Die SPD und der Erste Mai
Gestern wurde bei der Maifeier auf dem Weimarer Marktplatz zwei Sozialdemokraten das Mikro weggenommen und „Arbeiterverräter!“ reingebrüllt. Diese Feindschaft gegen die SPD und der Nationalsozialismus haben in Weimar eine lange Tradition. Bereits 1907 wurde aus dem ersten Weimarer Wahlkreis ein Antisemit der Deutschen Reformpartei in den Deutschen Reichstag gewählt. Hitler weilte damals noch im fernen Österreich. 1933 war das Weimarer Wahlergebnis ebenso desaströs. Glatte Mehrheit für die NSDAP. Aber auch in der Russenzeit waren die SPD-Genossen als Arbeiterverräter verschrien.
Nach dem Wahlsieg von Willy Brandt im Jahr 1969 wurden die Werktätigen permanent über die Gefahren des sogenannten „Sozialdemokratismus“ aufgeklärt. Alle in der Nationalen Front versammelten Parteien und Massenorganisationen, darunter pikanterweise auch die Nationaldemokraten der NDPD mußten politisch gegen den im Volk recht populären Bundeskanzler Brandt schulen. Die politische Kampagne gegen den Sozialdemokratismus hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Werktätigen den ersten Mai 1971 feierten.
Der erste Mai in Weimar begann alljährlich mit dem Sammeln an vorbestimmten Stellplätzen und dem Streit darüber, wer die Spruchbänder und Fahnen tragen muß. Wenn Fahnenträger und Spruchbandträger bestimmt waren, setzte sich der Zug sehr langsam in Bewegung und kam immer wieder ins Stocken. Das kam dadurch zustande, daß am Gauforum durch die Zugleitung drei bis vier Marschsäulen kunstvoll ineinandergefädelt wurden. In der Karl-Liebknecht-Straße bekam der Umzug dann regelmäßig das Rennen. Die Reihen rissen auseinander, es entstanden Lücken und man erreichte den Goetheplatz, wo links die Tribüne mit den Genossen der Kreisleitung aufgebaut war. Nach dem Passieren der Tribüne kam man in die Heinrich-Heine-Straße, wo der Zug sich auflöste. Auflösen ist gut gesagt. Während der Zug in den sechziger Jahren noch geordnet bis zum Sophienstiftsplatz kam, erreichte er in den Achtzigern nur noch mit großer Mühe die Löwenapotheke. Noch im Angesicht der Kreisleitung wurden Fahnen und Spruchbänder eilig an die Hauswände gelehnt und die Werktätigen desertierten unauffällig und rasch zu den Bratwurstständen.
Sammler von Fahnen und Spruchbändern wären sicher auf ihre Kosten gekommen, aber es gab kaum Interessenten, da an Fahnen und Sprüchen ein absolutes Überangebot herrschte. Neben der Tribüne auf dem Goetheplatz gab es eine Besonderheit. Ein Sprecher stand an einem Mikrofon und las unentwegt etwa folgenden Text: „Wir begrüßen die Genossenschaftsbauern der LPG „Ulrich von Hutten“, die ihren Plan bereits zum 30. April mit 41,4 % erfüllt haben. An der Spitze marschiert die Brigade der Pflanzenproduktion mit dem Genossen Hackebeil, die hohe Leistungen im Plan Wissenschaft und Technik bei der Einführung der neuen Rübenhacken in die Produktion erreicht haben. Wir danken den Werktätigen der Brigade für ihre hohen Leistungen, die nur unter Anwendung neuester sowjetischer Erfahrungen erreicht werden konnten, hoch lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft, sie lebe hoch, sie lebe hoch, sie lebe hoch…..Wir begrüßen die Werktätigen des VEB Dreikäsehoch, die hohe Leistungen bei der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Käsesorten erbracht haben. Zusätzlich zum Plansoll wurden im Rahmen der Konsumgüterproduktion täglich 20 Blumenampeln produziert. Die Brigade Käseschwanz unterstützt den Freiheitskampf des chilenischen Volkes mit einer Spende von 144 Mark. Hoch lebe die antiimperialistische Solidarität, sie lebe hoch, hoch, hoch…. Wir begrüßen die Schüler und das Lehrerkollektiv der Pestalozzi-Oberschule. Zu Ehren des dreizehnten Plenums der Partei der Arbeiterklasse haben die Schüler der Klasse 7a mehr als 3,7 Tonnen Altpapier gesammelt. Der Erlös wurde für das Pfingstreffen der FDJ in Berlin zur Verfügung gestellt“. Und so ging das Erfolgsgelabere den lieben langen Tag.
1971 wurde experimentiert. Gegenüber der Tribüne befand sich die Eingangstreppe der Hauptpost mit einem ausreichend großen Podest. Hier wurde unsere Schulklasse in Stellung gebracht. Ein Instrukteur von der Kreisleitung mit einer Flüstertüte hatte mit uns seit einer Woche Sprechchöre einstudiert. Wenn er mit der Flüstertüte zu schreien anfing mußten wir was aus seinem Repertoir rufen. Die Hauptsprüche waren: „Wir fordern von dem Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ und „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“. Die Sprechchöre sollten den Eindruck erwecken, daß das Volk spontan seine Meinung äußert.
„Ob Willy Brandt so blöd ist, die DDR anzuerkennen?“, dachte ich im Stillen. Immer wenn der Redner von der gegenüberliegenden Tribüne mal kurz Luft holte, fing unser Instrukteur auf der Posttreppe an zu schreien „Wir fordern von dem Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ oder „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“, und wir riefen es ihm nach. Nach etwa zwei Stunden hatten die von der Tribüne unser dünnes Gerufe satt, und bestellten die Sprechchöre von der Posttreppe einfach ab. Der Heini mit der Flüstertüte war ziemlich deprimiert. War er nicht gut? Hatte er was falsch gemacht? Hatte er die Ohren der gegenüberstehenden Genossen beleidigt?
Die SPD hatte es in Weimar immer schwer. Komischerweise bildet sie mit ihren einstigen erbitterten Gegnern derzeit eine Koalitionsregierung. Eine russische Anekdote behandelt diese Bewußtseinsspaltung so: „Ein Gewissen zu haben ist garnicht schlimm. Man muß nur lernen damit fertig zu werden.“
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