Krise bei den Krisenblogs

Die letzte Finanzkrise begann für die deutsche Sofakartoffel am 5. Oktober 2008, als Merkel und Gabriel vor die Kameras des Fernsehens traten und die Spargroschen garantierten. In den folgenden Wochen schossen die Krisenblogs im Internet wie Pilze aus dem Boden, einige waren auch schnell mit Zusammenbruchsterminen bei der Hand. Eine Seite nannte sich Schnittpunkt 2012, der Voodoo-Master des Eurokrachs terminierte das Jüngste Gericht der Finanzwelt gar auf ein bestimmtes Wochenende. Mister Dax, Mr. Doom, das Bankhaus Rott und was sie alle für Künstlernamen haben: Die Krisengurus haben nicht mit der Flexibilität der Zentralbanken gerechnet.

Flexibilität ist freilich ein Euphemismus, eine Beschönigung des glatten Rechtsbruchs. Das gesamte Vertragswerk zum Euro wurde mittlerweile filettiert, das heißt scheibchenweise außer Kraft gesetzt. Helmut Kohl und Theo Weigel hätten damit rechnen müssen, daß nach ihrem Abgang sofort mit der Demontage des Maastricht-Vertrags begonnen würde. Und so kam es auch. Kaum neu im Amt lichteten Oskar Lafontaine und Dominique Strauss-Kahn als deutscher bzw. französischer Finanzminister die Stabilitätsanker.

Das Desaster hat sich bis gestern kontinuierlich fortgesetzt, Mario Draghi senkte den Leitzins auf 0,05 %. Der Bankkaufmann alter Schule wird meinen, daß weniger Zins nicht geht. Die Politpraktiker werden ihm in Zukunft beweisen, daß es auch negative Zahlen gibt. Solange der Zins sinkt, steigen die Kurse der Staatsanleihen. Und alle machen damit ein gutes Geschäft, natürlich alle außer den traditionellen Sparern.

Der Fachmann staunt und der Laie wundert sich, daß sechs Jahre lang nichts sehr schlimmes passiert ist. Haben die Regenmacher von der Fed und von der EZB am Schluß doch Recht? Konnten sie das Krisengespenst bändigen?

Jedes gute Drama hat retardierende, also hinauszögernde Momente. In der Komödie wird im vierten Akt das gute Ende auf die lange Bank des fünften Akts verschoben, im Drama kurz vor dem letzten Akt die trügerische Hoffnung auf die Rettung der Helden genährt. Die Euro-Krise gehört zum Genre des Dramas.

Die letzten Zusammenbrüche der deutschen Währung hatten alle diese Dramaturgie der klassischen Bühne. Im Frühjahr 1918 nach dem deutschen Sieg über Rußland herrschte totale Euphorie in Deutschland. Trotz vierjähriger verlustreicher Kämpfe wurde in den Redaktionen vom Aufbruch in eine neue Zeit geträumt und geschwärmt. Ein halbes Jahr später brach die Westfront zusammen und fünf Jahre später die Reichsmark. Insgesamt hatten die Eliten knapp 10 Jahre gebraucht um die Währung zu ruinieren. Dazwischen wurden Tannenberg und die Republik gefeiert, das Bauhaus gegründet, der Achtstundentag eingeführt und das Frauenwahlrecht. Man gönnte sich das leichte Musiktheater – den Tingeltangel und sang: „Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?“.

Ähnlichen Täuschungen gaben sich die Deutschen in den vierziger Jahren hin. Es gab eine endlose Kette von Erfolgen, von der Besetzung des Rheinlandes über Reichsparteitage mit Lichtdomen, die Olympiade in Berlin, Fahnenweihen und den Vorstoß an den Fuß des Kaukasus. Niemand realisierte, daß das nationalsozialistische Wunder auf den tönernen Füßen des Kredits und den erfolgsabhängigen Tributen der Unterworfenen basierte. Wenn man den Beginn der kreditfinanzierten Aufrüstung auf das Jahr 1935 datiert, so dauerte es 13 Jahre bis zur Währungsreform, in der der entstandene Geldüberhang abgebaut wurde. Auch hier herrschte von 1938 bis 1943 ein unbegreiflicher Optimismus. „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“ und „Davon geht die Welt nicht unter“ übersetzte Zarah Leander diese Oberflächlichkeit in die Welt der Töne und Phrasen.

In der DDR wurde nach dem Abgang Ulbrichts mehr Geld gedruckt, als erwirtschaftet. Die Kontostände nahmen zu, ohne daß man etwas kaufen konnte. Die Warteliste bei Trabant und Wartburg wurde immer länger, zum Schluß mußte man etwa 15 bis 20 Jahre Geduld haben. Auch hier gab es retardierende Momente: Die Lieferung von 10.000 VW Golf 1978, der Strauss-Kredit 1983, der Honecker-Besuch 1987 in Bonn und der Megabitchip von 1988; alles das waren Nebelkerzen, die über die tatsächliche Lage hinwegtäuschen sollten. Von 1971 bis 1990 dauerte es immerhin 19 Jahre die Währung völlig zu ruinieren. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ kommentierte der Statthalter Honecker damals und Nina Hagen trällerte von einem vergessenen Farbfilm.

Jede Krise ist ein Problem der Wahrnehmung; dauert sie zu lange, wird sie weghalluziniert. Darunter leiden derzeit zahlreiche Blogs, die zu stark auf den Untergang spezialisiert sind. Einige haben den Zähler stillgelegt, damit man das nicht merkt. Der Leser glaubt zwar nicht an die Überwindung der Krisengespenster, sechs Jahre jeden Tag das Schreckensszenario des Zusammenbruchs zu lesen hat er aber keine Lust. Man kann zwischendurch ja mal den Kühlschrank von Präsident Hollande inspizieren oder lesen, wer sich gerade mit Eiswasser zuschütten läßt. „Die Welt will betrogen sein“ – das wußte 1494 schon der Autor des Narrenschiffs, Sebastian Brant.  Sind wir nicht alle ein bißchen Narr?