Zwei Kulturschaffende über verlorene Illusionen

Jan Küveler wurde 1979 geboren, hat seine Schuljahre in Königstein am Taunus verbracht, das ist nicht gerade das Armenhaus von Hessen. Als der Stacheldraht aufgeschnitten wurde war er zehn. Sascha Lehnartz wurde 1969 in Remscheid geboren, war 1989 immerhin schon zwanzig. Sie haben versucht, in der WELT einen Eintrag über die Nachkriegszeit zu schreiben.

„Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Deutschen selbstverständlich mit dem Gefühl von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aufgewachsen. Dann kam eine Pandemie, und der russische Präsident griff die Ukraine an. Die Gewissheit von Unabhängigkeit, Demokratie und Glück ist verflogen.“

Daß eine Minderheit von etwa einem Fünftel der Deutschen, Sachsen, Thüringer, Brandenburger und Mecklenburger, diese Gewißheiten nie hatte, kommt ihnen garnicht erst in den Sinn. Aber auch was die Wessis betrifft, hege ich so meine Zweifel.  Ich war 1989/90 nach Darmstadt zum Arbeiten gefahren. Es gab in dieser Universitätsstadt im inneren Zirkel kaum eine Wand, die nicht mit Parolen zur Befreiung der RAF-Gefangenen beschmiert war. Ich kam mir optisch vor wie im Krieg. Die Leute, die älter waren als 4o. mit denen gab es eine Basis der Verständigung. Mit jüngeren, die in meinem Alter waren, kaum. Es waren, was die zur Illusion privilegierten Stände betrifft, verwöhnte Egomanen, die ein bestimmtes Auftreten hatten.

Fast die ganze erste Garde der Berliner Politiker, die man den 68ern zurechnet, waren entweder Maoisten, Anhänger von Pol Pot, Che Guevara, Enver Hodscha, Karl Marx oder Erich Honecker. Was Kretschmann, Trittin, Scholz, Roth, Steinmeier & Co von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hielten, ist sonnenklar. Nichts.  Über die etwas jüngeren schreiben Küveler und Lehnartz:

„Die Alterskohorte der heute etwa 50-Jährigen gehört zu jener Generation, die den Mauerfall als junge Erwachsene erlebte – und heute politische Verantwortung trägt. Sie bekam die Freiheit praktisch zum Abi geschenkt. Sie stand Silvester 1989 am Brandenburger Tor und johlte mit David Hasselhoff „Looking for Freedom“. Stand im folgenden Sommer auf dem Potsdamer Platz beim „The Wall“-Konzert des Pink-Floyd-Mitgründers Roger Waters. Trällerte „Wind of Change“ mit, die Hymne der Scorpions, die bald überall im Radio lief.“

Ich stand mit Ronni, einem Ossi aus Weimar, den es auch wegen der Arbeit nach Darmstadt verschlagen hatte, 1990 in einem Büroflur am Kopierer, als zwei 20jährige hessische Praktikanten sich anstellten, die sich über das Lackieren von Fingernägeln unterhielten. Ronni und ich, wir sahen uns an und fragten uns wo wir hier gelandet waren. Am Abend im Odenwald bei einem Bierchen konnten wir sogar drüber lachen. Aber das ist mir inzwischen vergangen. Viele haben die Freiheit nicht zum Abi geschenkt bekommen, sondern sind antiautoritär oder garnicht erzogen worden. Das hat aber mit Freiheit wenig, mit Verwilderung viel zu tun.

Was mir an den Gymnasien im Westen aufgefallen ist (meine Tochter besuchte schon in den 80ern eins): Die Schüler wurden weniger auf Fakten, mehr auf Selbstdarstellung und Präsentation getrimmt. Am Anfang der 90er gab es im Osten eine boshafte Replik darauf: „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum.“

Was nun der tiefere Grund für die von Küveler und Lehnartz beklagten Mängel ist: Ich weiß es auch nicht wirklich. Meinen nähereren Bekanntenkreis beschäftigt der Diesel- und Flüssiggaspreis mehr als der Krieg.

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: Heute war ich in Weimar, da liefen russische Touris rum. Offensichtlich hat man ihnen trotz der Sanktionen noch eine Herberge gewährt und sie haben ein Frühstück bekommen. „„Nach Tische komm ich wohl, schicken Sie mir durch Überbringern meinen Schwartenmagen und eine Bratwurst.“ (Geh. Rath v. Goethe an Ch. v. Stein am 25.02.1778)

 

Beitragsbild: Illustration zu „Doctor Syntax’s three tours: in search of the picturesque consolation and a wife“ (Archiv des Verf.)