Der Ursprung der modernen Architektur
Die Reformbewegung von 1890 bis 1945 hatte nur wenige Nervenknoten, wo sich alle oder fast alle trafen. Wenn man von den Mitternachtstänzen auf dem Monte Veritá absieht, so war ein solcher Verkehrsknoten der Reformbewegung die Sonne. Aber genau genommen drehten sich selbst Mitternachtszeremonien um die Sonne, wenn es beispielsweise um die Sonnenwende ging, so wurde diese ausgerechnet nachts begangen.
Für die Anthroposophen und Theosophen hatte die Sonne zentrale Bedeutung, für die Nudisten, Kleingärtner und Artamanen war sie für die Körperbräune und den letzten Schliff bei der Bildung der grünen Farbe des Gemüses ebenso unverzichtbar. Für die Wandervogelbewegung war sie wegen des Landschaftsgenusses und trockener Sandalen nice to have, bei den Okkultisten gehörte sie zum Gestirnsrepertoire. Lichttherapien, das Lichtgebet, Lichtmenschen, Sonnenauf- und -untergänge in der Malerei, fast alles drehte sich um die Sonne, die Sonne hatte hohen Symbolgehalt. Dieser Symbolgehalt sollte den weiteren Wandel der Werte überstehen.
Um massentauglich zu werden mußte die elitäre Reformbewegung popularisiert und von obskurantistischen Details bereinigt werden, für breite Massen verdaulich gemacht werden. Das war die eigentliche Arbeit Hitlers in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Übrig blieben die Sonne, die frische Luft, der Sport, der Führerkult, der Jugendkult, ein scharfer Antikatholizismus und Antisemitismus und der Schönheitswahn. Diese zentralen nietzscheanischen Botschaften begleiteten die Massen in die neue Zeit.
Viele bahnten den Weg in diese neue sonnendurchflutete Periode; auch die Lieder der Arbeiterbewegung priesen das Licht, welches in die Nacht führte, nicht ohne den Märtyrertod zu preisen:
Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor.
Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor.
Seht nur den Zug der Millionen endlos aus Nächtigem quillt,
bis eurer Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt.
Brüder, in eins nun die Hände, Brüder das Sterben verlacht:
Ewig der Sklaverei ein Ende, heilig die letzte Schlacht.
So blieb es nicht aus, daß sich in der Architektur ebenfalls das Licht seinen Weg bahnte. 1924 wurde im Klub der Architekten in Brno eine Vortragsreihe zur modernen Kultur gehalten. Verschiedene Architekturkonzepte prallten bei dieser Gelegenheit aufeinander: Auguste Perret ging in traditioneller Auffassung davon aus, dass Architektur Konstruktion sei; Le Corbusier meinte, dass Architektur das genaue, großartige und kunstvolle Spiel der Formen im Licht, geschaffen durch Grundriß und Baukörper sei. Walter Gropius setzte seine extremere Position dagegen: „Architektur, das ist Hygiene, Raum und Wissenschaft.“
1926 hatte Le Corbusier einen 1. Preis beim Wettbewerb für den Palast der Nationen in Genf errungen; beauftragt wurde jedoch der zweite Sieger, der einen historistischen Entwurf eingereicht hatte. Le Corbusier sann auf Rache und initiierte den „Internationalen Kongresses für Moderne Architektur“ vom 25.-29. Juni 1928 in La Sarraz (Schweiz). In der Erklärung von La Sarraz, die einer Architektendiktatur das Wort redete, wurden die Architekten darauf eingeschworen, mehr Einfluß auf öffentliche Meinung ausüben. Die schlecht unterrichtete Bevölkerung müsse durch Erziehung Grundlagen vermittelt bekommen, damit sie in Zukunft gegenüber den Achitekten die richtigen Forderungen zum Wohnungsproblem stellen kann.
In Athen und auf der Schiffsreise von Athen nach Marseille im Sommer 1933 wurde die sogenannte Charta von Athen formuliert, die aus der Diskussion unter etwa 100 Architekten hervorging. Sie wurde im September 1933 in der „Gazette des Beaux-Art“ veröffentlicht.
Die von Le Cobusier veröffentlichten Fassung erhob folgende Forderungen zum Wohnen:
§ 23 bis 29:
• Die Wohnviertel müssen künftig im Stadtgebiet die besten Baustellen einnehmen, ihre Vorteile aus Topographie und Lage ziehen, über die günstigste Sonnenlage und bequem gelegene Grünflächen verfügen.
• Die Wahl der Wohnbezirke muß nach hygienischen Gesichtspunkten erfolgen.
• Eine vernünftige Bevölkerungsdichte, entsprechend der durch die Natur des Geländes bestimmte Siedlungsform.
• Für jede Wohnung ist ein Sonnenstundenminimum zu bestimmen.
• Die Baulinie der Häuser entlang der Verkehrsstraßen muß verboten werden.
• Erstellung von hohen Bauten durch Nutzung der modernen Technik.
• Die hohen Bauten müssen in ausreichend weiten Abständen voneinander stehen und begünstigen damit weite Grünflächen.
Auch zum Umgang mit historischer Bausubstanz hatte Le Corbusier feste Vorstellungen, die dem Ensembledenkmalschutz widersprachen. Es war die Neue Stadt für den Neuen Menschen beabsichtigt, die mit der jahrhundealten Bautradition radikal brach.
§65 – 70:
• Architektonische Werke müssen erhalten bleiben (einzelne Gebäude oder ein Stadtganzes), wenn sie der Ausdruck einer früheren Kultur sind und wenn sie einem allgemeinen Interesse entsprechen.
• Die Erhaltung alter Bausubstanz darf jedoch nicht untragbare Wohnbedingungen für die Bevölkerung bedeuten.
• Die Beseitigung der Elendsquartiere rings um die historischen Denkmäler wird es ermöglichen, Grünflächen zu schaffen.
• Es hat verheerende Folgen, neue Bauten in alten Vierteln unter dem Vorwand der Ästhetik in Stilarten der Vergangenheit aufzuführen.
Die Charta von Athen wurde zwar erst kurz nach dem Machtantritt Adolf Hitlers besprochen, die Entwicklung ihrer Grundsätze, nämlich eine normierte Sonnenscheindauer in jeder Wohnung zu gewährleisten, reicht tief in die zwanziger Jahre zurück. Selbstverständlich wurde die Sonnenscheindauer den Bewohnern von elitaristischen und hygienewütigen Architekten aufgezwungen.
Nachdem in vielen Städten durch Sanierung von Altbausubstanz und Bevölkerungsrückgang die extreme Wohnungsnot zurückgeht, verlassen die Bewohner der allseits sonnenbeschienenen Platten die nach den Grundsätzen der Charta von Athen geschaffenen Großsiedlungen fluchtartig. Hoyerswerda, Schwedt, Stalinstadt und Halle-Neustadt veröden, die Vorstädte von Paris verasseln. Die autogerechten Trabantenstädte, die so abwechslungsreich waren, dass man selbst bis zum nächsten Postkasten lieber mit dem Auto fuhr, sind Monumente der Vergangenheit.
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