Neue Schäden am Horn

Im Jahr 2000 hat die Stadt Weimar den Bauhausprofessoren mit dem Bebauungsplan „Neues Bauen am Horn“ die Möglichkeit eröffnet, in einer neuen „städtebaulichen Grammatik“ zu bauen und zu wohnen. Das Gebiet war geschwind verkauft und bebaut. 45 Neubauten standen bereits 2004. Nach zehn bis fünfzehn Jahren ist es Zeit eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Grammatik ist Sprachlehre, die Kunst des Lesens und Schreibens. Städtebauliche Sprachlehre wird also verhießen. Auf insgesamt 73 Parzellen. Die gestalterische und bauliche Qualität ist sehr unterschiedlich. Ein wunderbar durchdachter, maßstäblicher und „durchgestandener“ Wohnbau eines anerkannten Professors ragt klar heraus. Daneben gibt es aber auch krampfige Bemühtheit, Epigonentum und mißlungene Ergebnisse übertriebenen Ehrgeizes. Um die Weimarer Grammatikregeln darzulegen hätten zehn oder fünfzehn  Parzellen gereicht, der Rest sind grammatikalische Wiederholungsübungen. Ein Baukörper mit dominantem Dachgarten ragt noch heraus. Rumsitzen und Kaffeetrinken wäre hier zu banal. Bräunen geht nicht wegen einem voluminösen Überdach. Es ist eher ein Ort für „Hohes Sinnen“, wie es Sascha Schneider seinerzeit gemalt hat. Leider hat das Ensemble leichte Disproportionen. Es ist immer von Nachteil, wenn ein Architekt eine Idee hat und der anstehende Auftrag entweder zu klein oder zu groß ist, um diese Idee adäquat zu verwirklichen. Meistens ist der Auftrag zu klein und der Bauherr zu klamm. Oder der Bebauungsplan selbst steht der Umsetzung im Weg…

Weimar liegt meteorologisch in einem Gebiet mit etwa 750 mm Regen im Jahr. Das sieht man den meisten Bauten auch deutlich an. Bauhaus, das bedeutet eben auch, daß Steildächer und Dachüberstände tabu sind. In der Sahara wäre das Wurst, in Weimar führt das zu reichlich Schlieren und Schimmel. Das kleine Blechelchen am Dachrand bringts eben nicht. Und dann die vielen risikofreudigen völlig unversorgten Anschlüsse von Eingangsdächern und Treppen an die Fassade…

Bei jedem zweiten Bau erkennt man deutlich die Stöße der Wärmedämmplatten aus extrudiertem Polystyrolschaum. Die farbenfrohe Erstbemalung ist darüber ausgeblichen und von verschiedenen Bauherren laienhaft restauriert worden.

Bauhaus und billig, das geht nicht. Schadenarmes Bauhaus ist darstellbar, wenn man tief in die Tasche langt. Jeder Anschluß will detailliert geplant und ausgeführt sein. Billigdämmungen und falsche Himmelsrichtungen für riskante regensensible Details gehen nicht. West- und Nordfassaden sollten grundsätzlich beheizt werden, auch wenn es sich nur um eine unbewohnte Stütze handelt. Die Flachdachrichtlinie muß bei den Planern und Ausführenden immer unterm Kopfkissen liegen. Anschlüsse müssen mehr als bei Steildachbauten wärmebrückenfrei sein. Das liegt nicht nur am Wetter, sondern auch am Fassadenexhibitionismus der Bauhausjünger. Jedes gute Viereck ist proportional ausgeklügelt, jedes Fenster ist auf das einfallende Licht, aber auch auf die Spannung in der Fassade bedacht. Und jeder witterungsbedingte Mangel fällt deshalb mehr auf, als bei einem traditionellen Bau.

Als Fazit soviel: Es wurde in der Masse zu schnell, zu unüberlegt und zu preisbewußt gebaut, um den Ansprüchen qualitätvollen Bauens zu genügen. Wo städtebauliche Grammatik herrscht, gibt es auch Bauschadensgrammatik. Das Neue Bauen am Horn wird von neuen Schäden am Horn begleitet.