Das Stockholm-Syndrom bei der Bewirtung
Der verwunderte Medienkonsument reibt sich oft die Augen, sieht er sich Videos der Auftritte des Führers in der Öffentlichkeit an, oder liest er die Zustimmungswerte zu den „Maßnahmen“ gegen Kórona. Es gab und gibt regelrechte Pflaumen, die große Lust an der Hingabe an die sogenannte „gute Sache“ verspüren, die sich daran freuen, daß sie mehr oder daß sie trendig sind.
Dieses Phänomen erkennt man seit einigen Jahren auch in der Gastronomie. Gestern schmökerte meine Freundin im Tripadvisor und amüsierte sich über die Bewertungen einer angesagten Erfurter Gartengaststätte. Selten gibt es einen derartig großen Bruch zwischen euphorischer Begeisterung und völligem Verriß. Etwa 60 % der Besucher schrieben regelrechte Elogen, knapp 30 % waren total unzufrieden.
Folgen wir der ungereimten Lyrik des Kochs:
„Abseits von Zeitzwang und Krawattencode wird hier eine erfrischende Alternative zum klassischen Restaurant geboten: Genuss mit unaufgeregtem Service. Leckeres Essen und gute Getränke, serviert mit einer sanften Prise Nostalgie. Fast wie Zuhause. Das Genuss-Prinzip ist simpel und gut: Von Thüringen bis in die See – immer mit Bezug zum Hersteller. Die Zutaten sind verwurzelt mit dem schönen Thüringer Land, Deutschland und der Ferne! Die Gerichte werden stets frisch zubereitet, um Ihnen bestmögliche Qualität bieten zu können. Lassen Sie sich inspirieren! Der Service ist schlicht und einfach: Generell bietet die XXXX einen Service, der klassischen Norm und innovativen Self-Service vereint. Das heisst für Dich: Entspannter Service, legere Atmosphäre und ein relaxtes Miteinander. Einige Einzelbestandteile der Gerichte werden in Schüsseln serviert und jeder Gast schöpft selbst.“
Einige Kritikaster stellen diese erfrischende Innovation in Frage:
Bei der Terminbestätigung kamen dann erste Merkwürdigkeiten zum Vorschein. Man wird einen Tag vor dem Termin von der XXXX angerufen und wenn man nicht ans Telefon geht, wird der Tisch anderweitig vergeben. Augenbrauenrunzler; nein, das hat nichts zu bedeuten, die Leute haben sicher schlechte Erfahrungen gemacht. Wir nähern uns der Örtlichkeit und lesen auf einer Kreidetafel zur Begrüßung, daß Meckerziegen und schlecht gelaunte Gäste bitte fern bleiben mögen. Kurz an uns runtergeschaut und gute Laune festgestellt. Die persönliche Begrüßung dann sehr zugewandt und persönlich, man bekommt sofort ein oder auch zwei Aperos angeboten; gerne, denn es war warm. Und wir waren zu viert und hatten ein Menü für 45,- € bestellt, das ließ sich dann schon mal gut an.
Der Herr des Hauses geleitete dann freundlich und per Du durch den Abend, es wurde eine recht fade Spargelcremesuppe gereicht, die vordem mit dem ganz einzigartigen Heugeschmack angepriesen wurde. Gute, aber nicht ganz neue Geschichte, an die Kindheitserinnerungen der Gäste zu rühren. Dann wurde ein Entrecote serviert mit Kartoffelstampf, das Fleisch war leider so zäh, daß man … und das bei veritabler Kauleiste; enttäuschend. Aber es blieb die Hoffnung auf das geheimnisvoll angekündigte Dessert: Eine kleine Kugel Schokoeis mit Minzblättchen und Erdbeeren. Chapeau ! Alle Wetter. Das war mal was.
Am Ende wurde für vier Personen 360 Euro berappt, allein der Apero schlug mit 70,- € zu Buche. Kopfschüttelnd gingen wir.
Was bleibt ? Der Eindruck von Massenabfertigung bei wirklich schaler Essensqualität. Man hat weder die Wahl mit einer Getränke- oder Speisekarte und weiß demnach zu keinem Zeitpunkt, was etwas kostet. Und bekommt am Ende die verträumte Rechnung.
Nee, Leute, das hätten wir zu Hause schmackhafter hinbekommen. Ich kann das nur Leuten empfehlen, die aufs Geld aber nun auch gar nicht achten müssen oder die den Abend nach der Höhe der Rechnung bewerten.
Ein anderer „Meckerer“
Am 23.10.2020 war es nun soweit, wir sind zu Viert ins Lokal aufgebrochen, waren auch pünktlich da und standen dann erstmal eine geraume Zeit in der Warteschlange vor der Türe. Nach ca. 10 Minuten, noch vor der Türe wurde uns ein Glas Champagner kredenzt, welches wir gerne angenommen haben (irrigerweise der Meinung, es handelt sich um ein Begrüßungsglas, wurde dann mit 14,– € berechnet).
Zu Beginn des Abends erhält man danach eine umfassende Einweisung in die Gepflogenheiten im Lokal. Für mich hat das Ganze den Charme einer Unterweisung und die Vorbeugung auf die folgenden Unverschämtheites des Wirtes XXXX. Auch die ständigen Belehrungen und Verweise auf die AGB gingen mir ganz schön auf die Nerven, die AGBs haben wir angeblich mit der Reservierung akzeptiert. Das erste Lokal in meiner Geschichte, dass sich bereits vor dem Besuch mit AGB absichern muss. Im Nachhinein verstehe ich weshalb. (…)
Unser Resümee: Das Essen ist gut, für den Service und den Umgang mit Gästen gibt es keinen Begriff, unteriridsch bringt es nicht ansatzweise auf den Punkt. Zusammengefasst: Ein Teller, ein Glas, ein Besteck und Eigenentnahme des Essens aus einem Topf für alle, ein unfähiger Wirt in einem Trödelladen als Lokal, wo dann noch der Köter der Wirtin den Kopf auf den Tisch legt!
Das waren zwei „Querdenker“, einer davon sogar mit Hundephobie, nun der Mainstream:
Hier trifft klassische Küche auf moderne Elemente und umweltschonende Feinheiten. Nicht nur dem Zeitgeist entsprechend sondern einfach genial. Die Produkte stehen im Vordergrund und sind mit perfektem Handwerk zubereitet. Das Programm ist authentisch und nachhaltig. Seit dem ersten Besuch ist das unser neues Lieblingsrestaurant.
Wir sind ein tolles Team und ja, ich gehöre dazu. Hier zu arbeiten ist wirklich toll. Wunderbare Gäste, viel Trinkgeld und ein toller Job. Vielen Dank.
…bevor man dahin geht. Nichts für Spießer oder Leute, die gefrustet sind. Hier wird Qualität und Inhalt groß geschrieben. Wer auf Türmchen oder reine Optik statt Klasse steht, sollte lieber woanders hin gehen. Man schmeckt die Liebe zum Detail und die rigorose Achtung auf inhaltlich, nachhaltig, moderne Werte.
Wir hatten uns sehr auf den Abend in der XXXX gefreut und wurden nicht enttäuscht. Nach einem sehr netten Empfang durch den Gastgeber XXXX nahmen wir im Garten Platz und wurden mit vielen wunderbaren und kreativen Gängen verwöhnt. Sowohl die alkoholfreie- als auch die Weinbegleitung fanden wir sehr stimmig zum Essen, ich habe außerdem einen neuen deutschen Lieblingsrotwein entdeckt. Der Service war aufmerksam und entspannt, die Zeit verging (leider!) wie im Flug. Den Gerichten von XXXX mit regionalen Zutaten merkt man an, dass sie mit Liebe und handwerklicher Perfektion zubereitet sind. Mir haben besonders das „Thüringische Cevice“ (meine Wortwahl) und der Pilzeintopf (Umami-Explosion) gefallen, für meine Gattin war die Ente der Favorit und die Kinder werden Jahre später noch von der Polenta schwärmen. Das Dessert (auch ein Highlight) wurde dann nach einem kurzen Regenschauer drinnen im schön eingerichteten Gastraum serviert und XXXX kam noch zu einem kurzen Plausch an den Tisch.
Rundum ein ganz tolles Erlebnis, Sterneküche in sehr lässiger Atmosphäre. Haben wir in dieser Form in Deutschland noch nicht erlebt.
Der ganze Zirkus erinnert an die Russenzeit: Angesagte Wirtschaften, wie zum Beispiel „das Stockinger“ in der Schönhauser Allee machten viel Ruß um ihr Geschäft, man mußte anstehen, wurde platziert, das Topgericht war der Goldbroiler, trotzdem war es immer gerammelt voll. Ich sehe als Psychologe die praktische Anwendung des Stockholm-Syndroms durch die Wirte: Leute, die quasi gekidnapt und mißhandelt werden, solidarisieren sich mit ihren Peinigern. Das Opfer verzeiht dem Täter, bzw. sympathisiert sogar mit ihm und seinen Zumutungen. Sympathie für die Wirtsleute wirkt als Schutzmechanismus besonders nach Empfang der Rechnung: Es ensteht ein Kontrollverlust über das eigene Leben und Zuneigung zu den Tätern als letzter Ausweg vor der Wut über den verlorenen Groschen. Zu den Ursachen zählt eine komplexe Wahrnehmungsstörung, die von den Wirten kunstvoll herbeigeführt wird: Mit Anstehen vor dem Tor, Duzen, AGBs, Anstehen bei der Bezahlung.
Ich sehe angesichts von beginnender Mangelbewirtschaftung viel Potential für die Bewirtung von oben herab. In Mechelroda gab es drei Gastwirtschaften. Zwei haben für immer geschlossen, eine wird nach Kórona wahrscheinlich wieder aufsperren. Wenn das flächendeckend so ist, sollte man wieder selber kochen. Ich habe die Zeit des Stubenarrestes genutzt, meine Quali im Kochen verbessert und darüber hinaus noch sieben Kilo abgenommen. Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden kann man etwas bauen, so der Geh. Rath v. Goethe.
Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „In flachen Schuhen kann ich mich nicht konzentrieren.“ -Victoria Beckham
Danke Herr Prabel, endlich weiss ich, was das ist (hört man ja immer häufiger): „rigorose Achtung auf inhaltlich, nachhaltig, moderne Werte.“ – mein Geld in der Tasche von linksgrünen Mobstern.
Schade, dass das auch in Thüringen auswuchert; hier im Südwesten ist man das seit vielen Jahren gewohnt.
786 € für vier Personen? Haben wir schon galoppierende Inflation?
Ach, es gibt auch Lokale (eher in Berlin als Erfurt; kein Puff, Eßlokal), da kann man für ein Essen für zwei Personen auch 1.000+ ausgeben.
Ich habe das Lokal gefunden! Sollte ich mal nach EF kommen, gehe ich vorbei und gucke, ob Herr Rameljow und paar grüne Antifanten grad Steuergeld verprassen. Gründungsjahr 1931 deutet ja schon auf Krisengewinnler hin.
Eher unwahrscheinlich, daß sie die dort antreffen. Das ist fast ausschließlich ein Touristenlokal, zudem für Erfurt recht gesalzen im Preis und drittens praktisch ohne Möglichkeit für spontane Besuche.
Ein angeblich schwärmend schwelgender Gast, der von „meiner Gattin“ schreibt, ist mir Empfehlung genug. Hätte meinerseits eine Empfehlung für diesen Neureichen: Benutzen Sie das Wort Gemahlsgattin.
Der Gegenentwurf ist tatsächlich. Selber Kochen und Leute dazu einladen. Ob es den Gästen bei mir schmeckt, sehe ich daran, ob was übrig geblieben ist, und in extremen Fällen, ob einer einen Jogurt-Henkelmann zum Mitnehmen des Restes erbittet. Schön ist stets, wenn die dazu gehörigen Frauen Entrüstung heucheln.
Fröhliche Restweihnachten dem Blockisten (?dem Blockierer?).
Die Gatten und Gattinnen dinieren meist in der Plüschnische und sind auch nur Touristen.
„sollte man wieder selber kochen“ Kann ich nur bestätigen: jahreszeitlich und regional geprägt Hausmannskost – die in- und ausländischen Gäste sind zufrieden und es ist nebenbei sogar preiswert. Gute Wünsche an den Hausherrn, alle Leser und Schreiber!
An die besagte, mit vielen Vorschußlorbeeren gerühmte Lokalität haben Bekannte auch eine etwas skurrile Erinnerung: Zum abschluß eines Besuchs zu sechst und verschiedenen Speisen, bei dem auch voneinander gekostet wurde, erhielten Sie den gewürzten Bon mit folgender Aufschrift: „Bitte beehren Sie uns nicht wieder.“
Auf die Bemrkung an den Kassierer, dass es sich hierbei sicher um einen Fehler handelt, erhielten sie zur Antwort (sinngemäß), dass es in besagtem Etablissement nicht erwünscht ist, von fremden Tellern zu essen.
Erster und letzter Besuch unserer Bekannten bei der Dame.
Hihi, das Lokal kenne ich. Ich wünsche Ihnen aber nichts Böses, auch wenn sie etwas nachgelassen haben. Sie hatten mal wirklich gute Weine und exzeptionelle Schnäpse, und das Essen war auch recht gut. Das Dessert war allerdings schon immer kläglich. Ansonsten, das Konzept ist so etwas studentenkommunenmäßig, gleichzeitig bei ziemlichem Anspruch an den Geldbeutel, eine sonderbare Mischung.
Ich denke, für diese Art Gastronomie wäre das Wort „Promilokal“ angemessen. Die leben von der Prominenz des Wirts oder der Gäste (in dem von mir erwähnten Fall mit 1.000 EUR für zwei), und das Essen ist da nur eine Zutat unter anderen. Wenn man gut essen gehen will, muß man eher unscheinbare Gäßchen aufsuchen, wo sich die Leute treffen, die wissen, was gut ist.
Promilokal mit Hygieneproblemen und -auflagen (welche die sternekochende oder ehemals sternekochende Besitzerin angeblich finanziell überforderten, hä?) – das passt doch zu ungewaschenen westimportierten Altlinken.
Eine Verschwörung der Stadtverwaltung soll es noch dazu geben?
Da scheint ein veritabler Dachschaden vorzuliegen, schade um die offenbar schöne Location.
Eine solche Bude zu sanieren kostet gleich viel wie neu bauen, und da sie nicht geerbt haben und vielleicht auch keinen Kredit aufgenommen, und man mit Gastronomie nicht reich wird, kann das schon sein, daß es da öfters mal klemmt.