Gastbeitrag: Gedanken zur europäischen Verteidigung

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Aufstieg Chinas ist die Grundlage der Nachkriegsordnung in Europa verschwunden. Nun stehen die militärische und politische Neuordnung des lateinischen Teils Europas aus eigener Kraft und seine Einordnung in die globale Politik an.

Außen- und Sicherheitspolitik muß den politischen Paradigmenwechsel von der bipolaren zur multipolaren Welt und von der globalen Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Kapitalismus zur globalen Rivalität der kulturellen Großräume zur Kenntnis nehmen und als Handlungsrahmen nutzen. Dabei ist der Einhegung der potentiellen Vormacht des eurasischen Kontinents, China, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. China wird darüber hinaus als neue Weltmacht nur zu verhindern sein, wenn es gelingt, Russland an die Seite des Westens zu bringen und den muslimischen Kulturkreises wenigstens zu neutralisieren.

Die deutsche Politik muß sich stets bewußt sein, daß seit 1648 die nur relativ zu einzelnen Nachbarn bestehende Machtposition Deutschlands die Ursache des labilen europäischen Staatengefüges ist und daß Deutschland die unverzichtbare Funktion einer europäischen Führungsmacht nicht alleine ausfüllen kann.

Außen- und Sicherheitspolitik muß die Unfähigkeit Europas, sich selbst zu verteidigen, beenden und das gescheiterte Projekt der Vereinigten Staaten von Europa durch eine tragfähige Struktur gemeinsamer europäischer Politik ersetzen. Dabei bleibt der gemeinsame, allerdings um eine Balkangemeinschaft mit Serbien als Kristallisationspunkt entlastete Binnenmarkt unverzichtbar.

Außen- und Sicherheitspolitik muß in der Dynamik der Globalisierung das Ruder auch gegenüber internationalen Organisationen in den eigenen Händen behalten. Sie muß die Integrität der westlichen Kultur vor der Landnahme durch fremde Kulturen schützen.

Außen- und Sicherheitspolitik muß sich bewußt sein, daß jede erfolgreiche Politik auf Voraussetzungen beruht, die in der Wirtschaft und der Innenpolitik, insbesondere aber in der Gesellschaft bei der Klärung der Sinnfrage des Daseins geschaffen werden.

Unter Europa wird hier vorzugsweise das lateinische Europa mit Schwerpunkt in der EU verstanden. Je nach Zusammenhang steht Europa auch für die beiden eng verwandten Kulturräume des lateinischen und des griechischen Europa und ihre Überschneidung innerhalb und außerhalb der EU auf dem Balkan.

Verteidigung

Die Welt befindet sich seit der ersten Erprobung einer Atombombe durch die UdSSR im Jahre 1949 in einer atomaren Rüstungsspirale, in die neben der Bombentechnik die Raketentechnik, dislozierte Trägersysteme, Steuerungs- und Aufklärungstechnik und die Nachrichtendienste einbezogen sind.

Europa teilt sich militärisch in das Gebiet der NATO und das Territorium Rußlands auf. Die NATO reicht bis an die Ostgrenzen der baltischen Staaten, die Ukraine und Weißrußland sowie an Moldawien (Transnistrien) und das Kaliningrader Gebiet heran. Sie steht damit nahe an der Grenze Rußlands, im Baltikum direkt davor. Sie hat in Europa eine Truppenstärke von etwa zwei Millionen, darunter weniger als 50 000 Amerikaner. Amerika ist die westliche Führungsmacht. Sie stellt den atomaren Schirm für Westeuropa mit taktischen und strategischen Waffen zur Verfügung. Sie ist ebenso wie die kleinen europäischen Atommächte (Frankreich und Großbritannien) Vetomacht im UN-Sicherheitsrat.
Russland hat etwa die Hälfte der europäischen Truppenstärke der NATO, verfügt aber über rasch dislozierbare Verbände und ausreichend Reserven. Es ist Atommacht mit strategischen und taktischen Waffen, Weltraummacht sowie Vetomacht im UN-Sicherheitsrat.

Die nach der Auflösung des Warschauer Paktes zunächst in den Hintergrund getretenen Spannungen zwischen Rußland und der NATO sind im Zusammenhang mit Bestrebungen der NATO zur Eingliederung der Ukraine und Georgiens sowie nach der Aufnahme der Krim in den russischen Staatsverband und mit dem Syrienkonflikt wieder aufgelebt. Im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten der Ukraine sehen sich Polen und die baltischen Staaten von Rußland militärisch bedroht. Die Bedrohung der baltischen Staaten ist wegen ihrer exponierten geografischen Lage und wegen ihrer teils starken russischen Minderheiten ernst.

Im Zusammenhang mit dem Syrienkonflikt ist das niemals erloschene Interesse Rußlands an der Passage von Bosporus und Dardanellen erneut in den Vordergrund getreten. Rußland hat das Natomitglied Türkei durch Abmachungen mit dem Iran und – in Ausnützung des Syrienkonfliktes – durch Stationierung von Land-, See- und Luftstreitkräften in Syrien militärisch eingekreist. Die Türkei hat darauf zunächst mit Konflikt reagiert, dann aber auf punktuelle Zusammenarbeit und Rüstungskooperation umgesteuert.

Europa verfügt über keine, seine eigenen Atom- und konventionellen Streitkräfte zusammenfassende, militärische Führung. Das militärische Führungspersonal und die militärischen Führungseinrichtungen Europas befinden sich innerhalb der NATO und dort in der Spitze in amerikanischer Hand.

Von außerhalb Europas kann das expandierende China mit seinen Nuklearwaffen jeden Punkt der Erde erreichen. Seine konventionellen Streitkräfte verfügen über vergleichsweise unerschöpfliche Reserven und können angesichts wachsender Transportkapazität jeden Staat der Erde bedrohen.

Die Fähigkeit Europas und seiner Staaten, ihre Interessen durchzusetzen, hängt von ihrem militärischen Potenzial ab. Staaten und Bündnisse, die über keine Atomwaffen verfügen und deren konventionelle Streitkräfte potentiellen Gegnern nicht ebenbürtig sind, sind nur eingeschränkt souverän. Europa könnte seine atomaren und konventionellen militärischen Kräfte, orientiert am eigenen Interesse, entwickeln, ausstatten und gemeinsam führen, wenn es eine unabhängige europäische Säule in der NATO gäbe. Dies beginnt mit der atomaren Rüstung.

Ein Ende der atomaren Rüstungsspirale ist nicht abzusehen, insbesondere weil ein Ende der beschleunigten Weiterentwicklung der beteiligten Technologien und Fähigkeiten nicht abzusehen ist. Trotz vereinzelter Maßnahmen kontrollierter Abrüstung und Geldmangels war bisher eine Verzögerung oder gar ein Stillstand der Weiterentwicklung nicht zu verzeichnen.

Präsident Kennedy hat die entstandene apokalyptische Dauersituation am 25. September 1961 vor der UNO wie folgt charakterisiert: „Heute muß jeder Bewohner unseres Planeten auf den Tag gefaßt sein, da dieser nicht mehr bewohnbar ist. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das am dünnsten aller Fäden hängt, der jeden Augenblick durch einen Zufall, eine Fehlkalkulation oder Wahnsinnstat zerschnitten werden kann.“
Wir wissen daß wir wenigstens dreimal an der Katastrophe vorbeigeschrammt sind. In zwei Fällen hat, dem Vernehmen nach, eine befehlswidrige Entscheidung, in einem weiteren Fall die Spionage gerettet.

Die atomare Rüstungsspirale ist sowohl in der Aufwärtsbewegung, als auch in der Abwärtsbewegung risikobehaftet, weil sich aus einem auch nur vorrübergehenden, tatsächlichen oder auch nur vermuteten Rüstungsvorsprung ein Anreiz zu einem Erstschlag ergeben kann. Wenn dem so ist, kann nur die Wahl der Abwärtsspirale rational und damit verantwortbar sei. Um diese zu erreichen bedarf es struktureller Neuorientierung.

Eine autonome europäische atomare Rüstung sollte sich auf die Zweitschlagfähigkeit konzentrieren. Bei aller technisch bedingten Überschneidung der Fähigkeiten von Erst- und Zweitschlag ergeben sich gleichwohl bedeutende Unterschiede. Die Zweitschlagfähigkeit setzt besonders auf die weite Dislozierung kleiner Sprengkörper, auf die Raketentechnologie, die Aufklärungs- und Steuerungstechnologie, auf Abfangraketen und Nachrichtendienste.

Europa sollte außerdem auf die Stationierung von Atomwaffen im Weltraum, die die Vorwarnzeiten praktisch auf null reduzieren, verzichten, weil sie den Gegner veranlassen kann, unvermeidbar störanfällige automatische Systeme über den Einsatz entscheiden zu lassen. Statt- dessen muß in Europa die Entscheidung in der Verantwortung menschlicher Befehlshaber bleiben. Das damit verbundene Risiko wird durch die Verminderung der Gefahr verhängnisvoller technischer Pannen aufgewogen.

Die französische und die britische Atommacht, wirtschaftlich gestützt auf einen finanziellen Beitrag Deutschlands (keine gesamtschuldnerischen European Defence Bonds), können mittelfristig innerhalb der NATO den über Europa gespannten amerikanischen atomaren Schirm ersetzen. Dabei sollte Frankreich für das Gebiet der Vertragsstaaten (mit Ausnahme von Großbritannien, Norwegen und Island) und das ihrer Hoheit unterliegende Seegebiet des Atlantik, der Ostsee, des Mittelmeeres sowie des Schwarzen Meeres verantwortlich sein. Großbritannien sollte die Verantwortung für das britische, norwegische und isländische Gebiet sowie den anschließenden Atlantik übernehmen. Die Entscheidung über den Einsatz atomarer Sprengköpfe, auch wenn sie außerhalb Frankreichs oder Großbritanniens gelagert sind, stehen ausschließlich Frankreich und Großbritannien zu. Nach bewährtem NATO-Muster wird die Strategie in einer atomaren Planungsgruppe festgelegt. Die Trägersysteme außerhalb Frankreichs und Großbritanniens werden durch die Stationierungsstaaten beschafft und einsatzbereit gehalten, während die Sprengköpfe sich in der Hand französischer bzw. britischer Militärangehöriger befinden.

Konventionelle Streitkräfte bleiben nationale Verbände auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht.

Die für die europäischen Verteidigungsanstrengungen erforderlichen finanziellen Mittel können zumindest anteilig durch eine schrittweise Reduzierung der Transferleistungen in der EU, eine Minimierung der Unterorganisationen der EU und die durch eine strenge Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ermöglichte Aufgabenreduzierung der EU beschafft werden. In Deutschland kann ein nennenswertes Potential durch eine Entlastung der Sozialsysteme von migrationsbedingten Ausgaben aktiviert werden.

Der europäische atomare Schirm ermöglicht eine Reform der NATO. Die NATO sollte sich in Zukunft symmetrisch um den Atlantik gruppieren, mit einem in europäischer Hand befindlichen Hauptquartier in Europa, einem nordamerikanischen Hauptquartier in den USA oder Kanada und dem Ziel, den Nordatlantik offen zu halten, bei gegenseitiger Beistandspflicht.
Eine autonome europäische Verteidigung entlastet die künftig im Pazifik zunehmend stärker geforderten USA und eröffnet den Weg für eine europäische Partnerschaft mit Rußland auf Augenhöhe. Rußland ist nicht nur die nächstgelegene Großmacht, sondern auch die Vormacht des dem westlichen Kulturkreis nahe verwandten orthodoxen Kulturkreises und der natürliche Partner bei der – angesichts der wachsenden Macht Chinas – weltpolitisch wichtigen Neutralisierung der muslimischen Staaten. Ein in gleichgewichtiger Partnerschaft befindliches Russland kann sich aus der Verbindung mit China lösen und kommt damit geostrategisch auch den Interessen der USA entgegen. Ein militärisches Schwenken Rußlands von China zur autonomen europäischen Säule der NATO verhindert eine globale chinesische Übermacht gegenüber dem Westen.

Der mit der Reform der NATO-Struktur verbundene Verzicht der USA auf die militärische Gestaltung der Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent, insbesondere die Beendigung der antirussischen Großmachtpolitik und der auf dem Hintergrund militärischer europäischer Autonomie mögliche Interessenausgleich mit Rußland, öffnet und erzwingt zugleich den Weg für die anstehende Neuausrichtung der Türkei- und Balkanpolitik. Die bisherige Erfahrung mit der Türkei innerhalb der NATO, die anhaltende militärische Besetzung Nordzyperns, das türkische Doppelspiel im Zusammenhang mit dem IS und den Kurden, die rücksichtslose türkische Erpressungspolitik im Zusammenhang mit der muslimischen Massenmigration, die Instrumentalisierung türkischer Minderheiten in Europa im nationalen türkischen Interesse und die Wirkungslosigkeit der europäischen Anpassungshilfe für die von den Völkern Europas abgelehnte EU-Mitgliedschaft legen eine Abtrennung der Türkei von der europäischen militärischen Organisation nahe.

Die Türkei hat den ersten Schritt auf Russland zu und von der NATO weg mit dem Abschluß von Rüstungsgeschäften mit Russland bereits getan. Die Bedeutung der Kontrolle des Bosporus und die Sicherung der militärischen Südflanke der NATO gegen Russland auf türkischem Territorium verlieren in dem Maße an Bedeutung, wie es gelingt, Russland militärisch in eine europäische Friedensordnung einzubeziehen. Russland wäre in der Lage und sicherlich auch willens, im Einvernehmen mit der NATO den offenen Durchgang am Bosporus sicherzustellen.

Maßnahmen

Europa sollte den atomaren Schirm innerhalb der NATO selbst übernehmen, sich dabei auf die Zweitschlagfähigkeit konzentrieren und ständig bemüht sein, die atomare Abrüstung voran zu bringen. Auf jeden Fall sollte es auf eine Stationierung von Atomwaffen im Weltraum und auf automatische Reaktionssysteme zugunsten von Entscheidungen durch menschliche Befehlshaber verzichten.

In Frankreich, Großbritannien und den USA sollten politische Partner gesucht werden, bei denen zu erwarten ist, daß sie von den Vorteilen einer Übernahme der Verteidigung Europas durch die Europäer innerhalb der NATO überzeugt werden können.

Politische Kräfte in der Türkei, die ihr Land in einer Brückenfunktion zu den westlichen und orthodoxen Kulturkreisen sehen, sollten unterstützt werden. Die Logik der Brückenfunktion verlangt mit Blick auf Rußland militärische Neutralität und Abstand zur EU und der NATO sowie mit Blick auf den Westen den Verzicht auf und die Reduzierung der erfolgten konfliktreichen neoosmanischen Landnahmen in Europa.

Anmerkung der Redaktion: Die Verfasser des Eintrags legen in der angespannten innenpolitischen Lage in Deutschland keinen Wert auf die Veröffentlichung ihres Namens. Ich bin diesem Wunsch nachgekommen. Noch eine persönliche Bemerkung: Die Wertung der alten Bipolarität der Nachkriegszeit als Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Kapitalismus ist in meinen Augen etwas plakativ. Darunter lag auch schon die Auseinandersetzung zwischen kulturellen Großräumen. Man sprach damals vom „orthodoxen Marxismus“ in einer Doppelbedeutung.

Beitragsbild: Transnistrischer Panzer