Vor dem Kassensturz in Erfurt
Der Freistaat Thüringen hat aktuell einen strukturellen Finanzierungssaldo im Finanzjahr von + 461 Millionen €. Das liest sich zunächst recht positiv, ist aber nicht ganz so gut. Der Solidarpakt II läuft nämlich 2019 aus und damit entfallen dann Bundesergänzungszuweisungen, die 2013 für Thüringen immerhin 1,34 Mrd. € ausmachten. Wenn man vom derzeitigen Haushaltsüberschuß die Ergänzungszuweisung abzieht verbleibt ein Defizit von etwa 880 Millionen €. Das muß bis 2019 eigentlich auf Null verringert werden, weil dann auch noch die Schuldenbremse greifen soll.
Und es gibt eine zweite unschöne Wahrheit beim Kassensturz durch die neue Landesregierung. 2013 und 2014 hatten etwa 300 thüringische Gemeinden keinen genehmigten Haushalt. Sie haben seit geraumer Zeit Verbindlichkeiten im dreistelligen Millionenbereich angehäuft, vor allem gegenüber den Landkreisen. Bei etwa 70 % dieser Gemeinden sind die Defizite durch die Erfüllung von Pflichtaufgaben entstanden, besonders für Personalkosten der Kindergärten. In nur zwei Jahren sind bis zu 1.000 € Schulden pro Einwohner dafür aufgelaufen. Die restlichen Gemeinden haben sich verspekuliert, zum Beispiel die Stadt Gera.
Gera hatte ein kreditfinanziertes Kraftwerk gebaut und dessen Geschäftsmodell ist in der Energiewende durch das EEG-Gesetz mit vorrangiger Einspeisung von Flatterstrom zusammengebrochen. Zusätzlich hat die rot regierte Stadt jahrelang Eigenkapital der Stadtwerke zur Haushaltspflege entnommen. Nun soll die Stadt durch die Landesregierung mit 60 Millionen € „gerettet“ werden, so das Versprechen von Landeschef Ramelow.
Nicht nur Gera muß saniert werden, sondern die aufgelaufenen Defizite der zahlreichen kleinen Gemeinden müssen irgendwie aufgefangen werden. Die Personalkosten der Kindergärten konnten von der alten Landesregierung entgegen den Versprechungen vor der Verabschiedung des Kindergartengesetzes im Jahr 2004 nicht bezahlt werden, und nun soll laut Koalitionsvertrag auch noch ein kostenloses Kindergartenjahr beschlossen werden. Vor dem Kindergartengesetz war den Gemeinden 2003 versprochen worden, daß die Personalkosten dieser Einrichtungen vom Land getragen werden. Bis Ende 2012 wurde das vom Freistaat auch eigehalten. Ab Januar 2013 erfolgte die Umsetzung mit einem geänderten Finanzausgleichsgesetz technisch extrem dilettantisch, so daß viele Gemeinden ganz oder teilweise auf den enormen Kosten sitzenblieben.
Die Wahlniederlage der bisherigen Regierungsparteien CDU und SPD bei der im Herbst abgehaltenen Landtagswahl fiel nicht überraschend vom Himmel, sondern ist nicht zuletzt das Ergebnis der dilettantischen Finanzpolitik seit Anfang 2013. Insbesondere die Kindergartengebühren waren durch Auflagen der Finanzverwaltung kurz vor der Wahl geradezu explodiert. So ködert man keine Wähler.
Jede neue Regierung würde nach der Regierungsübernahme erst mal überlegen, wie die alten Versprechungen gegenüber den Gemeinden erfüllt werden sollen und wie alte Haushaltslöcher in der kommunalen Familie zugeschmissen werden. Stattdessen werden neue Luftschlösser wie das kostenlose Kindergartenjahr gebaut, die vermutlich wieder riesige Defizite in die Gemeindekassen reißen werden. Es ist zu vermuten, daß die neue Landesregierung in Unkenntnis handelt. In der Kommunalpolitik sind Linke und Grüne nicht verankert, weil sie kaum Bürgermeister stellen. Die SPD stellt nur die Bürgermeister der großen Städte, die eigene Interessen verfolgen und die Novellierung des unprofessionellen Finanzausgleichsgesetzes von 2013 zum eigenen Vorteil durchgeboxt hatten.
Noch ein finanzielles Riesenmonster steht vor der Regierungstüre: Bis 2025 sollen alle Gemeinden gemäß der europäischen Wasserrahmenrichtlinie eine Abwasserentsorgung haben. Die meisten thüringischen Gemeinden haben den Bau gerade vor sich. Hier befindet sich eine zweite riesige Baustelle der Kommunalfinanzierung, denn die Gemeinden müssen jeweils Eigenanteile in 6stelliger Höhe für diese Anlagen aufbringen. Dieser gravierende Umstand ist im Koalitionsvertrag des roten Blocks ebenfalls nicht erwähnt.
Alle unbezahlten Verbindlichkeiten der Gemeinden landen früher oder später im Landeshaushalt. Denn die Gemeinden haben ja kaum eigene Steuereinnahmen. Von Hunde-, Gewerbe- und Grundsteuer kann man keine Kindergärten und Abwasseranlagen bezahlen. Dazu braucht es Lohn-, Einkommens- und Umsatzsteuer. Das Grundproblem ist eigentlich: Die EU und das Land bestellen und die Gemeinden müssen bezahlen. Richtig wäre, daß derjenige bestellt, der auch bezahlt. Davon liest man im Koalitionsvertrag nichts. Es wird alles beim alten Schlendrian bleiben.
Der normale Zeitenwandel läuft so, wie von Jaroslav Hašek (1883–1923) beschrieben: Als der brave Soldat Schwejk nach dem Weltkrieg wieder in sein geliebtes Prager Wirtshaus „Kelch“ kam, stellte er fest: „Es ist alles so wie früher, nur ein bißchen schlechter.“
Eine Antwort auf “Vor dem Kassensturz in Erfurt”