Die Verhinderung des deutschen Europa

Radio France Internationale (RFI) hat eine rumänische Ausgabe. Dort habe ich einen aufschlußreichen Eintrag zum französisch-deutschen Verhältnis gefunden und übersetzt.

„Auf den ersten Blick hätten die Franzosen Grund zur Freude über den Führungswechsel in Deutschland. Olaf Scholz hat gesagt, er wolle alles tun, um Europa dazu zu bringen, „vorwärts zu gehen“. Präsident Emmanuel Macron hat in den letzten vier Jahren immer wieder ehrgeizige Vorschläge für Europa gemacht, aber Merkels höfliche Gelassenheit ist ihnen aufgefallen. Die Wahrheit ist, dass der Altkanzler dem ungestümen und jungen französischen Präsidenten immer geduldig zugehört, ihm aber nicht gefolgt ist…

Nicht umsonst veröffentlicht die Tageszeitung Le Figaro Macrons Europa-Rede mit einem Leitartikel auf der Titelseite mit dem Titel „Deutsches Europa“. Der Artikel hat die Bedeutung einer Warnung. Sein Autor, Philippe Gélie, ist der Meinung, dass Berlin wirklich über den gegenwärtigen Zustand Europas hinausgehen möchte und als Hauptdimension den Gemeinsamen Markt hat. Olaf Scholz stimmt Emmanuel Macron in einem wichtigen Punkt zu: Beide glauben, dass Europa eine strategische Souveränität schmieden muss, um auf der internationalen Bühne ein größeres Mitspracherecht zu haben. In Bezug auf den Föderalismus unterscheiden sich ihre Visionen jedoch. Die neue Koalition in Deutschland will eine Weiterentwicklung Europas hin zu einer Art europäischer Bundesstaat, was eine Überarbeitung einiger Verträge mit sich bringen würde. Oder Frankreich fürchtet sich vor diesem Szenario, das der Formel entsprechen würde, die der Le Figaro-Redakteur im obigen Titel heraufbeschwört: „Deutsches Europa“.

Wie Emmanuel Macron praktisch in den Präsidentschaftswahlkampf im nächsten Jahr einsteigt, wenn er vor den Wählern für das von den Deutschen gewollte föderale Europa plädiert, würde er nur Verdacht erregen… Emmanuel Macron will ein starkes Europa, ausgestattet mit militärischen Fähigkeiten, die weltweit Respekt einflößen. Wird Paris dem Berliner Vorschlag zur Einrichtung eines europäischen Außenministeriums zustimmen? Oder mit der Idee, eine Regel aufzugeben, die bisher Entscheidungen zugrunde lag, nämlich die der Einstimmigkeit? Am Horizont steht eine interessante Baustelle mit vielen Debatten. „In diesem Spiel der Machtverhältnisse führt ein europäischeres Deutschland zu einem deutscheren Europa“, schreibt der Leitartikler von Le Figaro…“

Auf dem Voltaire-Blog beschreibt Thierry Meyssan die militärischen Neuerungen der französischen Politik:

(…) Jahrelang übernahmen Deutschland und Frankreich die Führung dessen, was zur Europäischen Union wurde. François Mitterrand und Helmut Kohl dachten, den Gemeinsamen Markt in einen supranationalen Staat zu verwandeln – immer noch ein Vasall der Vereinigten Staaten –, aber fähig, mit der UdSSR und China zu konkurrieren: die Europäische Union. Diese Struktur, von der die Vereinigten Staaten verlangten, dass ehemalige Warschauer-Pakt-Mitglieder gleichzeitig mit ihrem Nato-Beitritt ihr beitreten, wurde zu einer kolossalen Bürokratie.(…)

Die britische und französische Armeen waren die beiden einzigen, die in der Europäischen Union zählten. Sie kamen sich daher mit den Lancaster-House-Verträgen im Jahr 2010 näher. Doch als der Brexit stattfand, war die französische Armee wieder allein, wie die Kündigung der französisch-australischen Verträge über den Bau von U-Booten zugunsten Londons zeigt. Die einzige Möglichkeit, die Frankreich blieb, war, sich der italienischen Armee anzunähern, obwohl zweimal kleiner als die französische. Das ist, was gerade mit dem Quirinal-Vertrag (2021) beschlossen wurde. Diese Operation wurde durch die gemeinsame Ideologie von Emmanuel Macron (ehemaliger Banker bei Rothschild) und Mario Draghi (ehemaliger Banker bei Goldman Sachs) und ihre gemeinsame Führung bei der politischen Reaktion auf die Covid-Epidemie erleichtert. Nebenbei gesagt, wird man den unglaublich politisch korrekten Jargon bemerken, in dem dieses Dokument geschrieben ist, sehr weit entfernt von lateinischen Traditionen.

Dazu kommt noch, dass Kanzlerin Angela Merkel im gleichen Moment ihren Posten an Olaf Scholz abtritt. Dieser kümmert sich nicht im Geringsten darum, weder um die militärischen Fragen noch um die französischen und italienischen Haushaltsdefizite. Der Koalitionsvertrag seiner Regierungrichtet die deutsche Außenpolitik in jeder Hinsicht auf die der Angelsachsen (USA + Vereinigtes Königreich) aus. (…)

Olaf Scholz ist ein Rechtsanwalt, dem es darum geht, die Industrie seines Landes auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Schwung zu halten. Er war in internationalen Fragen nie sehr präsent Er ist im Begriff die Grüne Annalena Baerbock zur Außenministerin zu ernennen. Sie ist nicht nur eine Verfechterin kohlenstofffreier Energie, sondern auch eine Einflussagentin der NATO. Sie unterstützt nachdrücklich das Prinzip des Beitritts der Ukraine zur NATO und zur Europäischen Union. Sie ist gegen Russland und lehnt daher die Nord Stream 2-Pipeline ab (…)  Schließlich beschreibt sie China als „systemischen Rivalen“ und unterstützt alle seine Sezessionsbewegungen, von Taiwan, Tibet und der Uiguren.

Es ist absehbar, dass sich die Politik von Berlin und Paris daher langsam voneinander wegbewegen wird, bis der Konflikt zwischen den beiden Ländern wieder auftaucht, der drei Kriege zwischen 1870 bis 1945 auslöste. Entgegen der Werbung wurde die Europäische Union, wie ich bereits erwähnt habe, nicht geschaffen, um den Frieden in Westeuropa zu sichern, sondern um die Bevölkerungen im angelsächsischen Lager während des Kalten Krieges zu stabilisieren. Der deutsch-französische Konflikt wurde nie gelöst. Die Europäische Union, weit davon entfernt Frieden zu schließen, hat das Problem eher erstickt, als es zu lösen. Während der Jugoslawienkriege gerieten die beiden Länder militärisch hart aufeinander: Deutschland unterstützte Kroatien, während Frankreich Serbien unterstützte. Berlin und Paris verstanden sich innerhalb der Unionsgrenzen, befanden sich aber außerhalb miteinander im Krieg. Die Spezialisten für Spezialoperationen wissen, dass es auf beiden Seiten Tote gegeben hat.

Es ist offensichtlich, dass wir nun in die Phase der Auflösung der Europäischen Union eingetreten sind. Es ist eine Chance für alle, ihre volle Unabhängigkeit wiederzuerlangen, da diese Struktur so sklerotisch ist. Es ist aber auch und vor allem eine Herausforderung, die schnell in ein Drama umschlagen kann. Die Vereinigten Staaten brechen in sich selbst zusammen, und bald wird die Europäische Union keinen Oberherrn mehr haben. Diejenigen Länder, die die EU bilden, müssen sich gegenüber den anderen positionieren. Es ist äußerst dringend, uns nicht mehr als bloße Handelspartner, sondern als Partner in allen Dingen zu verstehen. Wenn dies nicht geschieht, wird es unweigerlich zu einer Katastrophe, zu einem allgemeinen Krieg führen.“

Wer die europäische Politik verfolgt, hat sicher bemerkt, daß der polnische Premier nach Rom geflogen ist, kaum daß Macron die ewige Stadt verlassen hatte. Um Deutschland herum werden Bündnisse geschmiedet, Abreden getroffen, ein Thema ist zum Beispiel die Heiligsprechung von Kernkraft in Brüssel, um Förderungen für den Kraftwerksbau zu erlangen. Annalena hat tölpelhaft wie sie ist, in Paris gegen die Nutzung der Kernkraft plädiert. Der französische Außenminister guckte etwas gequält. Hält Frankreich an der Kernkraftnutzung fest, ist die französische Wirtschaft gegenüber der deutschen wettbewerbsmäßig über Jahrzehnte in einer Komfortsituation. Macron wäre mit dem Klammeraffen gepudert, wenn er den grünen Wünschen aus Germanien nachgäbe.

Nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU ist Deutschland in der EU in einer Minderheitenposition und wird von Paris nicht mehr dringend gebraucht. Das hat man in Berlin noch nicht begriffen und reitet die toten Pferde von Ausgabendisziplin, Windenergie, der Bundeswehr als lächerlichen Microorganismus und des europäischen Bundesstaats.

Es riecht nach einer isolierten deutschen Position wie 1914. Sie wurde nicht von Scholz herbeigeführt, ist seit zwei Jahrzehnten durch Ungeschick entstanden, aber Scholz tut zu wenig, um das Ruder herumzureißen. Als erstes müßte er sich von den Grünen trennen, die außenpolitisch ein schwerer Rucksack sind und sie durch die AfD ersetzen. Aber er will ja gegen Rechts kämpfen. Armes Deutschland!

 

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: RFI berichtet in Rumänisch, Englisch, Spanisch, Haussa, Kisuhaeli, Mandingo, Fulbe, Portugiesisch, Brasil-Portugiesisch, Chinesisch, Japanisch, Indisch, Arabisch, Russisch und Vietnamesisch. Den deutschen Sprachraum zu bedienen hält man in Paris nicht für nötig. Die Völkerkundlerin Annalena begreift ohnehin nichts.