Dostojewski und Rußlands Sozialismustrip

„Noch niemals war Europa mit solchen feindlichen Elementen durchsetzt wie heute, es scheint ganz unterminiert, mit Pulver geladen zu sein und wartet nur auf den ersten Funken.“

Solche und ähnlich finstere Prophezeihungen Dostojewskis trafen den intellektuellen Geschmack in Berlin: die drohende Heraufkunft unheimlicher Mächte des Ostens, der russische Mensch mit seiner abgründigen Seele als Zerstörer und Erlöser des „verfaulten“ Westens. Diese Verheißungen deckten sich in ihrem Inhalt mit Nietzsches Lehre vom Seil über dem Abgrund.

Thomas Mann sprach 1920 von der „Herrschaft Dostojewskis über die europäische Jugend“, Ferdinand Avenarius widmete 1921 eine Nummer des „Kunst- und Kulturwarts“ der Dostojewski-Verklärung, von allen deutschen Verlagen wurden allein 1921 203.000 Dostojewski-Bücher verkauft. Oswald Spengler hielt in „Preußentum und Sozialismus“ fest:

„Das Russentum sieht in der Welt des Kapitalismus einen Feind… empfindet das Denken in Geld als Sünde. Die Maschinenindustrie ist ihrem Geiste nach unrussisch…und das schweigende Russentum der Tiefe hat sich inzwischen längst vom Westen abgewandt und blickt nach Asien.“

Dostojewskis Roman-Helden waren idealistische Träumer, die an das Gute bis zum Exzeß glauben und damit oft gegen Widerstände aufliefen, bis zum Scheitern. In dieser Rolle konnte man sich als Nachkriegsdeutscher wiedererkennen, wenn man selbst etwas spinnerig war.

Er sei Veränderer der psychischen Situation von Generationen gewesen (Jakob Wassermann), er sei zum bleibenden Bestandteil deutschen Geistes geworden (Theoderich Kampmann), mythische Urgestalt (Stefan Zweig), er habe keine edle, sondern eine dämonische Seele, was ihm einen Zug ewiger Wesenheit verleihe (Eduard Thurneysen), er sei die Höllenfahrt des Sünders und die Auferstehung des Heiligen (Werner Mahrholz). Thomas Mann sprach von der heiligen russischen Literatur, vom Kampf ums neue Menschentum, die neue Religion, der nirgends kühner und inniger geführt werde, als in der russischen Seele. Arthur Luther schrieb 1923:

„Noch nie ist der deutsche Büchermarkt so mit Übersetzungen aus dem Russischen überschwemmt gewesen, wie heute…Die Russen haben uns plötzlich ungemein viel zu sagen, – nicht bloß weil wir uns ihnen schicksalsverwandt fühlen, nicht bloß weil man vielfach glaubt, nur der Anschluß an Russland könne uns aus unseren politischen und sozialen Nöten helfen, sondern weil wir in den Erlebnissen der russischen Seele vieles entdeckt haben, was uns unmittelbar ergreift, was unserem eigenen Erleben entspricht.“

Die deutsche Intelligentsia sah damals in den Spiegel der russischen Literatur und erkannte sich als erniedrigte und beleidigte Versailler Leberwurst.

Es gab gegen die Dostojewski-Hysterie aufgeklärten Widerstand. Unter dem Pseudonym „Sir Galahad“ (die Anonymität lässt in das stürmische Wasserglas der aufgepeitschten Stimmung tief blicken) schrieb Berta Diener-Eckstein 1925 ihren „Idiotenführer durch die russische Literatur“: mit Dostojewskis Idioten habe die systematische Welthetze auf den vornehmen Menschen begonnen. Josef Hofmiller assistierte in den Süddeutschen Monatsheften:

„Daß Dostojewskis Geistigkeit eine Vorform des Bolschewismus ist; daß Lenin und Trotzki nur ernten, was er gesät hat.“

Mit dem marxistischen Sozialismus in Sowjetrußland als Folge des naturgesetzlichen Reifens der kapitalistischen Produktionsverhältnisse war es in einem überwiegenden Agrarland nicht weit her. Die Stalinisten warfen ein marxistisches Mäntelchen über den elitaristischen Revolutionsbetrieb, der durch deutsche Millionen und Ideen der deutschen Jugendbewegung gespeist wurde. Lenins „Was tun“ war in München unter dem Einfluß der Lebensreform geschrieben worden. In den folgenden Jahrzehnten war man in der Geschichts-Abteilung der KPdSU fleißig bedacht, alle Spuren zu verwischen, die in die jugendbewegte rechte Ecke führten. Die rußlandfreundlichen Zitate von Thomas Mann, Alfons Paquet, Ernst Jünger und Ernst von Salomon hielt man lieber im sogenannten Giftschrank verschlossen, ebenso wie Lenins und Trotzkis Besuch auf dem Monte Veritá. Was Lenin in der sibirischen Verbannung alles gelesen hatte, wurde in „Dokumente seines Lebens“ akribisch aufgeführt, über die Münchner und Schweizer Zeit schwieg man sich eisern aus.

Auch die hinsichtlich des Verhältnisses Lenins zum Marxismus scharfsinnigen Analysen, veröffentlicht von Joseph Goebbels 1925 in den „Nationalsozialistischen Briefen“, verschwieg man geflissentlich: Seit dem Tode Lenins und der Ausschaltung Trotzkis vollziehe sich derselbe Prozeß der völkischen Reinigung wie in Deutschland. Rußland werde im Geiste Dostojewskis erwachen. Ein vom jüdischen Internationalismus befreites und zum sozialistischen Nationalstaat transformiertes Rußland werde der uns von Natur gegebene Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens sein. „Lenin opferte Marx und gab dafür Russland die Freiheit…“

Hannah Ahrendt wehrte rückblickend im ersten Teil der „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ die panslawistische Kulturpropaganda gegenüber Europa, wie sie von Dostojewski betrieben wurde, ab: In dieser Literatur, entstanden in bürokratisch-despotischer Willkür und trägem Chaos, sei in einer schier unendlichen Variation von Einfällen das flache, sterile und nur zivilisierte Europa, das nicht weiß, was Leiden und Opfer sind, der Tiefe und ursprünglichen Gewalttätigkeit Russlands gegenübergestellt worden. Stets habe es dem Leser so erscheinen müssen, daß die östliche Seele unendlich reicher, ihre Psychologie unendlich komplizierter und ihre Literatur unendlich tiefer sei, als die der westlichen Völker.

Die Masse nicht nur der deutschen Intellektuellen trabte im reformistischen Zug der Lemminge. In der russischen Seele wurde von der europäischen Reformgeneration die „junge Seele“ erkannt. Alfred Henschke (Klabund) schrieb:

„Die nächste Zukunft der Erde hängt von den großen Völkern ab, in denen Gottes Traum am lebendigsten geträumt wird: von Rußland und Deutschland.“

In dieser jugendbewegten intellektuellen Atmosphäre kam es in Berlin schnell zu einem Exodus der russischen Emigrantenszene. Mitte der zwanziger Jahre verließ dieses Klientel „gewesener Menschen“ (ein boshafter Wandervogelterminus) aus Sozialdemokraten, Liberalen und Monarchisten fast fluchtartig Deutschland. Es war in diesem literarischen Schafs- und Affenstall mit seinem roten Pestgestank für normale Menschen einfach nicht mehr auszuhalten.

Gerade aktuell ist es erforderlich, Rußland realistisch einzuordnen, ohne billiger Propaganda auf den Leim zu gehen. Sicher, der Zarismus hat immer expansiv gedacht und gehandelt. So wie andere Mächte auch. Sonst wäre Rußland auf der Landkarte nicht so groß. Weitaus gefährlicher als ein zaristisches ist aber ein sozialistisch aufgepimptes Regime in Moskau. Die zaristische Herrschaft in Finnland, Polen, dem Baltikum und Mittelasien war drückend, so wüste wirtschaftliche Trümmerhaufen und menschliche Wracks, wie Rußland 1945 bis 1990 in Osteueropa hinterlassen hat, brachten die Zaren nicht zustande. Die größte Gefahr wäre es, wenn wieder eine explosive Mixtur aus dem importierten Sozialismus (z.B. des großen Reset) und der traditionellen Orthodoxie entstehen sollte.

Weiterführende Literatur: Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München 2005

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: Die Realisten glauben, es kommen Ufos mit grünen Männchen und Dollarbergen. Die Utopisten glauben, die Russen krempeln die Ärmel hoch und arbeiten. (Satire aus Moskau, 90er Jahre)

 

Beitragsbild: Lenin und sein Finanzier.