Orientalische Diplomatie
In der rauhen Steppe Asiens und in den tiefen Schluchten des Kaukasus gibt es genug Konfliktpotential zwischen Rußland und der Türkei. Beide Mächte pflegen ihren politischen Führungsanspruch in Gebieten, die sich teilweise überschneiden. Turkmenen, Aserbaidschaner, Karakalpaken, Kasachen, Tartaren, Baschkiren, Kirgisen, Altaier und Usbeken gehören alle zur Familie der Turksprachen und sind nach dem Zerfall der Goldenen Horde unter russischen Einfluß bzw. unter russische Herrschaft geraten. Seit einigen Wochen sind die Krimtartaren hinzugekommen.
Die meisten dieser Völker leben seit dem Zerfall der Sowjetunion in Staaten oder autonomen Gebieten, die von Rußland mehr oder weniger am Gängelband geführt werden. Von unabhängigen Staaten zu schreiben, da klemmt wirklich die Tastatur. Die Türkei gefällt sich davon unbeeindruckt zunehmend in der Rolle einer Schutzmacht der turksprachigen Völkerfamilie. Statt die großtürkischen Ambitionen für das alte Staatsgebiet der Türkei mit seinen sperrigen arabischen Einwohnern im Irak, in Palästina oder in Syrien zu verfolgen, ist es für die Türkei wirklich verlockender, von der Führungsrolle im turksprachigen Gebiet zu träumen.
Die Türkei wurde bereits 1952 in die NATO aufgenommen, drei Jahre vor Deutschland. Sie hatte an der Südflanke Europas eine wichtige Schutzfunktion vor der stalinistischen Invasion. Das blieb auch nach Stalins Tod den ganzen kalten Krieg so. Das Verhältnis der Sowjetunion zur Türkei war sowohl aus der historischen Erinnerung heraus als auch durch die Unterdrückung vieler turksprachiger Stämme im russischen Völkergefängnis belastet. Für die Vereinigten Staaten und Europa war die alte Feindschaft zwischen Rußland und der Türkei politisches Gold wert. Die Ausfahrt der Rotbannerflotte in das Mittelmeer war unmöglich.
Derzeit kann man eine Annäherung zwischen Rußland und der Türkei beobachten. Aus dem Syrien-Konflikt hält sich die Türkei weitgehend heraus. Sie verhindert nach Kräften das Einsickern von deutschen und französischen Terroristen nach Syrien und baut sogar eine Grenzmauer. Das erfreut Rußland, welches zu den erklärten Unterstützern des syrischen Präsidenten Assad gehört. Kürzlich hat Erdogan den Enkeln der im Ersten Weltkrieg getöteten Armenier sein Beileid ausgesprochen. Das darf man nicht überbewerten, doch ist es eine Entspannungsgeste. Mehr in Richtung Moskau als nach Jerewan. Und der türkische Außenminister Davutoğlu war in Moskau, um über die Minderheitenrechte der Krimtartaren nach der russische Übernahme der Krim zu verhandeln. Nicht ohne Erfolg. Rußland sichert die Zusammenarbeit mit dem Parlament der Krimtartaren zu und will sogar 1943 geraubte Moscheen zurückerstatten. Bisher waren die Krimtartaren für sakrale Neubauten auf Geld aus dem reichen und frommen Saudi-Arabien angewiesen.
Über die Ursachen des Gebrauchs von Friedenspfeifen in Ankara und Moskau kann man spekulieren. Beide Staatslenker, Putin und Erdogan, sind gleichermaßen in einen Kulturkampf mit Europa verwickelt, insbesondere mit den europäischen grünen Eliten. Es geht vor allem um so weltbewegende Themenkreise wie Homosexualität, Transvestie und Feminismus. Menschliche Vehikel sind Pussy Riot und die Femen. Sie machen diesen Konflikt anfassbar, wenn auch mit sehr spitzen Fingern. Auf die Einübung neuer Geschlechterrollen haben derzeit weder die orthodoxe noch die moslemische Welt Lust. Es könnte sein, daß Putin und Erdogan im Kulturkampf der Europäer gegen den Osten den Schulterschluß suchen, um den Spieß umzukehren. Erdogan ist auf Kampf gebürstet. Der Kölner Auftritt von Erdogan und das anschließende Rauschen im türkischen Blätterwald deuten in diese Richtung. Erdogan hat Özdemir das Türkentum abgesprochen, was als Signal an die türkische Diaspora in Deutschland zu verstehen ist, die Grünen und ihr Umfeld nicht mehr zu unterstützen. Putin sonnt sich derzeit in günstigen Beliebtheitsumfragen, die er nach der Übernahme der Krim selbst in Auftrag gab.
In Washington werden die Alarmglocken läuten. Wie soll Obama auf die mögliche Aufweichung der NATO-Südflanke reagieren? Die europäischen Kulturreformer zurückpfeifen oder den Sturz von Erdogan versuchen? Eines ist sicher: Die Vereinigten Staaten sind in einem Dilemma. Sie haben die Eingliederung der Türkei nach Europa immer befürwortet und gefördert. Sie haben aber nicht daran gedacht, daß Beitrittsgespräche dazu führen, daß europäische Politiker die Türkei als verlängerte Werkbank ihrer Gender-Werkstatt betrachten und innenpolitische Diskurse aus Freiburg und Berlin in eine grundsätzlich anders geprägte Kultur und Gesellschaft exportieren wollen. Die Erfolgschancen solcher Ideologieexporte sind natürlich gleich Null. Das kann man am arabischen Frühling und was davon übrig geblieben ist gerade ausführlich studieren. Aber das müssen die elitären Politamateure jetzt und zukünftig lernen.
Um die lauwarmen Metropolen Brüssel, Berlin und Washington zu verunsichern schließen die Kämpfer Erdogan und Putin offenbar ein Zweckbündnis.
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