Wie man einen Staat destabilisiert – Teil 2: Nützliche Idioten auf dem Weg zum Licht
Gastbeitrag von Helmut Roewer
Auf unserm Spaziergang zum Deutschen Oktober hatten die Leser und ich vor der russischen Botschaft in Berlin, Unter den Linden, voneinander Abschied genommen, als wir die ersten Bemühungen der frisch installierten sowjetischen Geheimdienst-Residentur der frühen 1920er Jahre betrachtet hatten. Da war ein munteres Kommen und Gehen gewesen. Es diente dem politischen Umsturz durch Unterwanderung der deutschen politischen Entscheidungsinstanzen.
Doch dabei blieb es nicht. Wir werden sogleich das Umsturz-Theater durch eine andere Tapetentür betreten und zusehen, was sich auf einer scheinbaren Nebenbühne abspielte: ich spreche von der Wirtschaft und deren Ausplünderung.
Der Leser mag nun, je nach Interesse, diese Spielstätte betreten oder auch nicht. In jedem Fall muss er darauf gefasst sein, ganzen Kohorten von Deutschen zu begegnen, die Altmeister Lenin als nützliche Idioten zu bezeichnen pflegte. Nebenbei: Wir befinden uns immer noch in der Zeit vor exakt hundert Jahren.
Eins
Es werde Licht: Wirtschaftshilfe durch Spionage
Lenin hatte die Losung ausgegeben: Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Jetzt galt es für die Genossen auf allen Ebenen, sich ins Zeug zu legen, damit es in der Sowjetunion Licht werde. Zwar hatte es bereits im Zarenreich dank der Firma Siemens erhebliche Anstrengungen gegeben, Russland zu elektrifizieren, doch Weltkrieg und Oktober-Revolution hatten die Anfangserfolge gründlich ruiniert. Jetzt galt es neu zu starten, möglichst ohne die Dinge mit den raren Devisen, über die der neue Staat verfügte, bezahlen zu müssen.
Folglich bot es sich an, dass Gewünschte selbst zu machen und das fehlende Knowhow durch Industriespionage zu beschaffen. Gesagt, getan: Neben dem Tscheka/GPU-Residenten, den wir schon kennengelernt haben, werkte am selben Ort Unter den Linden der Resident des Militärgeheimdienstes (später und auch noch heute GRU genannt).
Dass ausgerechnet dieser sich dem Angriff auf die deutsche Elektro-Industrie verschrieb, lag nicht an der Aufgabenstellung der Roten Armee, deren Kommissar der nagelneue erste Resident war, sondern daran, dass er vor und im Ersten Weltkrieg ein russischer Emigrant in Frankreich gewesen war, der sich seinen Lebensunterhalt und die so dringlich benötigten einschlägigen Kenntnisse durch Arbeit in französischen Elektro-Betrieben beschafft hatte. 1915 war er nach Russland zurückgekehrt, damit war er zur Revolution pünktlich zur Stelle.
Der Name dieses GRU-Agenten-Chefs, der nun Berlin unsicher machte, war Grigorij Iwanowitsch Semjonow (Григорий Иванович Семенов). Dass der 31jährige überhaupt Ende 1922 in Berlin auftauchte, war dem Umstand geschuldet, dass dies seine letzte Chance zur Bewährung war, eine allerletzte, denn die Alternative lautete: Genickschuss im Moskauer Quartier der Tscheka. Das klingt so verrückt, dass ich hier die Erzählung für einen kurzen Rückgriff unterbreche.
Zwei
Die Frau, die auf Lenin schoss, war ein Mann
Es ist ja fast so etwas wie Allgemeingut, dass die Frau, die am 30. August 1918 auf Lenin schoss und ihn dabei so schwer verletzte, dass er nur noch eine überschaubar kurze Zeit lebte, die Sozialrevolutionärin Dora Kaplan war.
Doch räumte die Kaplan, als Tscheka-Leute sie am Tatort und dazu auch noch mit einem Browning in der Tasche aufgriffen, die Täterschaft ungesäumt ein. Ebenso ungesäumt wurde sie durch Pistolenschüsse auf dem Hof des Moskauer Tscheka-Hauptquartiers umgelegt. Tat aufgeklärt – Täter bestraft. In Riesenschlagzeilen wurde dem Volk die Tat und die Reaktion der Sowjetregierung zur Kenntnis gegeben.
Mit etwas mehr Professionalität hätte ein polizeilicher Ermittler vielleicht am Revolver gerochen, die Schusshand der Dame betrachtet und sie zum Nachstellen der Situation aufgefordert. Spätestens dann wäre aufgefallen, dass sie so kurzsichtig war, dass sie ganz und gar außerstande war, Personen auf geringe Entfernung voneinander zu unterscheiden, geschweige denn, gezielt auf eine ganz bestimmt Person zu schießen und diese auch noch zu treffen.
Wie gesagt, jetzt war die Kaplan tot und hatte ihr Tatwissen ins Grab mitgenommen. Dass sie eine solche Mitwisserin war, steht so gut wie fest, denn was eigentlich hatte sie, die Sozialrevolutionärin, dort am Tatort verloren, und wen wollte sie durch ihr falsches Geständnis decken?
In der Nähe des Tatorts wurde auch ein anderer Sozialrevolutionär gesehen, der Held dieser Geschichte, Grigorij Semjonow. Der wurde schließlich im Oktober 1918 aufgegriffen und inhaftiert. Der Festnahme war eine beispiellose Hetzjagd vorangegangen, die vor allem den in Sowjetrussland noch mitregierenden Sozialrevolutionären (SR) galt. Vor denen hatten die bolschewistischen Sowjetführer eine Heiden-Angst. Man wollte sie auf dem Weg zur Alleinherrschaft loswerden. Doch man kannte nur zu genau deren Willen und ihre Fähigkeit, eigene Machtansprüche mit Hilfe von gewaltsamem Terror durchzusetzen. Das Kampfkommando der SR konnte sich auf eine Jahrzehnte andauernde blutige Tradition stützen.
Sein jetziger Führer hieß seit 1917 Grigorij Semjonow, das ist der Mann, über den wir hier reden. Und das hier war bis zu seiner Festnahme seine Jagd-Strecke gewesen, sozusagen: Am 20. Juni 1918 ermordeten Sozialrevolutionäre in Petrograd den dortigen 26jährigen bolschewistischen Presse-Kommissar W. Wolodarskij (Klarname: Moisej Goldstein). Lenin war außer sich. Er befahl der bolschewistischen Führung von Petrograd am 16. Juni 1918, unverzüglich den Roten Terror auszulösen. In seinen Worten an den dortigen Parteichef klang das so:
Genosse Sinowjew! Erst heute haben wir im Zentralkomitee gehört, dass die Arbeiter in St. Petersburg auf die Ermordung Wolodarskis mit Massenterror antworten wollten und dass Sie (nicht Sie persönlich, sondern die St. Petersburger Tschekisten) sich zurückhielten! Ich protestiere aufs Schärfste! … Es ist notwendig, die Energie und den Massencharakter des Terrors gegen Konterrevolutionäre zu fördern, insbesondere in St. Petersburg, dessen Beispiel entscheidend ist. Lenin.
Während die Tscheka Lenins Dekret in Petrograd hemmungslos umsetzte, traf es dort erneut einen, nämlich ihren eigenen Führer, den Bolschewiken Moisej Urizkij. Er wurde am 30. August 1918 in Petrograd erschossen. Am selben Tag trafen die Revolverkugeln in Moskau auch Lenin, nachdem der sozialrevolutionäre Terror die Hauptstadt bereits zuvor, am 6. Juli 1918, erreicht hatte, wo der deutsche Botschafter Graf Mirbach in der deutschen Gesandtschaft durch einen Sozialrevolutionär mit Revolverschüssen ermordet wurde. War Lenins Bedauern über diesen Mord noch recht gedämpft gewesen, fiel nunmehr nach dem Anschlag auf ihren Führer bei den führenden Bolschewiki jede Form der Zurückhaltung. Der Rote Terror nahm im ganzen Land seinen Lauf.
Während dieser Ereignisse hing die Herrschaft der Bolschewiki an einem seidenen Faden. An einem ebenso seidenen Faden hing das Leben von Grigorij Semjonow nach seiner Festnahme. Denn dass er selbst die beinahe tödlichen Schüsse auf Lenin abgegeben hatte, dürfte den Ermittlern geschwant haben. Doch irgendjemand muss ihn gedeckt haben. Irgendjemand, der dafür sorgte, dass der Verdächtige nicht nur auf freien Fuß kam, sondern dieser Irgendwer ließ ihn, wie zu allem Überfluss, auch noch in die Tscheka eintreten.
Damit Gras über die Sache wuchs, wurde Semjonow aus Moskau abgeschoben und musste sich an der sowjetisch-polnischen Front und im Bürgerkrieg bewähren. Dort setzte ihn die Armee- und Partei-Führung im Partisanenkrieg jenseits der Front ein, um die dort immer noch vorhandenen, herumvagabundierenden Sozialrevolutionäre zu infiltrieren. Bei diesem Tun geriet er in polnische Gefangenschaft.
Und erneut rettete ihn – obwohl er jetzt in den Händen unerbittlicher Gegner war – ein enger Kumpel aus den gemeinsamen sozialistischen Terror-Tagen vor dem Erschießungskommando, nämlich der damals prominente anti-sowjetische, sozialrevolutionäre Führer Boris Sawinkow. Was Semjonow diesem versprach, kann man bestenfalls ahnen. Jedenfalls kam er bald nach Moskau zurück, wo er ungesäumt das von Sawinkow zum Zwecke der Re-Organisierung der SR erhaltene Geld bei der Tscheka ablieferte.
Zum Dank nahm man Semjonow und seine Frau Natalja Bogdanowa in die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) auf. Hierzu, daran sei erinnert, bedurfte man einiger Leumundszeugen, Partei-Bürgen genannt. Selbst die hat es offenbar gegeben. Was bei dieser Gelegenheit in der Tscheka zwischen Semjonow und den Spitzenfunktionären vereinbart wurde, kann man bestenfalls aus dem folgern, was jetzt kommt. Es ist eine Schmierenkomödie, die selbst bei einer ZDF-Doku damals in Moskau abgelehnt worden wäre. Und so ging es zu:
Ende 1921 erschien in Berlin, in der dortigen russischen Emigrantenszene, eine Broschüre unter dem Autorennamen von „G. Ssemjonoff (Wassilieff)“ mit dem Titel: Военная и боевая работа Партии социалистов-революционеров за 1917-18 гг. [= Die Kriegs- und Kampfarbeit der Partei der Sozialrevolutionäre in den Jahren 1917/18]. In dieser Broschüre bezichtigt sich der Autor unter Nennung vieler Details, Anstifter und Organisator der Attentate auf Wolodarskij, Urizkij und Lenin gewesen zu sein. Als Reaktion hierauf beschloss das Zentralkomitee der Bolschewiki in Moskau, allen beteiligten Sozialrevolutionären den Prozess zu machen.
Dieser Prozess fand vom 8. Juni bis zum 7. August 1922 vor dem obersten Revolutionstribunal in Moskau statt. Hierüber wurde durch die Sowjet-Propaganda ausgiebig berichtet. Es wurden sogar zwei Stummfilme im Gerichtsaal gedreht. In einem der beiden Stummfilmstreifen liest der Anklagevertreter aus der gerade erwähnten Broschüre von Semjonow vor. Ich dachte deswegen zunächst, dass dieser im Prozess gar nicht anwesend gewesen sei. Doch das ist falsch.
In diesem Prozess spielte Semjonow eine Doppelrolle. Er war Angeklagter und Kronzeuge in einer Person. Er war, das ist hinzuzufügen, der einzige Zeuge der Anklage von einigem Gewicht. Was er sagte, führte dazu, dass 12 der Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Damit hatte die herrschende Clique der Bolschewiki zweierlei erreicht: Sie hatte die Führung der Sozialrevolutionäre zerschlagen, denen sie beim Landproletariat nicht das Wasser hatte reichen können, und sie hatte der Welt der Leichtgläubigen vorgespiegelt, was für ein rechtschaffenes System jetzt in Moskau am Ruder sei. Der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre wurde so zum Muster für alle Schauprozesse, die noch folgen sollten.
Die heimliche Hauptperson dieses Prozesses, Grigorij Semjonow kam, wegen seiner angeblich gezeigten Reue trotz verhängter Todesstrafe auf freien Fuß. Angesichts dieser zentralen Rolle wunderte es mich zunächst, dass in keinem der alsbald erschienenen, zum Teil reich bebilderten Prozessberichte ein Portrait von ihm zu sehen ist, auch nicht in den genannten Filmen. Oder doch nicht ganz: In dem einen von beiden wird er kurz genannt und beim Betreten des Gerichtsgebäudes im Gegenlicht bei der Ausweiskontrolle gezeigt.
Man kann das Gesicht nicht richtig erkennen. Die Regisseure des ganzen Theaters werden gewusst haben, warum. Auch seine Beschreibung durch einen Gerichtsreporter als blond, mittelgroß, in den Dreißigern und mehr wie ein Büroarbeiter, denn wie ein Revolutionär aussehend, ist nicht gerade aufschlussreich.
So bleibt Semjonow für uns trotz aller Öffentlichkeit ein Mann ohne Gesicht. Für seine Oberen war dies anders. Für sie galt zudem: Vertrauen gut, Kontrolle besser. So kam es, dass der windige Genosse an die nächste Bewährungsfront abgeordnet wurde. Nach einem Umweg über die Krim, wo er sich zusammen mit seiner Frau im September und Oktober 1922 wegen Überarbeitung und Ermüdung erholte, reiste er auf dem Ticket der GRU nach Berlin. Seine Elektriker-Erfahrung hatte ihn hierzu prädestiniert.
Drei
Die Firma Osram und das Arbeiterparadies
In Berlin besuchte Semjonow stehenden Fußes den Elektro-Konzern Osram, wo er ohne Verzug unter den dort arbeitenden Kommunisten, welche ihm die Genossen aus der KPD namhaft gemacht hatten, mindestens vier Agenten anwarb – von Vieren jedenfalls kennen wir die Namen.
Diese Neu-Agenten sollten die notwendigen Informationen über den Bau von Glühbirnen beschaffen. Ob sie das konnten: ein Werkzeugmacher, ein Dreher, ein Schlosser und ein Ingenieur? Ich vermag es nicht zu sagen, dafür aber dies: Sie versuchten sich zudem am Bau von Bomben, denn man hatte ihnen auch gesagt, dass der Deutsche Oktober nahe sei. Bei soviel revolutionärem Fleiß fielen sie auf, so dass sie genötigt waren, sich auf Geheiß ihres Führungsoffiziers dem Zugriff der preußischen Polizei durch Flucht in die Sowjetunion zu entziehen.
Willkommen im Paradies aller Werktätigen. Als erstes bekamen die vier Genossen von Osram neue Namen und dann einen neuen Parteiausweis, danach hieß es ran an die Arbeit im Moskauer Elektro-Kombinat Elektrosawod (Электрозавот). Ob es ihnen nunmehr an Ort und Stelle gelang, ihren sowjetischen Freunden das Geheimnis des Wolfram-Glühfadens zu entdecken, wird nirgends glaubwürdig erörtert.
Ich nehme indessen an, dass es für die Vier statt des Paradieses die Mühen der Ebene zu bewältigen galt, d.h. Mangel an allem, keine gescheite Wohnung und ziemlich knapp zu essen. Die Verhältnisse, sie waren so, und viel Elan war gefragt. Ob die Vier sich den neuen Sitten klaglos unterwarfen, weiß ich nicht. Der Umstand, dass sie aus Berlin stammten, lässt mich zumindest zweifeln, dass sie auf die zu Hause ortsübliche große Schnauze verzichteten.
Wie dem auch sei, zurück nach Berlin: Nachdem Semjonow seine Elektro-Spione Hals über Kopf quitt geworden war, wechselte er von Osram zur AEG und warb dort einen weiteren Mann. Es war der Werkzeugmacher Hans Ohlrich, den sein Führungsoffizier stolz dem Abgesandten aus Moskau, Nikolaj Bulganin, in Berlin präsentierte, damit dieser sich über die Betriebsgeheimnisse in der deutschen Elektroindustrie kundig machen konnte. Das blieb nicht unbemerkt, und so verschwand auch Ohlrich bald in der Sowjetunion, man schrieb das Jahr 1926. Zu dem Zeitpunkt war er nicht der Einzige, der sich auf den Weg ins Gelobte Land machte – Tausende von Gutgläubigen taten es ihm gleich.
Dann kamen ab 1934 die schauerlichen Jahre der Großen Säuberung. In diesen das weitere Schicksal der Glühbirnen-Helden aufzuklären, macht Mühe. Die neuen Zweit-Namen geben bei der Recherche Rätsel auf.
Vier
Cherchez la femme – Ester, die Frau des Genossen
Bei meiner Suche nach dem Ende der Elektro-Agenten konzentrierte ich mich zunächst auf deren ehemaligen Führungsoffizier, auf Grigorij Semjonow. Der hatte es Mitte der 1930er Jahre bis zum Brigade-Kommissar gebracht, das entsprach dem Rang eines Generalmajors. Er hatte sich bei den verzwicktesten Geheimdienst-Kapriolen in China, in der Mongolei und anderswo bewährt, als letztes beim Abweichler-Ermorden im Spanischen Bürgerkrieg.
Bevor ich jetzt auf das kurz und bündig darzustellende Ende dieses Hans-Dampf-in-allen-Gassen zu sprechen komme, nehme ich den Leser, in diesem Falle vor allem auch die Leserin, in eine Erzählschleife der sozialistischen Romantik mit. Realer Kitsch, rot angestrichen, wenn man so will. Als nämlich Grigory Semjonow guten Gewissens und mit Blut aus Spanien an den Händen von dort nach Moskau am 11. Februar 1937 zurückkehrte, wurde er stehenden Fußes noch auf dem Bahnhof durch einen Greiftrupp des NKWD verhaftet. Die Geheimpolizisten exekutierten einen Chefauftrag, den ihr Chef Nikolaj Jeshow („der
Zwerg“) von seinem Chef Stalin erhalten hatte, nämlich den Nachweis zu erbringen, dass sich Semjonow in höchster Heimlichkeit mit seinen rechten Spießgesellen verschworen hatte, den allseits geliebten Führer der Sowjetunion zu ermorden. Um einen Ansatz für dessen Geständnis zu gewinnen, durchsuchte man mehrfach auf das Gründlichste seine Wohnung. Dabei stießen die Ermittler zwar nicht auf das Erhoffte, dafür aber auf etwas, was ihren Chef und dessen Chef veranlasste, sich die Hände zu reiben. Ich spreche von Fotos.
Auf den Bildern waren nicht nur Semonjow und seine frühere Frau zu sehen, sondern auch Nikolaj Bucharin und dessen zweite Frau Ester Gurwitsch (Эсфирь Гурвич). Dem deutschen Leser bedeutet das nicht viel, der Sowjetmensch hingegen hebt die Augenbrauen. Bucharin war ein Spitzen-Genosse, einer von jenen, die mit Ergebenheit ihrem Halbgott Lenin angehangen haben. Dieser hatte Bucharin, für viele Ohren hörbar und zu Stalins eifersüchtigem Verdruss, als den Liebling der Partei bezeichnet. Jetzt stand er auf Stalins Abschussliste. Da kam eine Verschwörungsgenossenschaft Semjonow-Bucharin gerade recht.
Doch die Wirklichkeit war eine andere. Bucharins zweite Frau, Ester, ließ sich 1929 scheiden. Das Internet munkelt, sie, die Jüdin, habe ihren Mann vor antisemitischer Verfolgung schützen wollen. Woher will man das wissen? Aus den Zeugnissen der Tochter von den beiden, Walentina.
Doch wir betreten diese Brücke der Erkenntnisse nur auf Zehenspitzen, denn die Zeugin war, als die Eltern sich trennten vier Jahre alt. Ihren Vater sah sie hernach nie wieder, denn er hatte seine Frau, wie es nicht nur beim Spitzenpersonal zuweilen zu gehen pflegt, wegen einer anderen verlassen. Das klingt ein bisschen anders, ich weiß. Sie, die Neue, Anna Larina-Lurje, war, was bei diesem hässlichen Mann Wunder nimmt, eine ausgesprochene Schönheit.
Und die verlassene Ester? Die hatte einen Ersatz gefunden: unseren Helden Semjonow, der wiederum für sie seine eigene Frau Natalja verlassen hatte. Das Verhältnis hatte sich früh angebahnt. 1922 lernten die Beteiligten sich kennen, als Bucharin den Parteiauftrag erhielt, als offizieller Verteidiger von Semjonow im oben schon besprochenen Prozess gegen die Sozialrevolutionäre aufzutreten. Aus dem Parteiauftrag wurde eine Freundschaft, aus der Freundschaft eine Liebschaft. So kann’s gehen.
Bleibt nur noch die typisch männliche Frage: Wie sah sie eigentlich aus, diese Ester, um die sich zwischen den beiden Männern alles drehte. Das geschwätzige Internet wartet nur mit dem Bild einer sehr alten Frau auf. Doch zum Glück haben wir die Memoiren der Tochter. Da ist sie zu sehen, Ester, wie sie den beiden Männern damals erschienen sein muss. Jung und schön.
Am 11. Februar 1937 war Semjonow festgenommen worden. Seine Vernehmer benötigten geschlagene vier Monate, um das von Stalin geforderte Verschwörungs-Geständnis aus ihm herauszupressen. Dann ließ man ihn in Ruhe, hielt ihn als Zeugen auf Vorrat für etwa parallele Verfahren. Am 8. Oktober 1937 erhielt er die Anklageschrift als Spion und Konterrevolutionär und Terrorist ausgehändigt. Die Verhandlung am selben Tag dauerte von 20 Uhr 45 bis 21 Uhr.
Gerade genug Zeit, dass er sein Geständnis als erstunken und erlogen widerrufen konnte, und für die Verlesung des bereits fertigen Todesurteils. Danach wurde Semjonow umgehend aus dem Gerichtssaal geführt und ohne Verzug auf dem Gefängnishof erschossen.
Fünf
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan
Semjonows Ex-Elektro-Agenten ging es kaum besser: Der nunmehr 40jährige Ingenieur Franz Heisler – in den sowjetischen Akten kommt er als Franz Alfredowitsch Geisler (Гейзлер Франц Альбертович) vor – wurde am 12. März 1938 in Moskau als angeblicher deutscher Spion festgenommen, am 17. Mai zum Tode verurteilt und schließlich wenige Tage später, am 25. Mai 1938, auf dem Schießplatz Butowo bei Moskau erschossen. Dass er 1959 rehabilitiert wurde, nützte ihm nichts mehr, vielleicht aber seiner Ehefrau und nunmehrigen Witwe Emmi Heisler, die man nach seiner Festnahme ins ferne Karaganda verbannt hatte. Es ist wahrscheinlich, dass sie 1960 nach Deutschland zurückkehren durfte.
Ich blicke mit Erstaunen auf das Haft-Foto von Heisler. Ein freundlicher Mann mit Dreitagebart. Das Bild unterscheidet sich von Hunderten von NKWD-Haft-Fotografien, die ich bereits betrachtet habe, und zwar dadurch: Es scheint dem Delinquenten nicht klar zu sein, dass er in wenigen Tagen sterben wird. Das Gesicht sagt stattdessen: Es ist ein Irrtum. Ich kann das klarstellen. – Was für ein Irrtum.
Und weiter: Der Dreher Willi Koch war in Max Schmor umgetauft worden. Er wurde am 29. Dezember 1937 zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt, die er in Uralsk verbringen musste, um anschließend eine 10jährige Verbannung nach Kasachstan zu kassieren. 1956 kehrte er nach Moskau zurück.
Der Schlosser Julius Hoffmann, immerhin war er 1919 einer der Mitgründer der KPD gewesen, verschwand spurlos im Nichts, möglicherweise kam er in der Sowjetunion 1945 ums Leben. Die zugehörige Akte weist indessen ein für unsern Julius unschlüssiges Geburtsjahr aus.
Der Mechaniker Emil Deibel hatte schon in den 1920er Jahren bei der GRU angeheuert. 1935 liefen er und Semjonow sich bei einem geplanten China-Auftrag kurz über den Weg. Danach wird er für mich erst im Frühjahr 1941 wieder in einer Akte sichtbar, von der Gestapo zur Fahndung und Festnahme in der Sowjetunion ausgeschrieben. Ob er da noch lebte, das weiß ich nicht.
Und schließlich Hans Ohlrich, der Werkzeugmacher aus der AEG. Auch er wurde wg. Spionage verurteilt. Als er 1956 rehabilitiert wurde, war er im Gegensatz zu den meisten seinen Genossen noch am Leben, denn er durfte in die DDR zurückkehren, wo er – seinen Glaubensgrundsätzen treu geblieben – Ehrenmitglied in der SED-Leitung des Berliner Bezirks Treptow wurde.
Was hatten sie erreicht? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Doch die sowjetische Propaganda war sich sicher – jedenfalls 1925, als man mit großem Aufwand deutsche Fachkräfte nach Sowjetrussland anwarb: Sie hatten dem Bauern und seiner Frau im Dorf Butono, Region Moskau, die Glühlampe gebracht.
Und schließlich: Was hatte die jungen Männer, die in den 1920er Jahren gläubig und voller Optimismus in die Sowjetunion reisten, für sich selbst erreicht? Wenn sie Glück hatten, ein verpfuschtes Leben.
©Helmut Roewer, September 2023
Hinweis auf ausgewählte Quellen: Unverzichtbar sind die Arbeiten von Alexander Watlin (Vatlin) und
meines früheren Bonner Kollegen Wilhelm Mensing über die Emigration Richtung Sowjetunion sowie die
Remigration nach Deutschland und über die Zusammenarbeit von NKWD und Gestapo, ebenso die
Sonderfahndungsliste SU des Reichssicherheitshauptamtes und die Repressions-Verzeichnisse der
verschiedenen russische Opfer-Organisationen. Eine neuere Arbeit (2000) zur Arbeitsemigration stammt
von Sergej Shuraljew: ‚Malen’kie ljudi‘ i ‚bol’šaja istorija‘. Inostrancy moskovskogo Elektrozavoda v
sovetskom obščestve 1920-ch – 1930-ch gg. [‚Kleine Leute‘ und ‚Große Politik‘. Ausländer des Moskauer
Elektrowerkes in der sowjetischen Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre]. Auf spezielle Hinweise
zur Geschichte der Sowjetunion und deren Dienste verzichte ich an dieser Stelle. Sie können im
Bedarfsfalle bei mir abgefragt werden.
Für zukünftige Verwendung in zu schreibenden Büchern:
Электрозавод
Эсфирь Гуревич
Danke, doch zu 2 nein, dachte ich auch erst, doch sie hieß wirklich Gurwitsch und nicht Gurjewitsch.
Wenn man damals vor europäischen Wirren sicher sein wollte, ging man am besten nach Südamerika, welches sicherheitshalber hinter 2000 Seemeilen grauen Wassers liegt.
Geht heute leider auch nicht mehr.
Warum soll immer der „kleine Mann“ abhauen?
Wohl eher die, die das Treiben verrückt machen.
Gilt heute mehr denn je.
Die müsste der „Kleine Mann“ dann aber rauswerfen anstatt ihnen hintenrein zu kriechen. Wird der Restdeutsche nie tun, selbst jetzt im Angesicht des Todes.
Es gibt eben von Anbeginn der Welt Auswanderungs- und Einwanderungsländer, werden die Fachkräfte auch bald merken.
Großartiger und berührender Text Herr Roewer. Und natürlich überaus lehrreich.
Leicht, ziemlich leicht kann man alles verlieren wenn man sich mit schwer berechenbaren Mächten einlässt. Selbst dann, wenn man nur ein liebenswürdiger Kindskopf und kein ausgesprochener Drecksack wie Gospardin Semjonow ist.
Andererseits sind im 2.WK 50 Millionen ums Leben gekommen, die allermeisten annähernd unschuldig.