeitsanzug von der kommunalen Wohnungsverwaltung gestellt und die Klogrube bekam trotz allgemein grassierender Materialknappheit endlich einen neuen Deckel.
Wenn es im Fachwerkhaus auch kleine Mißlichkeiten gab, so wußte jeder bereits damals, daß es immer noch Menschen gibt, denen es schlechter ging. Nicht nur in Afrika, sondern auch in Weimar, der Stadt der deutschen Hochkultur. Denn die sanitären Verhältnisse waren damals noch wahrhaft klassisch. Mein Freund Dirk, heute ist aus ihm ein sehr wohlhabender Hanseat geworden, bewohnte im Hause der Witwe Hölbig in der Schillerstraße ein Zimmerchen, das nur vier Quadratmeter groß war. Das Haus verfügte noch über eine Spezialität, die bereits selten geworden war: ein Tonnenklo.
Im Zimmerchen hatte ein Bettchen Platz, das eine ganze Wandseite einnahm, ein winziges Tischlein, ein Stuhl und ein sehr schmales Regal vervollkommneten die Einrichtung, in der Ecke stand ein sogenannter Kanonenofen. Die Tür schlug zu allem Überfluß nach innen auf, so daß die drangvolle Enge verstärkt wurde. Aber das Klo war die Attraktion. Bereits wenn ein Besucher das Haus betrat, schlugen ihm süße Düfte entgegen. Neben dem Hausflur befand sich ein Raum, in welchem eine mannshohe Holztonne stand, und in diese Tonne führte das Rohr von den Toiletten. Wenn ungefähr eine Woche vergangen war, kam ein Lastkraftwagen mit einem Flaschenzug, die volle Tonne wurde aus dem Haus gerollt, und eine leere Tonne herein. Ich habe immer den Herrn Werner bewundert, der die Tonnen rollte, und der bei den Fahrten durch die Stadt ungerührt neben seinen Holzbehältern auf der Ladefläche des Spezialfahrzeugs stand und dabei mit Seelenruhe sein Pfeifchen schmauchte. Selbstredend war Werner kein Allergiker.
Das war aber auch nicht der Höhepunkt. Abenteuerlicher ging es in der Kleinen Kirchgasse 11 zu, einem nur 4 m breiten Haus, das vom Kraftfahrer Siggi im 2. Obergeschoß und der Prostituierten Elli im ersten Obergeschoß bewohnt wurde. Im 3. Obergeschoß wohnte der Student Lüd Lüders als Untermieter. Siggi und Lüd behaupteten unisono, daß man auf dem Trockenklo im Erdgeschoß Sommersprossen bekommen würde, und es hatte jeder seine eigene Lösung gesucht. Siggi hatte mit etwas Geschick sein WC an die Dachrinne angeschlossen. Wegen eben diesem Geschick wurde er später Hausmeister im piekfeinen Marie-Seebach-Schauspielerstift.
Lüd hatte neben der Wohnungstür im Treppenhaus einen Metallkübel stehen, in den er urinierte. Bei den harten Sachen ging er in Gaststätten oder in ein nahegelegenes Studentenwohnheim. Den Kübel trug er, wenn dieser voll war, die Treppe herunter und goß ihn aus. Lüd veranstaltete abends oft Festlichkeiten. Wenn die jungen Damen nach der Toilette verlangten, beschrieb er den Weg. „Du mußt aus der Wohnungstür raus, und gleich rechts um die Ecke ist es“. Die jungen Damen gingen aus der Tür heraus in den dunklen Hausflur und suchten an einem speckigen Wandbehang, der vor 200 Jahren einmal ein Gobelin gewesen war, nach einer Türklinke. Da war aber keine, sondern unten stand im Dunkeln der große Kupferbottich. Einmal war Ulli Weißbach zu Besuch und er fand den Bottich nicht. Er öffnete das Fenster und pinkelte in den Hof auf die Wäsche von Elli.
Das war aber immer noch nicht die Spitze der deutschen Klassik. Wer näheres über das 18. Jahrhundert wissen wollte, mußte sich in die Marstallstraße in das Haus der Witwe Heller begeben. Hier befand sich im Haupthause überhaupt kein einsamer Ort, sondern im Garten befand sich eine baufällige Hütte. Wenn im Haus Fremde weilten, trat im Bedarfsfall die sogenante Bratpfanne in Aktion. Es war ein Metalltopf mit einem langen Holzstiel, der in einem Durchgangszimmer untergebracht wurde. Die beiden Türen wurden im Bedarfsfall bewacht, um Störungen zu vermeiden. Wenn nach dem Örtchen gefragt wurde, sagte der Mieter David Frase (heute ein europaweit bekannter Spezialist für seltene Käfer) zu seiner Freundin mit ernstem todtraurigen Gesicht und im allgemeinen recht laut, sozusagen ungerührt: „Babsi, hol mal die Bratpfanne“.
Eine ganz ähnliche Beschreibung der sanitären Verhältnisse kann man beim Studium der Werke des Historikers Josef Kulischer finden, der die sanitären Besonderheiten am Hofe Ludwigs des XV. in Versailles untersucht und publiziert hatte.
Die alte Welt ohne Allergien ist untergegangen. Viele Leute ekeln sich einerseits vor Elektrosmog, Feinstaub, Ekelfleisch, Waldsterben, Erderwärmung, Genreis, Verkehrslärm, spanischen Paprika, chinesischem Spielzeug und Radioaktivität, andererseits verplempern sie immer mehr Wasser und Gel unter der Dusche. Ein kleines bißchen Dreck braucht unser Körper scheinbar.
Ein sehr interessanter Artikel, den ich meinem in Weimar aufgewachsenen Vater vorlesen werde. Nur möchte ich anregen, das letzte „scheinbar“ zu ersetzen durch „anscheinend“…