Kein Verständnis für die Biedermänner

„Es veränderte sich vieles in dieser Zeit und ein Teil der Bürger war nicht imstande, sich den Anforderungen der Zukunft zu stellen, denn unter anderem machten einsetzende Industrialisierung, rasanter technischer Fortschritt und politische Repression die Menschen zu häuslichen und biederen Zeitgenossen.“ So hat Bila Paul die Biedermeierzeit von 1816 bis 1848 in einer schulischen Facharbeit zusammengefaßt. Gab es in ihrer/seiner Schule keinen kompetenten Geschichtslehrer? Hoffentlich wird wenigstens Bila imstande sein, sich den Anforderungen der Zukunft zu präsentieren!

Das Zitat ist am Kern des Biedermeier volle Kanne vorbeigeschrieben. Weder gab es rasanten technischen Fortschritt, noch eine nennenswerte Industrialisierung. Und die politische Repression richtete sich gegen Leute, die das Merkelsystem sogar nazifiziert hätte. Nur die häusliche Biederkeit gab es, allerdings weniger wegen politischer, sondern wegen finanzieller Repression.

Man muß sich die Lage 1816 mal auf der Zunge zergehen lassen. Seit dem Italienfeldzug Napoleons 1796 bis Waterloo 1815 hatte zwanzig Jahre ununterbrochen Krieg in Europa geherrscht. Das war mit Zwangsrekrutierungen (auch in Deutschland), Plünderungen, Morden, Requisitionen, Truppenverpflegungen, Einquartierungen, Schanzarbeiten und Fuhrleistungen, örtlich auch von der Einäscherung von Orten begleitet. Leipzig hatte 1814 zum Beispiel 84.000 Tote der Völkerschlacht zu bestatten, was auch ein Kraftakt war. Fast alle europäischen Staaten waren nach Waterloo bis zur Halskrause verschuldet, die Bürger hatten den großen Teil ihrer Produktionsmittel verloren. Pferde und Fuhrwerke waren Mangelware. Um das Desaster komplett zu machen, gab es 1816 den Sommer ohne Sonne. Durch einen ausländischen Vulkanausbruch kam es insbesondere in Süd- und Westdeutschland zu einer Mißernte.

Die Landwirtschaft brauchte fast zwei Jahrzehnte um wieder auf den Stand von 1800 zu kommen. Tierbestände erholen sich schnell, wenn überhaupt noch eine Ausgangsbasis da ist. Länger dauert es, bis die Bodenfruchtbarkeit wieder hergestellt ist. Darüber hinaus waren alle Investitionen in Baulichkeiten, Transportmittel und Maschinen zum Stillstand gekommen. Es fehlte anfangs an Nutz- und Zugtieren, Dünger, Saatgut und Maschinen. Das Handwerk wiederum krankte an der mäßigen Kaufkraft der Landwirte und die Industrie an Kapitalmangel. In der Zeit bis 1830 wurden nur wenige öffentliche und private Bauten errichtet. Der Eisenbahnbau begannn erst Ende der dreißiger Jahre, die Industrialisierung im großen Stil erst 1850.

Es war für 90 % der Einwohner eine Periode rabiater Sparsamkeit.  Bis zum Geiz der ursprünglichen Akkumulation, wie Karl Marx ihn beschrieben hat. Vergleichbar damit waren die zwei ersten Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Nachkriegszeit von 1945 bis die Marken abgeschafft wurden. Das war erst 1963. Ich erinnere mich an die teils heftigen Streitereien in den Familien, wo es immer nur ums Geld ging. Biedermeier war nicht nur Hausmusik, Schummerstunde und Innerlichkeit, sondern hatte auch dunkle Seiten, die in der Fachliteratur kaum vorkommen. Solche Nachkriegszeiten sind aus reinen Sparsamkeitsgründen immer sehr familiär, denn die Großfamilie ist eine resilente Wirtschaftseinheit.

Was die Zensur betrifft. Metternich ließ solche Störer wie den Turnvater Jahn einbuchten. Der schillernde Freiheitsheld würde heute in keine politische Schublade passen und von den Merkelfaschisten zumindest beruflich kaltgestellt werden:

„Die Kleinstaaterei verhindert Deutschlands Größe auf dem Erdenrund. Wer seinen Kindern die französische Sprache lernen läßt, ist ein Irrender, wer darin beharrt, sündigt gegen den heiligen Geist. Wenn er aber seinen Töchtern französisch lehren läßt, ist das ebenso gut, als wenn er ihnen Hurerei lehren läßt. Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück.“

So schrieb er bereits 1810 in seinem Buch „Deutsches Volkstum“. Er war eben ein Kind seiner Zeit, man hatte noch eine frische Wut auf den Franzosen. Metternich wollte richtigerweise auch Frankreich in eine postnapoleonische Friedensordnung einbauen, und da störte Jahn. Diese von Metternich konstruierte „Heilige Allianz“ hielt immerhin bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts (bis zum Krimkrieg) und bescherte eine lange Friedenszeit. Auch die damalige Zensur muß man also in einen zeithistorischen Kontext einordnen.

Ein nimmermüder Dichter des Biedermeier war Samuel Friedrich Sauter. Hier eine Probe seines schlichten Schaffens. Nicht Sonne, Mond, Sterne, Blumen und die Liebste wurden besungen, sondern in der Zeit des harten Überlebenskampfes die Kartoffel. So ein Lied hätte in der reichen Zeit des verbürgerlichenden Feudalismus zwischen 1750 und 1800 beim Publikum nicht gerade hammerhart eingeschlagen:

Herbei, herbei zu meinem Sang, Hans Jörgel, Michel Stoffel,
und sing mit mir das Ehrenlied, dem Stifter der Kartoffel.
Franz Drake nannte sich der Mann, der vor dreihundert Jahren
von England nach Amerika als Kapitän gefahren.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
von England nach Amerika als Kapitän gefahren

Gott hat sie wie das liebe Brot zur Nahrung uns gegeben:
wieviel Millionen Menschen sind, die von Kartoffel leben!
Von Strassburg bis nach Amsterdam, von Stockholm bis nach Brüssel
kommt Johann mit Kartoffelsupp in mächtig grosser Schüssel.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
kommt Johann mit Kartoffelsupp in mächtig grosser Schüssel

Salat davon, gut angemacht, mit Feldsalat durchschossen
der wird mit grossem Appetit von jedermann genossen.
Gebraten schmecken sie recht gut, in saurer Brüh‘ nicht minder;
Kartoffelklöss‘, die essen gern die Eltern und die Kinder.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
Kartoffelklöss‘, die essen gern die Eltern und die Kinder

Hat jemand sich die Hand verbrannt und hilft dafür kein Segen,
so tut man auf die Hand sogleich Kartoffelschabig legen.
Wie nützlich sind sie nicht für uns, das Vieh damit zu mästen;
viel Sorten gibt es hier und dort, die guten sind die besten.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
viel Sorten giebt es hier und dort, die guten sind die besten

Solang wir die Kartoffelfrucht in unserm Lande sehen,
kann keine grosse Hungersnot aus Misswachs mehr entstehen.
Gerät auch Korn und Weizen schlecht, wir dürfen nicht verzagen,
Kartoffelschnitz und Fleisch dazu verstopfen uns den Magen.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
Kartoffelschnitz und Fleisch dazu verstopfen uns den Magen

Vor vielen Jahren sagte man, die Frucht sei für die Schweine,
jetzt isst sie Kaiser, Königssohn, der Grosse wie der Kleine.
Und kehren die Soldaten heim vom blut’gen Feld der Ehre,
so fragen sie sogleich: „Herr Wirt, hat er auch pommes de terre?“
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
so fragen sie sogleich: „Herr Wirt, hat er auch pommes de terre?“

Und selbst die schlechten kann man noch zu etwas Gutem brauchen,
man legt sie in ein Fass hinein und tut sie recht verstauchen.
Und wenn sie dann verstauchet sein, so lässt man sie recht schweissen,
das gibt dann den Kartoffelschnaps, der „Fusel“ ist geheissen.
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
das giebt dann den Kartoffelschnaps, der „Fusel“ ist geheissen

Kartoffeln frisch vom Sud hinweg, dazu ein bisschen Butter,
das ist fürwahr, ihr stimmt mit ein, ein delikates Futter!
Darum, ihr Brüder allzumal, reicht uns die Hand daneben
und rufet dann mit Freuden aus: „F r a n z  D r a k e, der soll leben!“
Hi, ha, hopsasa! Valadri, virtrallala!
und rufet dann mit Freuden aus: „F r a n z   D r a k e, der soll leben!“

Ja, die Biedermeiers konnten sich an den billigen Sachen erfreuen. Da hat es keinen Flug nach Kalifornien gebraucht, um glücklich ein Eis zu schlecken. Auf diese beschauliche Zeit können wir uns nach der derzeitigen Finanzkrise schon mal einstellen. Ganz so kraß wie damals wird es nicht kommen, aber der jährliche Dritturlaub auf den Malediven ist wohl Geschichte. Die Kartoffeln stehen übrigens gut dieses Jahr, nachdem ich sie mit viel Folie vor dem Frost gerettet hatte. Da kann nichts mehr schiefgehen.

 

Grüße an den V-Schutz. Ihr müßt mal den Aufsatz von Bila lesen. Da wimmelt es von Angriffen auf die politische Repression. Ein Prüffall?