Gullivers Abenteuer in Treva (Erstes Kapitel)

Ich heiße Gulliver. Mein Vater hatte ein einträgliches Parteilehen in Treuenbrietzen, welches dadurch bekannt geworden war, daß ein Schumacher das Frauenzimmer Sabinchen ruiniert hatte. Er leitete einen kleines Lager, das Lebensmittel verteilte, OGS hieß es, Obst, Gemüse, Speisekartoffeln. Herr Wichtig war er allerdings nur wegen  Kubaorangen und Bananen jeweils kurz vor Weihnachten. Ich war der dritte von seinen drei Söhnen. Mein großer Bruder war Offizier geworden, der mittlere Lehrer und mir riet mein Vater etwas völlig Wuchtiges zu werden: Schild und Schwert der Partei. Auf der Hochschule in Potsdam lernte ich professionell interessante Beobachtungen zu machen, darüber hinaus wurde ich durch das Repetieren von Glaubenswahrheiten gestählt: Nenne mir die Rolle der Bedeutung und den Inhalt der Macht der Partei der Arbeiterklasse.

Bald nach meinem Abschluß wurde ich von meinem guten Lehrmeister, Genossen Markus Golf, für die Stellung als Schiffsaufpasser auf einem Fischtrawler empfohlen, der vom Kapitän Anton Biertopf befehligt wurde; ich machte während der zwei Jahre, die ich bei ihm blieb, vor allem Reisen in die norwegischen Gewässer, wo die Mannschaft Makrelen fing und diese zur Beschaffung von Devisen in den Häfen von Bergen und Stavanger löschte. Für die materielle Interessiertheit hatte das Vorteile. In Norwegen herrschte nämlich extreme Mangelwirtschaft, Alkohol war knapp und teuer, während in den Heimathäfen billiger Sprit in Strömen floß. KdS, Gothano, Nordhäuser, Wilthener, Falkenthaler, Aromatique (aka Kommodenlack) und Zitronenlikör. Wenn ich einige mitgenommene Kisten an die immer extrem ausgetrockneten Nordmänner zu guten Preisen verkauft hatte, beobachtete ich, wer von unserer Mannschaft das gleiche tat und meldete das nach Berlin. Meine wertvollen Hinweise blieben seltsamerweise folgenlos, jedenfalls hatte ich den Eindruck.

Meine Mußestunden verbrachte ich damit, daß ich die besten alten und modernen Reiseberichte über die NSW-Länder las, denn ich war stets mit einer reichlichen Anzahl Bücher versehen (NSW = Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet); auch studierte ich die Broschüre „Who´s who bei CIA“ von Julius Mader aka Thomas Bergner, und wenn ich an Land war, so beobachtete ich das Wesen und den Charakter des Volks und lernte seine Sprache, was mir sehr leicht wurde. Am 4. Juni 1978 gingen wir von Warnemünde wieder einmal auf Fang, und unsre Reise verlief zunächst bei ruhigem Wetter sehr glücklich.

Es wäre aus geheimdienstlichen Gründen nicht ratsam, sie als Leser mit den weiteren Einzelheiten unsrer Abenteuer im Kattegat, vor Skagens Horn und in der Nordsee zu belästigen; es genügt, wenn ich ihnen mitteile, daß wir während unsrer Fahrt durch einen heftigen Sturm nach dem Südosten an die holsteinsche Küste verschlagen wurden. Zwölf Leute unsrer Mannschaft waren infolge übermässigen Saufens und von Seekrankheit gestorben, der Rest in einem Zustand großer Schwäche. Am 20. Juni, dem Sommeranfang in diesen Gegenden, erspähten wir Seeleute bei sehr nebligem Wetter eine Hallig, als sie vom Schiff nur noch um eine halbe Taulänge entfernt war; der Wind war so stark, dass wir grade darauf zugetrieben wurden und auf der Stelle zerschellten. Sechs Leuten von der Mannschaft, unter denen auch ich war, gelang es, da sie das Boot aufs Wasser gelassen hatten, vom Schiff klar zu kommen. Wir wurden von der Insel hinfortgetrieben, ruderten nach meiner Rechnung etwa drei Seemeilen weit; dann waren wir von der Anstrengung erschöpft. Wir überließen uns also dem Willen der Wellen, und nach etwa einer halben Stunde kenterte das Boot in einer plötzlichen Bö aus Norden. Was aus meinen Gefährten im Boot wurde, kann ich nicht sagen, doch ich vermute, daß sie alle umkamen. Ich meinesteils schwamm, wie mich der Zufall führte, und Wind und Flut trugen mich vorwärts. Ich ließ oft meine Beine nach unten sinken, doch ohne Grund zu finden; als ich aber fast erschöpft war und kaum noch weiter zu schwimmen vermochte, fühlte ich plötzlich Boden unter mir, und mittlerweile hatte sich auch der Sturm sehr gelegt. Die Neigung des Bodens war so gering, daß ich fast eine Meile durch Schlick und Schlamm zu waten hatte, ehe ich die Küste erreichte; es war nach meiner Schätzung etwa elf Uhr abends. Ich  konnte in der Dämmerung keine Spur von Häusern oder Einwohnern finden. Ich war außerordentlich müde; und infolge dieser Ermüdung hatte ich, zumal ich vor dem Scheitern des Schiffes noch etwa einen Viertelliter Wilthener Branntwein genossen hatte, großes Verlangen nach Schlaf. Ich legte mich auf dem kurzen und weichen Grase nieder und schlief dort besser, als ich mich je in meinem Leben geschlafen zu haben erinnere; mein Schlummer muß nach meiner Rechnung etwa sieben Stunden gedauert haben; denn als ich erwachte, war es gerade hell geworden.

Mir brummte der Schädel, es roch nach fauligem Tang und ein Schaf graste etwa drei Schritte neben mir. Ich blickte um mich und sah eine ganze Herde.  Ein Bock, zu erkennen an seinen Klöten, kam langsam auf mich zu. Ich sprang auf, gab Fersengeld und kletterte über einen Weidezaun, wobei ich eine gewischt bekam. Nun war ich wirklich wach. Ich wanderte auf einem piekfeinen Wirtschaftsweg der aufgehenden Sonne entgegen.

Ich hatte Hunger, mußte meine norwegischen Kronen als erstes in Deutschmark umtauschen oder mich hilfsweise bei einem kapitalistischen Ausbeuter als Tellerwäscher verdingen. Eine Wechselstube gab es in der nächsten Stadt nicht, am Marktplatz fand ich jedoch einen bombastisch großen Sparkassenklotz, übrigens das häßlichste Haus am Platz. Ein riesiges Eingangstor als Paukenschlag und drei langweilige Fensterbänder übereinander. So ähnlich hatte der Führer seine Neue Reichskanzlei skizziert und errichten lassen. Ich hatte erst mal einen schlagkräftigen Beweis für den revanchistischen und neonazistischen Charakter der BRD. Als ich das gestalterische Desaster ansah, fiel mir der Satz aus dem Grundsatzreferat von Erich Honecker ein: „Die vom imperialistischen System ausgehenden Krisenprozesse und Erschütterungen gefährden und hemmen den weltweiten ökonomischen und sozialen Fortschritt.“

Schwamm drüber, ich ging hinein, die Türe öffnete automatisch, was ich schon von den Wikingern kannte. „Seine Widersprüche und Krisenprozesse wirken als Stimulator für die Anstrengungen des Imperialismus ihm noch zur Verfügung stehende wissenschaftlich-technische Kraftreserven gegen weitere Fortschritte des revolutionären Weltprozesses zu mobilisieren“.  Aha, die Tür soll die Werktätigen in der BRD vom Klassenkampf ablenken. Billiges Getue, nicht viel dahinter.

Hinter einer schußsicheren Glasscheibe saß eine junge Frau, der ich mein Begehr nach Deutschmark eröffnete. Sie sah mich eine Sekunde zweifelnd wie einen Außerirdischen an, überlegte und griff zum Telefonhörer.  Nachdem sie aufgelegt hatte, blickte sie mich triumphierend an: „Exotische Währungen rückzutauschen kostet aber hohe Gebühren. Außerdem darf ich nur Scheine annehmen. Wollen sie das Geld nicht lieber für das SOS-Kinderdorf spenden? Hier rechts steht eine Sammelbox.“ Ich sah nach meiner Strandung, ungewaschen und unrasiert,  sicher nicht so aus, als hätte ich etwas zu verschenken. Der Genosse Generalsekretär hatte zum Geldwechseln im Monopolkapitalismus auf dem letzten Parteitag ausgeführt: „Heute sind außerordentlich labile währungspolitische Kräfteverhältnisse mit häufigen Schwankungen, Veränderungen von Kursrelationen und spontanen Währungsmanipulationen vorherrschend, was sich zum Beispiel im vorherrschenden Abwärtstrend der D-Mark manifestiert.“ Die Partei hatte wie immer recht und ich bekam eine Mindermenge D-Mark für meine bei humanitären Hilfslieferungen nach Norwegen hart erkämpften Kronen.

(Fortsetzungsroman)