Wie man einen Staat destabilisiert – und wie nicht

Gastbeitrag von Helmut Roewer

Im folgenden Text schildere ich ein paar Gedanken über das Jahr 1923. Gewiss, das liegt hundert Jahre zurück. Es geht speziell um das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Ob etwas Vergleichbares auch heute stattfindet, überlasse ich der Phantasie des Betrachters.

Eins

Deutschland als Stolperstein auf dem Weg zur Weltherrschaft

An diesem Deutschland, dass 1918 mit Pauken und Trompeten den Weltkrieg verloren hatte, rieben sich ab dem Beginn der 1920er Jahre eine Reihe von Leuten, die sich auf dem Weg zur Weltherrschaft wähnten. Für den russischen Führer Wladimir Uljanow, der gerade eben unter seinem Kriegsnamen Lenin in einem gewaltsamen Staatsstreich in Russland die Macht an sich gerissen hatte, war es sonnenklar: Der Weg zur Weltrevolution führt über Deutschland. Erst dessen Unterwerfung würde den Sieg bedeuten.

Heute wundert man sich, dass ein Machtzentrum wie das in Moskau, das durchaus noch nicht gefestigt war, sondern immer noch durch einen Bürgerkrieg und durch Kriege mit seinen Anrainern zu gehen hatte, nichts Dringlicheres zu tun hatte, als solche, nicht gerade naheliegende Ziele wie die Unterwerfung Deutschlands anzustreben. Und doch war es so.

Der erste einschlägige Schritt wurde im Sommer 1918 getan. Noch war der Weltkrieg nicht zu Ende, und keineswegs war ausgemacht, wer denn da letztlich siegen werde, als die Sowjets, kaum hatten sie nach dem Waffenstillstand von Brest-Litowsk mit dem Reich diplomatische Beziehungen installiert, ihre Gesandtschaft in Berlin rücksichtslos nutzten, um deutsches Umsturzpersonal mit Waffen und Propaganda-Material auszustaffieren. Die Gelegenheit schien günstig. In Berlin wurde gehungert und der nur mühsam unterdrückte Munitionsarbeiter-Streik vom Januar 1918 lud zu den schönsten Hoffnungen ein.

Die Rechnung war ohne den deutschen Wirt gemacht, in diesem Fall waren es die politische Polizei Preußens und die kaiserlichen Beamten des Auswärtigen Amtes. Die stellten den sowjetischen Funktionären eine Falle am Bahnhof Friedrichstraße, indem sie mit handverlesenen Gepäckträgern behilflich waren, um die per Bahn ankommenden diplomatischen TransportKisten holterdiepolter die Treppen herabstürzen zu lassen, so das sie aufplatzen und sich ihr verborgener Inhalt für jedermann sichtbar auf dem Vorplatz verteilte.

Die deutschen Spitzendiplomaten benötigten keinen ganzen Tag, um die Botschaft mit dem gesamten Personal des Landes zu verweisen. Einen Tag später gab es keine kaiserliche Regierung mehr, denn man schrieb den 9. November 1918. Doch zwei Dinge mochten trotzdem partout nicht klappen: Eine Rückkehrgenehmigung für die an der Reichsgrenze ungeduldig wartenden Sowjet-Revolutionäre und ein bolschewistischer Aufstand aus eigener Kraft. Beidem stand der Sozialdemokrat Friedrich Ebert im Wege, der die Macht im Reich soeben aus den Händen des letzten kaiserlichen Reichskanzlers geerbt und das Erbe angenommen hatte.

Über diese Vorgänge ist schon viel Papier beschrieben worden. Heutige fortschrittliche Geschichtsinterpreten wissen genau, dass Ebert die deutsche November-Revolution verraten habe. Man kann das auch ganz anders sehen. Und tut gut daran.

Zwei

Zweiter Anlauf, in Deutschland einen kommunistischen Umsturz herbeizuführen

Als sich der Pulverdampf der ersten beiden Nachkriegsjahre etwas gelegt hatte, zeigte es sich, dass die wilden Anläufe, in Deutschland die Weltrevolution einzuführen, gescheitert waren. Die Hoffnungsträger und Frontfiguren, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, waren frühzeitig aus ihren Verstecken gezerrt und ermordet worden. Ein Verräter hatte sie verpfiffen. Der Wahrscheinlichste in einer Reihe von Möglichen heißt für mich Wilhelm Pieck.

Auch die kommunistische Boheme-Revolution in München an der Jahreswende 1918/19 war grausam zusammengeschossen worden, und der gut knapp drei Monate andauernde parallele Versuch in Berlin endete vor Exekutionskommandos, die niemand hierzu beauftragt hatte. Nicht anders ging es 1920/21 im Ruhrgebiet, in Halle und im Mansfelder Land zu.

Das Häuflein der schließlich Übriggebliebenen stritt über den rechten Weg und spähte tiefsinnig in die Zukunft, ob sich nicht der revolutionäre Moment am Horizont der Ereignisse zeigen mochte. In Moskau sah man die Dinge anders. Wenn denn die deutschen Genossen aus eigener Kraft nichts bewirken konnten, so würde man ihnen Beine machen müssen. Heraus kam eine zweigliedrige Strategie. Man kann es auch so ausdrücken: Da man sich im Generalstab der Weltrevolution, der Komintern, nicht einig werden konnte, was man mit Deutschland zu machen habe, fuhr man einen Sowohl-als-auch-Angriff. Einerseits wurde versucht, ein ebenso stabiles wie heimliches Einflussnahme-Bein in dem real existierenden deutschen Entscheidungsapparat zu installieren, andererseits nicht auf einen Putsch à la russischer Oktoberrevolution zu verzichten.

In dem vor dem Leser liegenden Aufsatz werde ich nun ausschließlich über den erstgenannten Weg berichten, den zweiten – die Vorbereitung des Deutschen Oktober – verschiebe ich auf den November, auf dessen 100. Jahrestag.

Drei

Beseitigung der Kriegsfolgenprobleme

Der Weg, mit dem Deutschen Reich nach dem Abbruch der Beziehungen im November 1918 wieder ins Geschäft zu kommen, führte über praktische Fragen des Alltags, die nach einer Regelung riefen. Dies waren wechselseitige Vermögensfragen und der leidige Austausch von Kriegsgefangenen und aller sonstwie nicht ins eigene Lager gehörigen Personen. So fing es an. Dann kam der Paukenschlag von Rapallo. Das war im April 1922. Die beiden Außenminister der Außenseiter-Staaten, Walther Rathenau und Georgij Tschitscherin, beschlossen zum Schrecken der sog. Weltgemeinschaft, ohne lange zu fragen, aus der von den Weltmächten des Westens auferlegten Isolierung herauszutreten. Sie befreiten sich so zum gegenseitigen Vorteil. Sowjetrussland und Deutschland regelten mit einem Handstreich die Lösung der
wechselseitigen Probleme der Kriegsfolgen, verzichteten in diesem Zusammenhang auf Reparationen und vereinbarten die sofortige Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen.

Wie vereinbart, so getan. In Moskau und in Berlin öffneten wieder die jeweiligen Botschaften, Handelsvertretungen traten hinzu und – unter der nicht allgemein zu bemerkenden Oberfläche – lief die militärische Zusammenarbeit beider Statten zu gegenseitigem Nutzen an. Russlands Rote Armee erhielt taktisch-strategische Aufbauhilfe und die Reichswehr Übungsgebiete für die vom Versailler Diktat verbotenen Waffen (Panzer, Flugzeuge, Giftgasmunition).

Höchst einseitig hingegen verlief ein weitere Zweig dieser Annäherung. Das war die Installierung eines ausgeprägten sowjetischen Agenten-Apparats zum Zwecke der Ausspähung, der Zersetzung und der Beeinflussung des Deutschen Reiches. Dieser Apparat bekam alsbald ein solides Standbein: Die sowjetische, einst: russische, Botschaft unter den Linden. Die Geheimdienstler, die man dort unter diplomatischer Legende akkreditierte, bildeten – so die sowjetische Diktion – eine Legalresidentur. Davon soll nun die Rede sein. Der Dreh- und Angelpunkt dieser geheimdienstlichen Unterwanderung würde der Resident sein. Es wurde ein Mann namens Wladimir Bustrem.

Vier

Revoluzzer im bürgerlichen Habit

Bustrem hieß wirklich so: Wladimir Wladimirowitsch Bustrem. Ich betone dies, weil er jahrelang anders hieß, nämlich Alexander Wassiljewitsch Loginow. Den Namen Loginow hatte er sich 1906 selbst gegeben, als er Mitglied der Militärorganisation der russischen Sozialisten wurde, jenes verschwindend kleinen Häufleins von Desperados, die sich den politischen Mord auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Wenn in jenen Kreisen von einem Andrej die Rede war, dann war es dieser Mann hier. Ich vermute, dass Bustrems spätere Angaben wenigstens insofern falsch sind, als die Militärorganisation nicht wie behauptet zur SDAPR, also zu den russischen Sozialdemokraten, sondern zum militanten Teil der Partei der Sozialrevolutionäre gehörte. Für uns heute ist das nahezu ohne Belang. Für die Betroffenen war das damals anders, denn Stalin ließ jene Konkurrenz-Sozialisten samt und sonders Ende der 1930er Jahre bei der Großen Säuberung über die Klinge springen – und nicht nur die.

Unserm Helden Bustrem war seine spätere Gewalttäter-Laufbahn nicht an der Wiege gesungen worden, denn er kam als Sohn eines deutschstämmigen Försters (vermutlich ursprünglich: Buström) 1883 in einem Ort namens Kem im Weißmeer-Gebiet von Archangelsk, genauer gesagt: von der gleichnamigen Hafenstadt rund 700 km nordwestlich gelegen, zur Welt. Nach dem frühen Tod des Vaters geriet er auf Abwege. Dass er trotzdem wenigstens zunächst eine ordentliche Schulausbildung erhielt, die ihn den spielerischen Umgang mit mehreren Sprachen lehrte, wirkt im Nachhinein wie ein Wunder. Bis er 1908 in Gefängnishaft und Verbannung geriet, hatte er einen weiten Weg durch das nördliche russische Reichsgebiet, Petersburg, das Baltikum und Finnland hinter sich gebracht. Was er in der wilden Zeit im Einzelnen tat, vermag ich nicht zu sagen. Erst nach der FebruarRevolution 1917 kam er wieder auf freien Fuß. Da befand er sich erneut in Archangelsk.

In Haft und Verbannung hatte Bustrem eine für ihn wichtig werdende Verbindung geknüpft, die zu Mejer Trilisser, einen anderen Berufsrevolutionär, der allerdings zu den Bolschewiki gehörte. Dieser holte Bustrem in den soeben unter seiner Leitung ins Leben gerufenen Auslandsdienst (INO) der Tscheka. Als das 1922 passierte war die berüchtigte Geheimpolizei Tscheka gerade dabei, ihren Namen in GPU, später OGPU zu wechseln. Sonst änderte sich nur wenig. Jetzt brauchte Bustrem nur noch einen Diplomatenpass und eine Fahrkarte nach Berlin, um in der neu eröffneten Botschaft seinen Geschäften nachzugehen.

Fünf

Wie installiert man einen Spionage-Stützpunkt?

Die Lenin‘sche Frage Was-tun-? wird sich Bustrem alsbald gestellt haben, denn über den Zweck seines Aufenthalts kann er keinen Zweifel gehabt haben: die Reichsinstanzen ausspähen, diese nach Möglichkeit beeinflussen, um sie zu destabilisieren, und die russische Emigration, bevorzugt die in Berlin, bekämpfen. Hierzu benötigt man Personen, die – wie man beim Dienst so sagt – über die notwendigen Zugänge verfügen.

Recht bald muss Bustrem eine in seinem Sinne geniale Idee gefasst haben. Er nahm vor Ort einen Zuträger in Dienst. Es handelte sich hierbei um einen Mann namens Schmidt (Er hieß wirklich so). Dieser betrieb in Berlin seit etwa derselben Zeit eine Detektei. Warum er dies unter dem Namen Pan Kowaltschik tat, das mögen die Götter wissen. Vielleicht hatte er Anlass, die Spuren seiner Vergangenheit zu verwischen. Denn die sah so aus: Schmidt kam als Sohn deutscher Siedler in der Ukraine 1878 zur Welt, erhielt eine landwirtschaftliche Ausbildung in Kiew, Danzig und Brüssel, was ihn offenbar zum Betrieb einer Mühle und einer Molkerei befähigte, bevor dann 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, sodass er als deutschstämmiger, also feindlicher Untertan nach Odessa deportiert und dort interniert wurde.

Nach der Februar-Revolution 1917 kam er vermutlich auf freien Fuß. Was er dann und vor allem nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges wo und auf wessen Seite tat, ist unklar. Er tauchte dann 1920 oder 1921 in Warschau auf, wo er vermutlich den polnischen Namen Kowaltschik annahm und beantragte unter Hinweis auf seine Vielsprachigkeit in russisch, polnisch, ukrainisch und deutsch, eine Detektei zu gründen, was die polnischen Behörden ihm verboten. So zog er nach Berlin weiter.

Schmidt-Kowaltschik war nicht der einzige Nachrichtenhändler, der in Berlin sein Unwesen trieb, indem er Behörden, insbesondere der Polizei, und ausländischen Vertretungen seine Dienste nebst fragwürdigen Informationen anbot. Seine Zugänge in die Polizei müssen recht gut gewesen sein. Hier sattelte Bustrem auf. Dass Kowaltschik seinen Spionagegeschäften, nunmehr im Auftrag der Sowjets, nachging, fiel nicht weiter auf, denn diese Ausspähung-Profession übte er ja ohnedies aus. So wurde es seine gutbezahlte Aufgabe, künftige Spione zu tippen und auf ihre Brauchbarkeit abzuklären. Wichtiger Job und guter Verdienst. Beide Seiten waren es zufrieden. Es dürfte in den kommenden Jahren bis Ende der 1930er Jahre kaum einen Sowjetagenten der Berliner Residentur gegeben haben, der nicht durch Kowaltschiks Hände gegangen war. Das war ein munteres Häuflein von Polizisten, Diplomaten, Diplomatenfrauen und jene Riege von Landesverrätern, die von der Gestapo Jahre später unter dem Sammelnamen der Roten Kapelle zusammengefasst wurde.

Eine solche Spinne im Netz birgt auch stets ein Risiko, denn sie weiß viel, zuweilen zu viel. Als Schmidt-Kowaltschik im Januar 1935, also bereits nach über einem Dutzend Jahren der einschlägigen Tätigkeit, von der Gestapo hochgenommen wurde, konnte er sich damit rausreden, dass er im konkreten Fall seinen Auftraggeber, einen Menschen namens Schröder, nicht persönlich kenne. Man nahm ihm das ab und ließ ihn nach einem Monat wieder laufen. In der Berliner Residentur hatte man die Luft angehalten, doch die Sache ging gut, denn Kowaltschik hielt tatsächlich dicht. Was wäre der für eine unbezahlbare Quelle gewesen. Nach dem Beginn der deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 riss die Verbindung ab. Sie
soll im Juni 1945 wieder aufgenommen worden sein. Weiteres ist nicht bekannt.

Doch zurück zu Bustrem, dem Residenten. Der wurde 1925 in die Zentrale nach Moskau zurückgerufen und durch andere ersetzt, die das eingeübte Spiel mit Fleiß weiterspielten. Ihre Lebensläufe würden jeden gut erfundenen Spionageroman sprengen. Ich habe nicht vor, sie hier im einzelnen auszuwalzen. Einer nach dem anderen musste dann wieder nach Moskau zurück, um dort auf Weisung von Stalin erschossen zu werden, der auf diese Weise seine Spionagemacke auslebte. Nur Bustrem kam mit dem Leben davon. Vielleicht lag es daran, dass er 1930 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Geheimdienst ausschied und in Deckung gegangen war – in irgend einem Forschungsinstitut des Nordens, was zur Komintern gehörte.
1943 soll er eines natürlichen Todes gestorben sein.


Dies alles geschah, um dem Deutschen Reich und seine soeben ausgerufene Demokratie zu stürzen. Ich befinde mich deswegen um Meilen von jeglichem nostalgischen Spionage-Kitsch entfernt. Die Personen, die hier geschildert wurden, haben eine lange blutige Spur durch Deutschland gezogen. Ihr Antrieb war ideologische Verblendung. Aber einen sozialistischen Umsturz erzeugten sie mit all den Dutzenden von Landesverrätern, die sich den Sowjets angedient hatten, nicht – ganz im Gegenteil. Es gelang der kommunistische Umsturz auch nicht, als im selben Jahr 1923 das Deutsche Reich mit dem sowjet-gesteuerten Unternehmen Deutscher Oktober angegriffen wurde. Davon wird dann im November zu lesen sein.

©Helmut Roewer, September 2023