Von Gänsen und Frauen
Es war der Ruf einer sterbenden Gans. Nicht etwa, dass ich es gewohnt bin, Gänse zu töten. Das nun wieder nicht, sondern der Zusammenhang mit der diesjährigen Weihnachtsgeschichte ist ein Umweg: Ich schreite ab und an auf den Ilmwiesen rüstig aus, wo man noch Gänsen begegnet, zweibeinig und mit Flügeln. Mit denen unterhalte ich mich gerne. Mitunter tauschen wir Festtagsgrüße aus. Da wurde neulich ein Geschäft draus, denn die Gänse hatten beschlossen, ein Manifest in eigener Sache herauszugeben: 50 Tausend Jahre dumme Gans. Die Geschichte eines Irrtums.
Wir kamen wegen dieses Vorhabens ins Plaudern, und es ergab sich, dass die Gänse die Idee entwickelt hatten, einen verständigen Schriftsteller – also mich – zu mobilisieren, der, wie sie sagten, keine blutigen Hände hat. Diese Voraussetzung trifft auf mich zu. Ich verschwieg allerdings meinen neuen Geschäftspartnerinnen, dass ich schon mehrfach Mücken erschlagen habe. Einige davon hinterließen im Urlaubsquartier hässliche rote Flecke an den Wänden. Kaum waren wir handelseins geworden – man versprach mir eine fette Weihnachtspute – als mich auch schon die ersten Schwierigkeiten angrinsten, sobald ich das gänsische Exposé las. Es sei, so die Verfasserinnen, in Deutschland Allgemeingut, dass der Ausdruck „du dumme Gans“ sich nicht auf Gänse, sondern auf Menschenfrauen beziehe. Umstritten sei lediglich, ob der Begriff Frau biologisch gemeint sei, was allerdings 93 Prozent aller Wissenschaftlerinnen als
biologistisch und daher veraltet ablehnen würden. Unbeschadet dieses ihnen weniger wichtig erscheinenden wissenschaftlichen Details verlangten die Auftraggeberinnen, dass ich den auch der letzten Gans einleuchtenden Nachweis für ihre Frau-Gans-Theorie erbringen möge.
Die Probleme zeigten sich nur zu bald. Mir wurde nämlich klar, dass es ohne plastische Beispiele nicht gehen würde. Anfangs hatte ich mich noch drum herum zu drücken versucht, indem ich einige etwas gewagte Beispiele aus der Kirchengeschichte in Erwägung zog. Zum Beispiel dieses hier: Als der notorische Noah in seinem Hausboot während des Ahrhochwassers unterwegs war und von allen Tieren ein Paar an Bord hatte, weil es der Chef so wollte, dass nämlich einige Streber in der Rolle von Kreuzfahrt-Passagieren seinen Wutausbruch überleben sollten, schickte er, Noah, da die Arche keine Fenster hatte, nach einigen Wochen eine Gans aus, die klären sollte, ob die Wasser sich in Richtung Rhein verlaufen hätten. Kaum war die Gans fort, blieb sie auch fort, denn sie hatte entdeckt, dass in den wieder trockengewordenen Rheinwiesen ohne die dort ehemals wohnhaften Füchse sehr gut zu leben sei.
Nun wird man kaum sagen können, dass dies ein probates Beispiel für eine dumme Gans war. Ganz im Gegenteil. Das fiel auch den tonangebenden Gänsen auf, die ein schreckliches Spektakel darob veranstalteten und mich zungenflink wissen ließen, dass meine Weihnachtspute in unendliche Ferne gerückt sei, wenn ich jetzt nicht, so wie vereinbart, liefere. Bestürzt ging ich meines Weges und sodann nach Hause.
***
Kaum war die heimische Haustür durchschritten, hörte ich jenes grässliche Geschrei, vom dem im ersten Satz meiner Ausführungen bereits die Rede war. Es kam aus der Wohnung meiner Nachbarin, Frau Neumann. Was tun? Ich dränge mich nicht gerne auf, vor allem bei Frau Neumann nicht, die es irgendwie fertig bringt, sich allweihnachtlich bei mir in Erinnerung zu rufen. Solche Gelegenheiten, meine Dauerleser – es sind zwei oder drei – werden sich erinnern, sind selten zu meinen Gunsten ausgegangen. Auch in diesem speziellen Fall bahnte sich nichts Gutes an. So dachte ich zunächst, wenn auch unzutreffend.
Mit der geboten Vorsicht pochte ich an die Wohnungstür, was die Gans-im-Endstadium-Geräusche nur noch schauerlicher werden ließ. Dann öffnete sich, nunmehr auf mein energischer werdendes Begehr, endlich die Tür. Der Anblick, den ich nicht übersehen konnte, war dieser hier:
Bevor ich ins Detail gehe, möchte ich vorausschicken, dass Frau Neumann recht stattlich konstruiert ist, und ich sie bereits in jeder Variante von Bekleidung zu sehen gekriegt habe, einschließlich einer solchen, die nur aus zwei ruderbootgroßen hochhackigen grünen Schuhen bestand. Doch die Präsentation von heute war mir neu. Sie trug ein knallenges apricot-farbenes Trikot, das den wogenden Busen kaum in Zaum zu halten vermochte, dazu zwei (oder waren es drei?) medizinische Masken im Gesicht, was nicht weiter störte, und schrie dazu in grellem Diskant. Sie riss ihre einst schlanken Beine empor und machte hierbei unversehens Drehungen, die mich seitwärts trafen und gegen den Türrahmen pressten. Sie hingegen blieb infolge des Gesetzes von großen und kleinen Massen wie angegossen stehen.
Warum schreien Sie so? fragte ich, nachdem ich wieder zu Luft gekommen war. Waaas? brüllte sie mich an. Jetzt erst bemerkte ich, dass sie nicht nur Masken, sondern auch topfdeckelgroße Kopfhörer trug. Ich tippe mir selbst auf die Ohren. Sie verstand , nahm die Hörer runter und sagte: Was? Da staunen Sie! – Ich brauchte nichts zu antworten, es war mir offenbar anzusehen.
Ich will den Leser nicht mit einer vorweihnachtlich ausgeschmückten Idylle langweilen, denn Fakt ist, wie man in Thüringen so sagt, dass Frau Neumann der Tanzgruppe Frauen gegen den Kipp-Punkt beigetreten war, deren Teilnehmerinnen online und 24 Stunden am Tag gegen die Pol-Schmelze und den Klimatod der Pinguine demonstrierten. Es ging darum, wie Frau Neumann mich wissen ließ, die klimaflüchtenden Pinguine mit der Lufthansa abzuholen, ihnen während des Fluges ein Impfangebot zu machen, und sie sodann in rettende deutsche Kühlhäuser zu verbringen.
Die Kipp-Punkt-Kampagne hatte sich sehr erfolgversprechend angelassen. Eine Luftbrücke stand bereits, denn die deutsche Außenkommissarin hatte die Schirmherrschaft übernommen und ein Grußwort beigesteuert, dessen Beginn ich hier – weil ich mich nicht gerne mit fremden Federn, und seien dies Gänsefedern, schmücke – im Original wiedergebe:
„The earth heats her on and we must so away what do. That follows out the peoples right out them I from come.“(1)
Dem konnte ich nur erfreut – und offenbar zum Erstaunen von Frau Neumann – zustimmen. Ich riss ihr das Kipp-Punkt-Manifest aus den Händen und begab mich damit stehenden Fußes zurück in die Ilmwiesen zu meinen Auftraggeberinnen.
Nachdem ich den Gänsen, die bekanntlich mitunter etwas schwer von Begriff sind, das Manifest vorgelesen und ihnen mit Hilfe des Google-Übersetzers erläutert hatte, dass es kaum ein besseres lebendes menschliches Beispiel für eine dumme Gans als unsere Außenkommissarin gibt, applaudierten diejenigen von ihnen, die noch am Leben waren, begeistert mit den Flügelspitzen. Ich erhielt die versprochene Pute, und ein lieblicher Duft durchzieht meine Wohnung am heutigen ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2021.
©Helmut Roewer, Dezember 2021