Wenn Zwei das gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe
In diesem Beitrag bespreche ich die beiden jüngsten Bücher von Antje Hermenau Das große Egal und von Thilo Sarrazin Wunschdenken. Ich werde der Frage nachgehen, was der Inhalt beider Bücher ist, was die Autoren zum Schreiben getrieben hat, welche Methoden sie verwenden, um ihre Botschaften zu transportieren, auch ein wenig, wer sie eigentlich sind, um schließlich die Frage zu klären, welches der beiden Bücher ich zur Lektüre empfehle. Um mit Letzterem zu beginnen: Beide – es kommt ganz auf den Leser an.
Antje Hermenau: Das große Egal. Essay. Dresden, Edition Buchhaus Loschwitz, 2022, 109 Seiten, 17 €.
Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Warum Politik so häufig scheitert. Vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, München, LMV (Langen Müller Verlag), 2022, 511 Seiten, 20 €.
Beide Bücher sind schonungslose Beschreibungen unseres Staates und seiner politischen Klasse sowie von deren grotesken Fehlentscheidungen. Und schon kommt der erste Unterschied: Das wesentlich weniger umfangreiche Buch von Hermenau geht tiefer, nämlich über den Staat und dessen Politiker hinaus. Die Autorin spürt dem im Titel des Buches zum Ausdruck gebrachten Übelstand unserer Gesellschaft nach: Das große Egal – im Sinne der allgemein um sich greifenden Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem. Ich hatte zunächst, als ich den Titel zum ersten Mal zur Kenntnis nahm, den ganz und gar unrichtigen Eindruck, ihr, der Autorin sei alles egal, doch das Gegenteil ist richtig. Sie beschäftigt sich damit, das Grundübel, eben das große Egal, beim Namen zu nennen und darüber nachzusinnen, wie es zu überwinden sei.
Das Wunschdenken von Sarrazin enthält ebenso ein Missverständnis im Titel verborgen, denn der Autor beschreibt nicht aus seiner Sicht ein Wünsch-dir-was, sondern belegt anhand einer Unzahl von Beispielen, dass wir uns ein Narrenhaus voller politischer Entscheidungsträger leisten, die in ihren Köpfen ideologische Wünschel-Ruten installiert haben. Sarrazins Welt sieht bekanntlich anders aus. Es ist die Welt der kalten Vernunft und der Statistiken. Wenn man A zulässt, wird B passieren. Das wird ausführlich präsentiert, einschließlich der philosophischen
Grundpositionen und der volkswirtschaftlichen Grundlagen.
Beide Autoren greifen zur Illustration ihrer Texte in die Welt des Selbsterlebten zurück. Das ist zu begrüßen, denn es erleichtert das Verständnis ihrer Aussagen ungemein und zeigt, dass wir es nicht Vollblut-Theoretikern oder mit weltfremden Spinnern zu tun haben. Das ist zunächst
einmal beruhigend. Dennoch sind beide sehr unterschiedlich: Hermenau argumentiert aus der Sicht einer sachverständigen Politikerin, die Jahr und Tag bei den Grünen Spitzenpositionen auf Bundes- und sächsischer Landesebene innehatte, bevor sie in den Zehnerjahren den ganzen
Bettel hinwarf. Bei Sarrazin hingegen handelt es sich um den klassischen parteipolitisch hochgeschossenen politischen Beamten, auf Bundes- und auf Länderebene, bevor er 2010 aufgrund seiner Einwanderungskritik um Amt und Reputation gebracht wurde. Sarrazin weiß stets, wie man es hätte machen müssen, Hermenau fragt hingegen nach, wie man klar erkannte Fehler, wie die kuriose Energiepolitik, wieder quitt kriegen könnte. Das ist ein gravierender Unterschied. Sarrazins Bemerkungen haben stets den Zeigefinger des besser Informierten zur Hand, Hermenau operiert eher auf der Basis des gesunden Menschenverstandes, den sie benutzt, um eine leicht verständliche Botschaft zu formulieren. Damit ist eine wichtige Bemerkung zu den unterschiedlichen Zielgruppen der Bücher gefallen: Hermenau appelliert ans Volk, Sarrazin wendet sich an den Entscheider und an denjenigen, der komplexe Entscheidungen verstehen möchte.
Beide Autoren sind sich indessen einig, dass Deutschland sich in einer weitgehend selbstverschuldeten, bedrohlichen Schieflage befindet. Wenn man so argumentiert, darf der Leser fragen: Und wie nun weiter? Da erlebt man dann Überraschungen. Sarrazins Rezept: Mit einer Prise Sarrazin müsste es in einer funktionierenden Demokratie gehen. Hermenau argumentiert zweisträngig: (1) Der Einzelne muss zur Besinnung kommen und sich wieder selber kümmern, und (2) die politischen Parteien müssen sich der Realität anpassen.
Tja. Beide Autoren sind sich, so wie ich sie verstehe, auch darin einig, dass es ohne eine funktionierende Demokratie in Deutschland nicht mehr gehe. Das ist insofern nicht ohne Reiz, als die Details, die sie vortragen, durchaus den Verdacht erwecken, dass eine solche Demokratie in unserm Land einer Herrschaftsform gewichen ist, die man gemeinhin als Oligarchie bezeichnet – also einer Herrschaft durch eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich von der Bindung an das Volk längst verabschiedet haben. In den Worten von Hermenau: das Volk ist ihnen egal. Man mag nun darüber nachsinnen, wie es praktisch möglich sein soll, mit Mitteln der Demokratie diese Oligarchie zu beseitigen, jene Melange aus Parteifunktionären, Publizisten und Geldleuten. Mein Verdacht: freiwillig einlenken werden diese nicht.
Bei beiden Autoren fällt auch hier ein Unterschied ins Auge: Hermenau nennt die Politikfelder beim Namen, die mit dem Volkswillen nicht mehr einen Hauch gemeinsam haben, bei Sarrazin fallen hingegen kaum zu begreifende Fehlurteile ins Auge, so bei der Klimalüge, die er im Grundsatz für bare Münze nimmt, wenn er auch berechnet hat, dass Deutschland zu den sog. Klimazielen bereits aus Volumengründen nichts beisteuern kann. Aber das ist nichts als eine Ablenkung vom eigentlichen Thema. Gleiches gilt für seine Einschätzung der Trump-Jahre, von denen er ernsthaft annimmt, dass die USA dank Trumps Abwahl, die er nicht diskutiert, an einer Diktatur vorbeigeschrammt seien. Das sind schwer zu begreifende Sentenzen, die das ganze Sarrazin’sche Argumentationsgerüst heftig wackeln lassen.
So kann ich mir folgende Schlussbemerkung kaum verkneifen: Wenn mich vor dem Lesen der hier besprochenen Bücher einer aus Spaß gefragt hätte, wem ich mehr Fehlurteil zugetraut hätte, wäre ich dank meines soliden Vorurteils, das ich gegenüber Politikern unseres Landes
hege, bereit gewesen, auf Hermenau zu tippen. Nach der Lektüre beider Bücher weiß ich, es ist umgekehrt, denn ihre Schilderung ist knapp, klar und zutreffend. Ich füge hinzu: dies ist meine persönliche Ansicht. Sie hat sich nach gründlicher Lektüre gebildet, von der ich sehr profitiert
habe – bei beiden Büchern, die ich deshalb empfehlen kann.
©Helmut Roewer, Mai 2022
> Sarrazin wendet sich an den Entscheider
Ich denke hier liegt der Punkt, warum die besprochenen Unterschiede der Autoren letztlich irrelevant sind. Fuer das Folgende – ich moechte im angesprochenen politischen Punkt keine „Seiten-“ oder aehnliche Diskussion fuehren. Fakt ist m.E. undiskutierbar, dass Deutschland und die meisten westeuropaeischen Laender keine selbststaendigen Staaten sind. Es sind nahezu komplette Vasallen der USA. Hier gibt es einfach keine Entscheider, die sitzen woanders.
Und bei allem Gejammer ueber Figuren wie Scholz, Gruene, was auch immer: Nehmen wir mal an, wir haetten einen Kanzler mit Rueckgrat, der sich meinetwegen konsequent draussen halten will. Der macht damit etwas, was die USA nicht wollen. Und da mag dann z.B. ganz ploetzlich irgendein Vorfall auf der eher eindeutigen russlandschaedigenden Linie auftauchen, bei dem von den Russen ein Toter mit BND-Ausweis gefunden wird (plakativ, aber ja nun wie bei 9/11 oder am Breitscheidplatz zu sehen, durchaus real vorgefallen), irgendein Gleiwitz . Was macht der Russe dann? Wir wissen es nicht, wir wissen aber, dass wir kaum etwas dagen tun koennen, auch nicht bei hypothetischer kompletter Einigkeit von politischer Kaste und Bevoelkerung in der Bewertung oder erst einmal auch nur Anerkennung der hilflosen Position fehlender Staerke dieses Landes. Mitspielen kann man nur mit eigenen grossen Spielzeugen. Und da waeren wir wieder dabei, dass man dazu heutzutage eine Atommacht sein muss.
Dem ist alles nicht so und deswegen ist es so wie es ist. Abarbeitung am Rest ist muessig und auch schon bis zum Erbrechen getan worden.
Ganz so scheint es im Hintergrund nicht zu sein. Ein Spiel wird langweilig, wenn immer derselbe gewinnt, ob das nun weiland Michael Schumacher, der Dauermeister Bayern München oder die USA sind.
Also rebellieren andere Spieler und fangen an, Figuren umzuschmeissen, etwa BLM, der Gender-/Trans-/Identitätsquatsch, die PC – alles Dinge, die letzten Endes auf abgedrehte deutsche Philosophen/Soziologen zurückgehen und im gesamten angelsächsischen Raum ihr Zerstörungswerk schon weiter vorangetrieben haben als hier.
Die „5 Eyes“ werden sich von diesem Herzwurm vermutlich nicht mehr erholen und langsam absterben; es fragt sich nur, ob Russland den richtigen Zeitpunkt gewählt hat. China wartet sichtbar noch ab, bevor es das amerikanisierte Taiwan inkasso zieht. Japan, wegen seiner ehrlosen Unterwerfung 1945 von den übrigen Asiaten als Verräter betrachtet, fängt auch an sich zu rühren.
Die USA bzw. deren „Demokratie“ sind nicht für die Ewigkeit gemacht.
> Die USA bzw. deren „Demokratie“ sind nicht für die Ewigkeit gemacht.
Sehe ich doch auch so. Im – eben wohl noch dafuer leider lang genug dauernden -Moment ist fuer mich aber wichtiger, ueberhaupt in die Phase zu kommen, in der niemand, auch kein noch einmal zucken wollender Ami, irgendwelche Hebel umlegen kann.
Ich war auch immer ein Fan der These, daß nur Atommächte souverän sind. Aber das Berliner Problem ist es, großmäulig Politik wie eine Atommacht zu machen und nicht mal einen fahrbereiten Panzer zu haben. Man kann sich als Nichtsouveräner auch normal verhalten und langfristig eigene Interessen verfolgen.
Die verbal lauten ueblichen Uebersteigerungen aendern doch nichts daran, wie limitiert alle wesentlichen Optionen sind, die Berlin ueberhaupt inhaltlich hat. Und nur deren konkrete Auswahl durch Deutschland interessieren sowohl die Russen als auch die Amerikaner. Und da sitzen wir halt ‚between rock and a hard place‘ wie es englisch so schoen heisst.
Dieser Trump-Hass (anders kann man es kaum nennen), ist für mich das Faszinierendste. Momentan wird er vom Putin-Hass ersetzt, irgendwann war es mal Höcke und in Zukunft kann es jeder andere sein. Meiner Wahrnehmung nach sind es eher Wessis (ich sag das als Wessi), die die ganz große Lüge glauben, und in dieser Lügen-Situation nicht mehr weiterkommen. Sie nicht in der Lage, das aufgrund von Erfahrungen zu korrigieren, es ist vielleicht ein Bedürfnis, das Böse dingfest zu machen, damit die Welt wieder Ordnung hat.