Ein reiches Land und deutscher Wahn – abschließende Bemerkungen über Südwest Afrika

Gastbeitrag von Helmut Roewer, Teil 3 und Schluss: Das koloniale Erbe, der Bergbau und die Eisenbahnen

Es gehört heutzutage zum politisch korrekten Blabla, dass wir schuldbeladen unsere afrikanischen Sünden zelebrieren. Wer nicht in dieses garstige Lied einstimmt, ist Rassist oder Herero-Leugner oder Schlimmeres. Unsere Vorfahren dachten pragmatischer. Für sie waren die kolonialen Erwerbungen vor allem eines: ein kostspieliges Zuschussgeschäft. Man kann es anhand der Reichstagsdebatten rückverfolgen. Der Bau von Eisenbahnen und der Unterhalt einer Schutztruppe überstieg bei weitem den pekuniären Nutzen der Kolonien. Besonders unangenehm schien den Abgeordneten die Kolonie Deutsch Südwest: nutzlose Wüsten und eine aufsässige Bevölkerung, die man zusammenfassend ebenso unzutreffend, wie auch abwertend als Hottentotten bezeichnete.

Die Lage änderte sich rapide um 1910. Da wurden bei Wartungsarbeiten an der soeben in Betrieb genommenen Schmalspurbahn von der Atlantikküste Richtung Keetmanshoop dicht hinter dem Hafenort Lüderitz Diamanten im Sand der Namib-Wüste gefunden. Damit begann der Diamanten-Boom in Deutsch Südwest. Tausende wanderten zu, die meisten davon Deutsche. Sie errichteten in der Namib-Wüste Siedlungen, denen es an nichts mangelte – außer Wasser. Das bezog man zunächst per Schiff aus Südafrika, bald kam auch eine Entsalzungsanlage hinzu.

Mit der ganzen Herrlichkeit war es bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorbei. Die Diamanten-Claims gingen in Südafrikanischen Besitz über. Die dort wirtschaftenden Monopolherren (De Beer & Co) erwarben alle Rechte. Sie erklärten die einschlägigen Gegenden zu Sperrgebieten. Dieser Zustand dauert bis heute an. Die bedauernswerten EigentümerMilliardäre mussten nach der Unabhängigkeit Namibias 1990 einige Federn lassen, denn der neue Staat erklärte sich zum Miteigentümer der Diamantenfelder.

Ganz ähnlich sieht die Lage beim Abbau zahlreicher anderer Bodenschätze aus. Der Staat Namibia ist zwangsweise Mitgesellschafter der einschlägigen Unternehmungen geworden, ganz gleich ob sie nun Uran, Mangan, Kupfer oder Erdgas fördern. Zahlreiche Namenswechsel erschweren die Beurteilung, ob es sich jeweils um die weltweit bekannten Unternehmen wie Rio Tinto oder aber um chinesische Markt-Neulinge handelt.

Sicheres Indiz für den Vormarsch der Chinesen sind die einschlägigen Schriftzeichen an den Einfahrten in die Abbaugebiete links und rechts der Asphaltstraße von Swakopmund durch die Küsten-Wüste ins Landesinnere – und, nicht zu vergessen: Begegnet man in einem der Orte einem Mann mit einer Gesichtsmaske, so handelt es sich um einen Chinesen. Ansonsten tragen nur einige Schwarze eine solche Maske: Das sind Straßenarbeiter, die sich vor dem staubfeinen Sand schützen.

Wenn man die LKW-Kolonnen auf den beiden Straßen zur Küste und die jeweils parallel laufenden Güterzüge betrachtet, die den Häfen von Lüderitz, Walfischbay und Swakopmund zustreben, drängt sich auf, welche gewaltigen Werte hier in Richtung aller Welt verschoben werden. Ein Blick in die Handelsstatistiken verschafft etwas Klarheit, zum Beispiel dass Südwest Afrika weltweit der größte Uran-Exporteur ist. Allein und für sich genommen, sichert dieser Export dem Land einen staunenswerten Reichtum, auf dessen Woge eine schmale Schicht seiner Bewohner surft. Man erkennt diese Schwarzen daran, dass sie auch bei größter Hitze feinen westlichen Zwirn tragen und Mercedes der S-Klasse bevorzugen, wiewohl diese außerhalb der vier, fünf asphaltierten Straßen des Landes kaum besonders praktisch sein dürften.

Angesichts der unübersehbaren Ärmlichkeit der Masse der Schwarzen im Lande drängt sich die Frage der Vermögensverteilung auf – ich weiß, das ist typisch deutsch. Bei der Betrachtung der in unseren Augen unzumutbaren Wohnverhältnisse in den Randzonen aller Orte, muss man sich am Riemen reißen, dem im eigenen Kopf agitierenden deutschen Besserwisser die Einmischung zu untersagen. Die einheimischen Weißen, die ich befrage, sehen die Situation emotionslos: Schwarze und Weiße würden in unterschiedlichen Welten leben. Dieses sei kein Hautfarben-, sondern ein kulturelles Problem. Die parallelen Kulturen würden nicht zusammenpassenden.

Eine Geschäftsfrau aus Swakopmund erklärt mir das so: Nach der Selbständigkeit des Landes sei die Stadt rapide verfallen, erst seit wenigen Jahren hätten die Weißen begonnen auf ihrer Vertretung im Stadtrat zu bestehen. Seither würden wieder die Straßen gereinigt. Das klingt drastisch in meinen Ohren. Jedoch gebe ich mich keinen Illusionen hin, wenn ich in den Orten, in welchen es Wohnhäuser aus Stein gibt, diese von Mauern umgeben sehe und auf diesen Elektrozäune und S-Draht-Rollen.

Ich versuche, den Machtstrukturen des Landes auf die Schliche zu kommen. Hilfestellung erhalte ich in der ehemaligen kaiserlichen Polizeistation von Waterberg. Während ich dort in der Mittagshitze im Schatten bei einem Glas bitterer Limonade sitze und alle Viere baumeln lasse, findet im Fernsehen, dessen Stadion-Lautstärke bis auf die Terrasse reicht, der Parteitag der Swapo statt, auf der ein neuer Präsident gekürt werden soll. Es sind ellenlange Reden zu hören, von denen ich bestenfalls Rudimente verstehe. Sie sind indessen willkommener Ausgangspunkt, jeden neuen Gesprächspartner nach dem dortigen Geschehen zu befragen. Hier ist das Ergebnis:

Wer Chef der Swapo wird, der wird auch Präsident des Landes. Ich denke, sage ich, Namibia sei eine Demokratie. Die Einheimischen bejahen dies grinsend. Und dann: Die Swapo war eine kommunistische Befreiungsbewegung, die vom benachbarten Angola operierte. Dort bildeten sowjetische Offiziere die Schwarzen im Guerillakrieg aus. Einen dieser Instrukteure lerne ich kennen, einen gebürtigen Buren, der mit stolz ein Photo zeigt, auf dem er in sowjetischer Offiziersuniform zu sehen ist.

Für den Fall, dass der Bure mir keinen Bären aufgebunden hat, kommt ein Grundmuster zum Vorschein, mit dem auch schon die deutschen Kolonisatoren zu kämpfen hatten: die Feindseligkeit der schwarzen Völker untereinander. Deren Häuptlinge waren und sind Pragmatiker in der Frage, mit wem sie sich verbünden, um ihre Macht zu sichern. Ihnen waren kaiserliche Gouverneure ebenso lieb wie kommunistische Weltrevolutionäre oder heutzutage UNO-Besserwisser. Die Frage war und ist: Wer übertölpelte hier eigentlich wen? Wenn man für einen Moment die Möglichkeit unterstellt, dass es allein die Stammesältesten (Häuptlinge, Kapteins) sind, welche im Lande das letzte Wort haben, dann fällt die Antwort auf die Frage der mangelnder Wirksamkeit fremder Einflussnahme auf die afrikanische Kultur nicht schwer.

Durch einen Zufall lerne ich ein weiteres Detail über Kampf und Sieg der Swapo kennen. In Windhoek spricht mich auf der Straße, als ich mich einen Moment zögernd umsehe, ein Schwarzer an. Zugegeben, ich reagiere spontan unfreundlich, denn mir ist es heiß, und ich habe im Moment keine Verwendung für weitere kunstvoll geschnitzte Kastanien, noch denke ich, dass mein Auto einer Spezialbewachung bedarf, doch der Mann ist hartnäckig. Ich brauche einen Moment, um mich mit dem aufgezwungenen Gespräch zu befassen. Dann erst habe ich Anlass, verblüfft zu sein, denn der Mann spricht norddeutsch und das völlig akzent- und fehlerfrei. Was ich in wenigen Minuten über seine Lebensgeschichte erfahre, klingt so unglaublich, dass ich es erst einmal wegschiebe. Tage später erhalte ich Bestätigungen für das Gehörte, so dass ich mich über mich selbst ärgere, keine Kontaktmöglichkeit verabredet zu haben. Und das hier ist die Geschichte: Anfang der 1980er Jahre übernahm die DDR vom sowjetischen Bruder die Verpflichtung, vielversprechende Kinder aus angehenden SwapoFunktionärs-Familien in die DDR zu holen, in die Schule zu schicken und, je nach Begabung, mit einer Berufsausbildung zu versehen. Das ging so bis zum August 1990. Da wurden die nunmehr Jugendlichen Knall auf Fall in einem Transport zusammengefasst und nach Windhoek geflogen, wo gerade der Umbruch zum neuen Staat Namibia stattfand. Dort war niemand auf deren Rückkehr vorbereitet. Auch mochte die nun regierende Swapo andere Sorgen haben. Diese zurück-exportierten Jugendlichen waren in einer völlig anderen Kultur groß geworden, ihre eigentliche, die afrikanische Heimat hatten sie nie richtig kennengelernt und ihrer Sprachen waren sie nicht mächtig. Um es klar zu sagen: Diese potentiellen Hoffnungsträger konnte kein Mensch gebrauchen. Sie waren bereits auf der Verliererstraße, bevor sie die Möglichkeit hatten durchzustarten.

Mir geht durch den Kopf, was für eine Chance das westliche Deutschland verspielte, als es der Noch-DDR nicht in den Arm fiel, die diese Jugendlichen zurückschob, anstatt eine Riege von perfekt deutsch sprechenden Einfluss-Personen aus ihnen zu formen. Diese einmalige Gelegenheit wurde vertan. Heutzutage reisen ahnungslose Politiker nach Namibia, die deutschstämmigen Siedlern erklären, wie man sich gegenüber den Schwarze verhalten müsse. Es ist grotesk. Mehreren meiner Gesprächspartner ist die Ehefrau des Ex-SPD-Vorsitzenden Müntefering in Erinnerung geblieben, Fremdschämen ausgelöst zu haben. Der Wirt aus dem Schützenhaus in Keetmanshoop erzählt mir, dass er die Aufforderung, die Reichskriegsflagge von der Wand zu nehmen, so pariert habe: Die Flagge bleibe, aber er habe nichts dagegen, wenn die hohen Gäste sich ein anderes Quartier suchten – wohl wissend, dass es ein solches weit und breit nicht gibt.

Während meines Aufenthaltes in Südwest Afrika ist der deutsche Wirtschaftsminister auf einer Stippvisite dort, um für grünen Wasserstoff und Utopia zu werben. Er schwärmt von der energiespendenden Sonne. Dass man für das Vorhaben auch Wasser braucht, oder anders ausgedrückt: vor allem dieses, hat er vielleicht noch nie gehört. Wasser? Ja, das ist in Südwest Afrika die alles entscheidende Frage.

Wenn man mit offenen Augen durchs Land reist, stößt man, ich sagte es schon, allenthalben auf deutsche Spuren. Wenn man zudem bedenkt, dass dies alles vor über hundert Jahren in knapp drei Jahrzehnten deutscher Kolonialherrschaft entstand, ist man platt. Die mindestens 100 Kilometer breite Namib-Wüste von Nord nach Süd entlang der Atlantik-Küste stellte die Besiedler vor fast unlösbare Probleme. Sie lösten sie durch den Bau von Schmalspureisenbahnen. So entstand eine Art auf der Seite liegendes U: Die Bahnen begannen jeweils in den beiden Hafenstädten, Swakopmud und Lüderitz, kraxelten in der Namib von der Meereshöhe bis auf die 1500 Meter der Savannen-Hochebene und bogen dann zur Hauptstadt Windhoek ab, wo der dortige, 1913 in Betrieb genommene Bahnhof noch heute einen guten Eindruck vor der damaligen Bedeutung der Bahn ermöglicht.

Heute spielt der Personenverkehr keine Rolle mehr. Es sind Güterzüge mit ihren Erz-Wagen, die das Bild bestimmen. Ab und an sieht man sie von der Fern-Straße aus, wie sie mit vier Diesellokomotiven bespannt, zu den Hafenorten kriechen. Seeheim, auf halber Strecke zwischen Keetmanshoop und Lüderitz gelegen, muss einmal ein bedeutender Umsteige-Bahnhof Richtung Südafrika gewesen sein. Jetzt ist davon nur der Ortsname auf den Landkarten geblieben und eine Übernachtungsmöglichkeit, die an das Wirtshaus im Spessart erinnert. Dort weckte mich in aller Herrgottsfrühe ein vorbeiratternder schier endloser Erzzug. Das Bett wackelte, und der Strom fiel aus.

Finis Africae.

PS: Ich danke meinen Reisegefährten, die mir beim Hinsehen halfen, die meinen Blick auf dieses rätselhafte Land erweitert haben und den Lesern der beiden Vorgänger-Episteln über Südwest Afrika.


©Helmut Roewer, Text & Bilder, Januar 2023