Gammler, 40:60. Matte und L’AMOUR TOUJOURS
Kriege, die du nur verlieren kannst
Im Mai 1964 konfiszierte unsere Klassenlehrerin vom Kümpel das Mosaik Nr. 90 – Das Turnier zu Venedig – weil sie dachte, daß es faschistische Schundliteratur aus Entenhausen wäre. Sie mußte das Heft wieder rausrücken, weil die Mutter vom Kümpel auf der Kreisleitung arbeitete und das Heftel vom Verlag Junge Welt war. Nicht gut gelaufen, diese unprofessionelle Abwehr der westlichen Dekadenz auf das überlegene sozialistische System.
Wenige Jahre später hörten wir – wenn auf der Mittelwelle grade mal kein Gewitter war – Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich sowie die Stones. Wir ließen gegen den Widerstand der Lehrer die Haare wachsen und gingen nachmittags gammeln. Die Partei setzte erst mal alle Hebel in Bewegung, um das zu ersticken:
Bereits am 2. Januar 1958 hatte die Partei ein Gesetz veröffentlicht, nach dem bei Musikveranstaltungen 60 Prozent der Komponisten ihren Wohnsitz in sozialistischen Ländern haben mußten, während 40 Prozent der Titel von den dekadenten, neofaschistischen und revanchistischen Bonner Ultras stammen durften. Verstöße sollten mit Strafen von 500 Mark oder komplettem Berufsverbot geahndet werden.
Die Nationale Front kämpfte vergeblich. Wir sahen in den 70ern aus wie Fritz Teufel, ergaben uns dem Alkohol, rauchten, machten jeden Tag was verbotenes und an das 40:60-Gesetz hielt sich kein Mensch.
Irgendwann gab die Partei den Widerstand gegen die Dekadenz auf und arrangierte sich auf verklemmte Art und Weise mit der Neuen Zeit. Heraus kam dieser politisch korrekte Stuß:
Die Nationale Front wird auch den Kampf gegen L’AMOUR TOUJOURS nicht gewinnen. Ich empfehle den gekündigten Schwerenötern gegen ihre Entlassung zu klagen, da werden schöne Abfindungen rauskommen, die man in Kohle-, Tabak- und Ölaktien investieren kann.
Gegen Pubertät hats im Prinzip keine Mittel. Es sind Kriege, die du nur verlieren kannst.
Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Wie trägst Du so behaglich der tollen Jugend anmaßliches Wesen? Fürwahr, sie wären unerträglich, wär‘ ich nicht auch unerträglich gewesen.“ (Geh. Rath v. Goethe)
Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten … Ich bin mir unsicher, ob dieser Nonkonformismus an sich eine wesentliche politische Rolle spielt, sondern eher aus dem Hintergrund eingesetzt wird. [Übrigens würde eher Honecker als Ulbricht hier passen.]
Ich war in meiner Schülerzeit so um 1956/57 als Junger Pionier eifriger Sammler der Mosaike von Hannes Hegen und es interessierte mir überhaupt nicht, ob es vom Verlag Junge Welt oder aus irgendeinem Schund- und Schmutzliteraturverlag kam.
Dass die besagte Klassenlehrerin das Mosaik ihrer Auffassung nach als pädagogisch für Junge Pioniere nicht zielführend ablehnte, zeigt, dass die damals nicht auf der Höhe der Zeit war. Die Lehrerin von K. und die Mutti von K. (als SED-Angestellte) mussten so zwangsläufig in Widerstreit geraten, wenngleich beide Frauen wohl das Gleiche wollten.
In diesem Zusammenhang finde ich den Herrn mit Spitzbart (oben) trotz der von ihm vertretenden 40 : 60 – Musikklausel ganz auf Ausgleich bedacht und wegen seines Bartes fast so kinderfreundlich wie den Sandmann von Adlershof.
Immerhin hat der noch 40 % der Schlager toleriert, die aus dem Westen zu uns herüberschwappten. Vielleicht hat er unter der Dusche auch mitgesungen, bestimmt sich aber auch angehört.
Der Spitzbart soll mit seinem kybernetisierten Neuen Ökonomischen System um 1968/69 als gefährlicher Bacillusträger westlicher Wirtschaftsideologien von Hartlinern des Kremls stigmatisiert worden sein. Abhilfe konnte hier nur Erich der Delikate bringen.
„Heißer Sommer, wie wunderbar!“ – Ist das jetzt nicht strafbar wegen Klimaverleugnung? (Der nicht mehr ganz junge Thilo sagt ja auch, die DDR sei ein rechtes Regime gewesen, also alles Klimaleugner.)