Zensoren diskutieren die Zensur

Immer wenn alles unlogisch und wirr wurde, kam der Stabülehrer mit Hegels Dialektik. Damit ließ sich alles vernebeln, ja geradezu auf den Kopf stellen. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit zum Beispiel. Aus aktuellem Anlaß – eine EU-Zensurinitiative ist in Arbeit – lud Frau Kraischberger zu einem Fernsehstuhlkreis ein. Erschienen waren folgende Experten: Fürst Metternich als Urheber der Karlsbader Beschlüsse, der von seinen Gegenern als Fürstenknecht abqualifizierte Geh. Rath v. Goethe, der Elitenphilososoph Herr Friedrich Nietzsche auch aus Weimar, Reichspropagandaminister Dr. Goebbels, Schnüffelschwein Mielke, Kommisionspräsidentin vdL  und als Konterpart der fremdenfeindliche und islamophobe, vermutlich durch Kontaktschuld AfD-kontaminierte Freiheitsphantast Voltaire.

Kraischberger griff dem Stier gleich in die Hörner, als sie Friedrich Nietzsche die Frage stellte, warum die Weimarer Republik keiner Zensur bedurfte. „Das lag an der Stärke des von mir geschaffenen Narrativs. Von allem Geschriebenen liebte ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist. Es gab in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts niemanden, der gegen mich aufmuckte. Zu meinem Ziele wollte ich, ich ging meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen sprang ich hinweg. Also war mein Zarathustra ihr Untergang!“

Dr. Goebbels protestierte: „Quatsch, jedesmal wenn in Weimar der Notstand verkündet wurde, wurden unsere Parteipresse und die Sturmabteilungen der Arbeiterklasse verboten. Was über Weimar verbreitet wird, sind Fakenews aus dem Phantasyprogramm der Historiker.“

„Aber ihre Partei hat doch auch zensiert!“, hakte Kraischi nach.  „Ja, darum haben wir das Ermächtigungsgesetz ja gewollt. Die Stärke des nationalsozialistischen Staates besteht in seiner Verbundenheit mit den Volksgenossen. Es liegt im Wesen der sozialistischen Ordnung, daß sich die zentralisierte staatliche Führung mit der Initiative der Werktätigen in den Arbeitskollektiven verbindet und die konkreten örtlichen Besonderheiten berücksichtigt. Der vom Führer geführte sozialistische Staat entfaltete seine wirtschaftlich-organisatorische und seine kulturell-erzieherische Tätigkeit immer mehr. Die Haltung der deutschen Presse im Dritten Reich wurde durch die primäre Kraft des nationalsozialistischen Ideenguts bestimmt.“

An dieser Stelle wurde Fürst Metternich wütend: „Gegen diesen blöden Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit hatte ich immer gekämpft, besonders mit den Karlsbader Zensurbeschlüssen. Er verwies auf das Buch „Deutsches Vokstum“ von Turnvater Jahn: „Wer seinen Kindern die französische Sprache lernen läßt, ist ein Irrender, wer darin beharrt, sündigt gegen den heiligen Geist. Wenn er aber seinen Töchtern französisch lehren läßt, ist das ebenso gut, als wenn er ihnen Hurerei lehren läßt. Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück.“ Kraischi wollte ihn unterbrechen, aber der Fürst war übelst in Fahrt gekommen: „Meine Bemühungen für Frieden und Völkerfreundschaft werden von verständnislosen Literaten immer wieder in den Schmutz getreten. Mein Biedermeier war die freiheitlichste Zeit!“

Kraischberger kam nun nicht umhin, an dieser Stelle den Zeitgenossen und -zeugen Geheimrath von Goethe einzubeziehen. „Dummes Zeug kann man viel reden, kann es auch schreiben, wird weder Leib noch Seele töten, es wird alles beim alten bleiben. Was ich sagen wollt, verbietet mir keine Zensur! Was euch die heilige Preßfreiheit für Frommen, Vorteil und Früchte beut? Davon habt ihr gewisse Erscheinung: Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.“

„Aber sie dachten doch in der Jugend ganz anders?“, warf Kraischi ein und zitierte den Prometheus: „Hier sitz’ ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sey, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, und dein nicht zu achten, wie ich!“ Der Geheimrath verdrehte die Augen und erwiderte: „Was mir später aber noch mehr auffiel, war, daß während des Sturm und Drang ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in den höheren Ständen verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles zu verlieren sei, um irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu erlangen.“

Zufrieden damit hakte Erich Mielke, der eingeborene Exekutor der besatzenden Ausländer, ein (die Germanen hätten ihn als Verräter im Sumpf ersäuft, oder im Moor, wenn sie eins gehabt hätten): „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik übten ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatte das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Niemand durfte benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch machte. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens war gewährleistet. Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik waren unantastbar. Zum Schutze seiner Freiheit und der Unantastbarkeit seiner Persönlichkeit hatte jeder Bürger den Anspruch auf die Hilfe der staatlichen und gesellschaftlichen Organe. Das Post- und Fernmeldegeheimnis waren unverletzbar.“

Goethe verleierte seine Augen schon wieder. Als Ex-Ministerpräsident schauerte es ihm angesichts der vielen Garantien. Mit solchen Gesetzen könne man allenfalls einen fiktiven Idealstaat führen. „Aristokratismus im eigentlichen Sinne ist das Einzige und Rechte. Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.“ Mielke mit seiner Verfassung von 1974 war bei ihm durch.

Kommissionspräsidentin vdL, bekannt geworden durch ihr Netzsperrenprojekt aus dem Jahr 2009, deshalb mit dem Nicknamen Zensursula belastet, war der Geburtshelfer der seinerzeit erfolgreichen Piratenpartei. „Wir wissen, daß bei den vielen Kunden, die es gibt, rund 80 Prozent die ganz normalen User des Internets sind. Und jeder, der jetzt zuhört, kann eigentlich sich selber fragen, wen kenne ich, der Sperren im Internet aktiv umgehen kann. Die müssen schon deutlich versierter sein. Das sind die 20 Prozent. Die sind zum Teil schwer Pädokriminelle. Die bewegen sich in ganz anderen Foren. Die sind versierte Internetnutzer, natürlich auch geschult im Laufe der Jahre in diesem widerwärtigen Geschäft.“

Der Geh. Rath Goethe, der geflissentlich die Kegelkinder seines Herzogs unter die Förster verteilt hatte, nahm es mit der Altergrenze von Konkubinen nicht so ernst. „Find, daß es wie mit den Kindern ist, da doch wohl immer die schönste Frist. Bleibt, wenn man in der schönen Nacht Sie hat zur lieben Frau gemacht.“ VdL murmelte empört was vor sich hin, was der Respekt vor der deutschen Klassik verbietet zu zitieren.

Die Talkshow war Kraischi jetzt völlig aus dem Ruder gelaufen, und nun hatte sie vom Krähenbergstudio auch noch einen Einspieler zu Voltaire vorbereiten lassen, der aus Paris zugeschaltet war. Zeitweise hatte sich der Dichter mit großen Teilen seines Vermögens an Reedereien beteiligt, die, wie damals im Dreieckshandel zwischen Frankreich, Westafrika und den Antillen üblich, Sklaventransport betrieben. Das wurde nun in einem von Übeltschech hergestellten Video breitgetreten, um ihn als Rassisten zu brandmarken. Als nächstes wurde die geplante Entführung einer siebzehnjährigen Freundin gezeigt, aber da hatte es schon Knacks gemacht und Voltaire war aus der Leitung. Damit war der einzige Kritker der Zensur offline.

Nietzsche nutzte das entstandene schwarze Loch, das freigewordene Zeitbudget (viel war für Voltaire ohnehin nicht geplant gewesen), für eine seiner frauenfeindlichen Suaden: Es sei besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als in die Träume eines schnatternden Weibes. Bevor er eine despektierliche Bemerkung über Kraischberger als Kuh unterbringen konnte, schnitt sie ihm das Wort ab: Sein Einwand sei der Beweis, daß man Zensur unbedingt brauche.

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Schätze diejenigen, die die Wahrheit suchen, aber hüte dich vor denen, die sie finden.“ (Voltaire)