Die Legitimation der Macht
Ein Blick in den Rückspiegel zeigt uns die Problematik von Multikulti am Beispiel von untergegangenen Vielvölkerstaaten. Eins dieser sogenannten Völkergefängnisse war das alte Österreich vor 1918, welches eine konstitutionelle Monarchie mit einem im österreichischen Reichsteil regen Parlamentsbetrieb war. In Österreich gab es seit 1907 allgemeines und gleiches Männerwahlrecht für alle Völker. Das hinderte nicht den Nationenstreit, sondern fachte ihn sogar weiter an.
In Österreich wohnten um 1900 9,2 Millionen Deutsche, 6 Millionen Tschechen, 4,2 Millionen Polen, 3,4 Millionen Ukrainer, 1 Millionen Slowenen, 0,7 Millionen Italiener und 1 Million sonstige Völker.
Die Tschechen und Slowenen wollten erklärtermaßen unbedingt raus aus dem Reich, Polen und Ukrainer waren nur deshalb überzeugte Staatsbürger, weil sie nicht zu Rußland gehören wollten. Eine Parlamentsmehrheit gab es in der Regel aus Deutschen und Polen, gelegentlich stützten auch die ukrainischen und Italienischen Abgeordneten die Regierung.
Uns wird immer eingebleut, daß Europa ohne den Euro scheitert. Nun hatte Österreich aber eine gemeinsam Währung. Am Fehlen eines gemeinsamen Zahlungsmittels hat der Zusammenbruch Österreichs 1918 nicht gelegen. Auch waren die Österreichischen Kronländer in einer Zollunion verbunden. Es war eine Art EU. An mangelnder Bildung lag es auch nicht, daß sich Tschechen und Deutsche nicht leiden mochten. Gerade in Böhmen war die Analphabetenrate am niedrigsten, geringer als beispielsweise in der deutschen Steiermark. Auch hatte man eine gemeinsame Armee und ein funktionierendes Justizwesen, welches gegenüber vielen Nachbarländern vorbildlich organisiert war. Auch der Wohlstand war in Österreich größer, als bei den Nachbarn Rußland, Serbien, Italien oder Rumänien. Es gab keinen Terrorismus der bosnischen Moslems, es gab keine österreichische PEGIDA, der Kaiser schmeichelte allen Völkern. Es herrschte Religionsfreiheit.
Alle Nichtdeutschen lauerten jedoch auf ihre Stunde, um Österreich zu verlassen. Die kam am Ende des Weltkriegs mit dem Zusammenbruch Rußlands. Zuerst schieden die Polen aus dem Reich aus, dann alle anderen Völker. Die einzigen, die nicht rauswollten waren – Ironie der Geschichte – die moslemischen Bosnier, denn sie hatten berechtigte Angst vor den Serben.
Es gab in Österreich keine gemeinsame Sprache, Religion und Kultur. Nur gemeinsame äußere Bedrohungen und einen gemeinsamen Kaiser. Österreich war als Bollwerk gegen die türkische und russische Bedrohung aus den jeweils rückeroberten Territorien entstanden. Solange die Türkei mächtig war, gab es kein Interesse an irgendeiner Eigenstaatlichkeit kleinerer Völkerschaften auf dem Balkan. Alle wollten den Schutz vor dem unangenehmen Nachbarn. Nur gemeinsam war man stark. 1878 wurden Rumänien, Serbien, Montenegro und Bulgarien von der Türkei unabhängig und das österreichisch-ungarische Finanzministerium übernahm die Verwaltung Bosniens. Plötzlich grenzte Österreich nur noch auf wenigen Kilometern an die Türkei. Die unmittelbare Bedrohungssituation war nicht mehr vorhanden, auch weil die Türkei nach zahlreichen Kriegen sehr geschwächt war. Eine dritte Belagerung Wiens und die erneute Verwüstung des Balkans schienen ausgeschlossen. In diesem Augenblick des nachlassenden äußeren Drucks begann die Legitimationskrise Österreichs und nationalistische Strömungen entwickelten sich langsam. Als 1918 noch der Angstgegner der Polen und Ukrainer, nämlich Rußland auch kollabierte, war es mit der Einheit Österreichs augenblicklich vorbei.
Österreich war ein Zweckbündnis gegen zwei finstere Bedrohungen. Als diese entfallen waren, löste es sich auf.
Nun muß man sich fragen, ob die EU auch so ein Zweckbündnis ist. Als der Ostblock noch existierte war das zweifelsfrei so. Aber nach dem Zerfall des Warschauer Pakts und der Sowjetunion ist das Bild differenziert: Für die Grenzstaaten des Ostens – Polen, Rumänien, Litauen, Finnland, Lettland und Estland – ist die EU neben der NATO nach wie vor Mittel zum Zweck der Sicherheit. Auch für Zypern und Malta trifft das zu. Aber schon in der zweiten Reihe, in Ungarn, Deutschland, der Slowakei und Tschechien wird eine äußere Bedrohung nicht mehr gefühlt.
Italien, Frankreich, Spanien, Belgien und Großbritannien sind mit nationalen und religiösen Kämpfen im Innern beschäftigt und damit mit sich selbst. Sie blicken kaum noch über den Tellerrand ihrer Grenzen. Es etabliert sich überall eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinsamen im Europäischen Haus. Um die Fundamente, die Außenwände und das Dach kümmert sich niemand mehr. Auch die Türen werden nicht mehr gesichert. Es geht nur noch um die Höhe der Mietzahlungen, Verschiebungen und Neubauten der Innenwände und die Sauberkeit der Fußabtreter vor den Wohnungstüren. Auch der Euro lenkt die Aufmerksamkeit vom gemeinsamen Interesse weg. Er ist der große Spaltpilz.
In einigen Ostländern gibt es noch überzeugte Europäer. Im ganzen Westen hat die Rechtfertigungskrise der EU eingesetzt. Syriza, Podemos, die Nationale Front, die Lega Nord, die Bewegung der fünf Sterne, die AfD und die UKIP von Nigel Farage stellen die Brüsseler Institutionen in Frage. Wenn der Euro nicht bald aufgegeben wird, droht die finale Krise der EU.
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