Phantasieren an der Börse
Viele Anleger sind zeitgeistgetrieben und machen was ihnen die Medien einflüstern. Es gab zum Beispiel viele leichtgläubige Leute, die 1916, 1917 und 1918 immer noch in Kriegsanleihen investierten. Das Geschäft – soweit es überhaupt als solches und nicht als Haltung verstanden wurde – entpuppte sich als totaler Flop. Die Kriegsanleihen der Jetztzeit haben oft mit dem Kampf gegen das Wetter zu tun. Ich nenne nur mal exemplarisch Tesla, Nel Asa und Delivery Hero. Tesla bedient die Elektro-, Nel Asa die Wasserstoff- und Delivery Hero die Fahrradkirche. Unterbezahlte Kuriere fahren Billighappi mit dem E-Vehikel oder dem Lastenfahrrad aus. Wie trendy!
1918 konnte man sich die Risiken des Kriegs ausmalen, wenn man nicht voreingenommen war. Auch derzeit kann man sich ein Bild von den Siegchancen der Köche und Ausfahrer machen. Die Lieferhelden haben seit Jahren ein märchenhaftes Umsatzwachstum. Aber was nutzt das, wenn man im Jahr Sieben der Firmengeschichte mit jeder gelieferten Essensportion im Wert von 12,33 € sage und schreibe 7,00 € Verlust macht? Und was sind das für Trottel, die aktuell 119 € für eine Aktie bezahlen, die 7 € Verlust produziert? Da muß man schon fest an den Endsieg glauben.
Sicher, bei Amazon hat die Strategie über Wachstum in die Gewinnzone zu kommen funktioniert. Man muß aber mal dagegenhalten, bei wievielen Firmen und Startups das gescheitert ist. Und es muß nicht immer eine Vollkatastrophe sein. Zalando macht seit Jahren Gewinn. Wenn man sich die Marge ansieht, verzweifelt man allerdings: Sie liegt bei einem bis zweieinhalb Prozent, wobei über die Jahre kein Aufwind zu erkennen ist. Die Aktie hat seit Jahren ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 100. Das ist eigentlich unakzeptabel. Trotzdem hatte beispielsweise Allianz Global Investors über 8 Mrd. € Anteil. „Die Allianz, die kanns“, sagte man früher.
Die Börse ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Rationalität wurde insbesondere im 21. Jahrhundert immer mehr durch neue Religionen mit irrationalen Bekenntnissen verdrängt. Die Taxometrie versucht das Brüsseler Glaubenssystem systematisch zu hinterlegen, ihm einen rationalen Anstrich zu geben. Realwashing sozusagen. Und die Kleinanleger (und nicht nur die) laufen den trendigen Nachrichten hinterher. Je eskapistischer und gewagter, desto wirksamer. Wenn man Elon Musk oder Cathie Woods beobachtet, so fallen die herausragenden Entertainer-Qualitäten auf. Selbst Mondreisen und Bitcoininvestments, die mit dem Geschäft weniger als nichts zu tun haben, sollen unsere Phantasie befügeln.
Die derzeitige Welle der Realitätsverweigerung kann man mit der der spätkaiserzeitlichen Jugendbewegung vergleichen, die auch das Gefühl über den Verstand, die Kultur über die Ökonomie triumphieren ließ.
Reflexhaft entstanden ab dem endenden 19. Jh. zahllose Lebensreformansätze, die notwendig immer eine Ausgestaltung als Heilstheorien erfuhren, von den Nudisten und Wandervögeln über die Anthroposophen, Okkultisten bis zu den Antisemiten. Gelüftete Schlafzimmer, bequeme Unterwäsche, Reformkleider, Kneipp-Sandalen, Leibesverrenkungen in Kraftkunstinstituten, Judenvertilgung, Vegetarismus, Reformhäuser, Menschenzucht, Lichttherapien und die Nachrichten vom „Berg der Wahrheit“ im Tessin sollten die Gebrechen der Gesellschaft nicht lindern, sondern heilen.
Achim Preiss hat es ausformuliert: „Als das geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder – unterwerfung erschienen Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen, Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten und die ein gemeinsames Feindbild hatten – den nur von Kommerz und Hochtechnologie angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, das Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden.“ Was sind FfF und die Brüsseler Kommission anderes?
Da sind wir nun nach 100 Jahren Achterbahn wieder beim idealistischen Urschleim angelangt. Selbst an der erzkapitalistischen Börse, diesem verruchten Hort des Mammons, walten zunehmend die Kräfte des Gefühls.
Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Die ganze Börse hängt nur davon ab, ob es mehr Aktien gibt als Idioten – oder umgekehrt.“ (André Kostolany)
Sehen wir mal. Morgen frueh wird vielleicht und ganz vorsichtig ueber einen Ausstieg aus dem tapering der FED geredet. Mal sehen, was dann die naechste Zeit passiert. Das wird wesentlicher fuer die Anlage als etwas aus religioesen Gruenden fehlalloziertem Kapital. Das ist dann auch Ausdruck von realen Kraeften.
Wenn das mittelfristig zum echten Sturm fuehrt, moegen die Heilslehren aber vielleicht ueber Umwege dadurch auch wieder gestaerkt werden. Das waere dann wohl auch Dialektik.
Ich musste erst mal googeln, was ein „Tapering“ ist:
„Die Märkte haben sich auf ein neues Wort eingeschossen: „Tapering“. Im Englischen bedeutet dies, dass etwas kontinuierlich weniger oder enger wird bzw. konstant abnimmt. Im Kontext der Börse und Finanzpolitik wird mit diesem Schlagwort die Situation beschrieben, dass die US-amerikanische Notenbank (Federal Reserve, kurz „FED“) den Geldhahn zudreht.“
Zitat: http://www.gevestor.de/finanzwissen/oekonomie/volkswirtschaft/tapering-definition-kontinuierliches-abnehmen-oder-auslaufen-lassen-651054.html
Da bin ich jetzt mal gespannt.
@PB-Leser
Danke, dass Sie noch einmal die Definition hingeschrieben haben. Ich war zu fix und meinte eigentlich das Umgekehrte – also: Zieht die FED die Zuegel an? So ist das, wenn man mit Fremdworten impraegnieren will 😀
FED hin oder her – die Sterbetafeln der Babyboomer in den USA sind das entscheidende Kriterium.
Da deren Babyboom unmittelbar nach dem Krieg angefangen hat, sind die durchschnittlich 12 Jahre älter als unsere, also Mitte/Ende Siebzig. In 3-5 Jahren brauchen die keine Aktienrente mehr, dann kann „auf grosser Stufenleiter“ umgeschaltet werden.
Man muss natürlich auch Latinos und Asiaten und ihre Produktivität und Ausbildung im Blick behalten.
Die verschwindende afroamerikanische Bevölkerung (15%) zählt eher nicht.
> FED hin oder her – die Sterbetafeln der Babyboomer in den USA sind das entscheidende Kriterium. […] In 3-5 Jahren brauchen die keine Aktienrente mehr.
Eine mutige Glaskugel, beruhend auf einem einzelnen m.E. voellig willkuerlichen Kriterium. Warum sollten die mit Aktien aufhoeren? Schon allein: Welches ist die heute sichtbare Anlageform, in die sie stattdessen gehen werden? Es ist ja in den USA nicht so, dass fuer die Leute die Ueberlegungen mit ihrem eigenen Lebensende enden wie in Deutschlands Singlewueste. Die haben ja noch ein paar Kinder.
Und selbst wenn hypothetisch , ich habe noch nie – Einzelfaelle belegen das nur – gesehen, dass nur deswegen alle Anlagen versilbert und verlebt wurden, weil man sich noch x Jahre leben gab (x klein). Jeder klammert bis zuletzt. ERst recht, wenn wie gesagt ja i.M. gar keine Alternativen sichtbar sind.
Es geht dem Grunde nach um die Einlösung des politischen Aufstiegsversprechens, welches dieser Generation gegeben wurde.
Dazu gehört neben der logischerweise aus Aktien erwarteten privaten Altersvorsorge (keine „Versilberung“!) auch das eigene Haus (s. Freddie Mac & Fannie Mae), welches nicht unbedingt von Kindern weiterbewohnt sondern oft nach dem Ableben mit Rupps und Stupps verkauft wird, weil die Kinder eben in einem anderen Staat leben usw.
In England wie auch in den USA sind die Politiker an die den Wählern gegebenen „Manifeste“ stärker gebunden als hier, wo die Programme schiere Makulatur und dummes Geschwätz sind.
Die beiden Bücher von Greenspan „The Age of Turbulence“ und „The Map and the Territory“ sind in dem Zusammenhang interessant zu lesen.
Dieser Artikel von Götz Aly wurde in allen Medien gelöscht. Lesenswert weil er den Kern der Sache trifft.
(Aus meinem Archiv Geschrieben vor ca. 12 Jahren)
Die Väter der 68er
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/zeitgeschichte/die_68er/1968_aktuelle_artikel/?em_cnt=1279789&
Von Götz Aly
Am heutigen Tag kreuzen sich die Erinnerungen an die 75. Wiederkehr der Machtergreifung Hitlers und die ausgedehnten Feierlichkeiten für die deutschen 68er. Zwischen beiden Daten liegt der Abstand einer Generation. Das heißt grosso modo: Die jungen und besonders tatendurstigen Gefolgsleute der NSDAP, die 33er, wurden – oft infolge von Krieg und Gefangenschaft etwas verzögert – die Eltern der späteren 68er. Deshalb liegt es nahe, an diesem 30. Januar die Parallelen in den Blick zu nehmen, die zwischen den politischen Sturm- und Drangjahren der unmittelbar aufeinander folgenden Generationskohorten bestehen.
Diese wie jene sahen sich als „Bewegung“, betrachteten das „System“ der Republik als historisch überholt, wenn auch mit unterschiedlichen Argumentationen. Sie verachteten den Pluralismus und den Kompromiss, sie liebten den Kampf und die Aktion. Mehr noch: Am 27. Juni 1967 notierte Rudi Dutschke in seinem Tagebuch: „In der Kneipe ‚Machtergreifungsplan ausgepackt‘. Riesige Überraschung.“ Zwei Tage vorher hatte er während einer nicht öffentlichen Diskussion über die Perspektiven für ein rätedemokratisch regiertes Westberlin protokolliert: „Es ist nicht mehr übermütiger Irrsinn, in dieser Stadt die Machtfrage zu stellen.“ An den kalifornischen Blumenkindern kritisierte er, sie hätten „die Machtfrage vergessen“.
Im Oktober 1967 veranstaltete Hans Magnus Enzensberger mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler ein Gespräch über die Zukunft. Auszüge daraus erschienen ein Jahr später im „Kursbuch“, das für einige Jahre zum weltanschaulichen Leitheft der Revoltierenden wurde. Mit dem volkseigenen Hang zur Gründlichkeit malten die Diskutanten aus, wie es in absehbarer Zeit im befreiten Gebiet Westberlin zugehen werde. „Ein Großteil der Bürokraten wird nach Westdeutschland emigrieren müssen“, meinte Rabehl und ergänzte für den Fall, dass die „antiautoritäre“ Umerziehung nach der Machtübernahme teilweise fehlschlagen sollte: „Wo es ganz klar ist, dass Umerziehung unmöglich ist, etwa bei älteren Leuten, da sollte man den Betreffenden die Möglichkeit geben auszuwandern.“ Im Übrigen machte er die Rentner verächtlich. Man bekomme „ein Grausen“, wenn man sie nur sähe: „Sie sitzen schon als Leichen dort auf der Bank.“
Die totalitäre Sprache und der Hang zum gewalttätigen Aktionismus, die sich in den Sätzen von Rabehl und Dutschke äußern, fielen nicht wenigen kritischen Geistern 1967/68 sofort auf. Als Berliner Studenten unmittelbar nach dem Tod von Benno Ohnesorg zum Zeichen ihres Entsetzens Springer-Zeitungen verbrannten, kommentierte Joachim Fest: „Fatale Erinnerungen beunruhigen die extremen Gruppen nicht – ihr politisches Bewusstsein wähnt sich im Stande der Unschuld. Sie plädieren für die Beseitigung dessen, was sie (wiederum ganz unschuldig) das ‚System‘ nennen.“ Max Horkheimer, der 1933 aus Deutschland hatte flüchten müssen, befürchtete schon 1967 einen immer stärkeren „Pro-Totalitarismus“ der protestierenden Studenten.
Aus ganz anderen Erfahrungen heraus gelangte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu ähnlichen Einsichten: „Wir, die junge Generation der 20er-Jahre, verhielten uns gegenüber den damaligen Politikern genauso arrogant, wie es unsere Studenten heute gegenüber uns sind.“ Deshalb riet er immer wieder zum behutsamen Vorgehen. Richard Löwenthal, der 1933 als Linkssozialist in den Untergrund und zwei Jahre später ins Exil gegangen war, fühlte sich schnell vom revolutionären Veränderungswillen der 68er abgestoßen. „Es ist immer misslich, wenn sich Studenten kollektiv als Elite der Nation zu fühlen beginnen“, hielt er den Vertretern der Neuen Linken vor: Deutschland sei nicht deshalb „dem studentischen Elitedenken von rechts entronnen, um ein studentisches Elitedenken von links großzuziehen“.
Bei allen Unterschieden und Gegensätzen in ihren Lebenswegen wussten Fest, Horkheimer, Kiesinger und Löwenthal aus eigener Erfahrung eines: Die nationalsozialistische Machtergreifung vom 30. Januar 1933 muss als Generationenprojekt verstanden werden, als der Beginn einer schrecklichen Jugenddiktatur. Joseph Goebbels war an diesem Tag 35 Jahre alt, Reinhard Heydrich 28, Albert Speer 27, Adolf Eichmann 26, Josef Mengele 21, Heinrich Himmler und Hans Frank waren 32. Hermann Göring – einer der Älteren – hatte soeben seinen 40. Geburtstag gefeiert, Hitler steuerte auf den 44. zu.
Je mehr Staats- und Parteistellen neu besetzt werden konnten, sei es infolge der Entlassung Unliebsamer oder ständiger Expansion, desto mehr Junge rückten in den folgenden Jahren nach. Sie betrachteten den NS-Staat als Chance zu rascher Selbstverwirklichung. 1943 stellte Goebbels nach der Lektüre einer parteistatistischen Erhebung beglückt fest: „Das Durchschnittsalter der führenden Persönlichkeiten beträgt auch in der mittleren Schicht der Partei 34 und innerhalb des Staates 44 Jahre. Man kann also in der Tat davon sprechen, dass Deutschland heute von seiner Jugend geführt wird.“
Zugleich verlangte der Propagandaminister nach „personeller Auffrischung“. Er wird an junge Leute wie beispielsweise den späteren Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer gedacht haben. Dieser mokierte sich 1942 – als 27-jähriger Besatzungsfunktionär in Prag – über die zögerlichen älteren Beamten, die den Aufbruch in den „wirklichen Nationalsozialismus“ störten, mit jugendbewegter Verve: „Die uns in jungen Jahren in der Kampfzeit anerzogene Bereitschaft, Aufgaben zu suchen und nicht auf sie zu warten, der ständige Einsatz für die Bewegung haben uns früher als üblich in die Verantwortung gestellt.“ Schleyer repräsentierte den jungen Nationalsozialisten, der nach dem allenfalls alt-neuen späteren Motto der 68er verfuhr „Trau keinem über Dreißig“.
Die Möglichkeit zur Machtübernahme war der NSDAP im Frühjahr 1933 aufgrund der extremen Not der Weltwirtschaftskrise zugefallen, die gesellschaftliche Mehrheit konnte sie erst nach zwei Regierungsjahren gewinnen. Außenpolitisch verhalf ihr die weithin populäre Revision des Versailler Vertrags zu diesem Erfolg, innenpolitisch die sorgfältig ausgewogene Mischung aus Staatsterrorismus und sozialpolitischer Konsolidierung. Letztere beruhte allein auf hemmungsloser, von der Bevölkerung nur zu gern ignorierter Staatsverschuldung. Im signifikanten Unterschied zu allgemeinen Wahlen hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund seit 1929 die Herrschaft über die Allgemeinen Studentenausschüsse erobert, vielfach mit Mehrheiten von deutlich über 60 Prozent.
Die NSDAP profitierte vom bildungspolitischen Willen des Weimarer Staates: In demokratischer und demokratisierender Absicht hatten dessen Politiker viel darangesetzt, die Zahl der Abiturienten und der Hochschüler zu verdoppeln. Um das Bildungsmonopol einer kleinen aus dem Kaiserreich stammenden Kaste zu brechen, um die Intelligenzreserven in den sozial benachteiligten Schichten des Volkes zu erschließen, förderte die Republik in bester Absicht junge Leute, die vielfach als erste in ihren Familien den Sprung an die Universitäten schafften. Bald gehörten die derart sozial aufwärts Mobilisierten zur radikalen Trägerschicht des nazistischen Deutschland. Sie wurden zu Totengräbern der Verfassungsordnung, der sie den Aufstieg verdankten.
Die Mehrheit der 33er-Studenten litt an tiefer Unsicherheit. Wenn überhaupt, waren ihre Väter geschlagen, demoralisiert oder verkrüppelt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt. Der schwache materielle und ideelle Familienhintergrund ließ sie empfänglich werden für die falschen Verlockungen des Kollektivs. Sie feierten den Abschied vom bürgerlichen Individualismus und sahen sich im „Übergang von der Ich-Zeit zur Wir-Zeit“. Eben deshalb sei „die letzte Lebensfrist des Liberalismus abgelaufen“; nun komme es darauf an, diesem unklaren, antiutopischen Denken „endgültig den Garaus zu machen“ (Die 68er hatten es ebenfalls auf die „Scheiß-Liberalen“ abgesehen).
Die 33er denunzierten die vorsichtigen, differenziert argumentierenden Pragmatiker als „zerstreute Kompromissmenschen“, die sich stets auf die relativierende Formel herausredeten „Bis zu einem gewissen Grade“, die dazu neigten, die „Welt in Millionen kleinster Teile“ aufzulösen, und folglich jedes bedeutsame Ziel aus den Augen verlören. Ununterbrochen redeten sie sich in der NS-Studentenzeitung „Die Bewegung“ gegenseitig ein, „das neue Deutschland“ brauche „Kämpfer, keine Bierphilister“. Für die NS-Studenten wurden nicht so sehr die Kommunisten zu Erzfeinden, sondern die Spießbürger: „Diese schwammigen, fettgepolsterten und kahlköpfigen Rundbäuche, die nichts verlangen als ihre Ruhe und ein Gläschen Wein, die es nichts angeht, wenn zwei Straßenecken weiter eine Witwe den Gashahn öffnet, weil sie nicht mehr weiß, womit sie ihre Kinder ernähren soll.“
Die antibürgerlichen Momente, das Bewegungsselige, die kalkulierte Regelverletzung, das Gefühl der NS-Studenten, einer klassenübergreifenden, dem Wohl des eigenen Volkes verpflichteten Avantgarde anzugehören, all das machte den nationalrevolutionären Protest attraktiv. „Der Student darf sich nicht ziehen lassen, er muss ziehen“, forderte Joseph Goebbels 1929 und fügte hinzu: „Studenten und Arbeiter werden das Deutschland der Zukunft aus der Taufe heben.“
Den Ton hatte der spätere Propagandaminister seinem Führer abgelauscht, der schon früh den Kampf der Jungen gegen die Alten ausgerufen hatte. Statt der verweichlichten Bürgersöhnchen wünschte sich Hitler Studenten, „die in die Masse hineinzugehen verstehen und lebendigen Anteil nehmen am Massenkampf“. Er geißelte die „Entpolitisierung der Studentenschaft“ und bezeichnete den Angriff als „Freiheitskampf der jungen Generation“.
Wie die späteren 68er drängten ihre Vorgänger auf die gesellschaftliche Relevanz der Studiengegenstände. Beide Studentenbewegungen protestierten gegen den Muff von tausend Jahren. Die Forderungen der universitären Nazis für „eine durchgreifende Hochschulreform“ zum Abbau der professoralen Alleinherrschaft lauteten 1932: „Errichtung rassekundlicher Lehrstühle, Berechtigung der Studentenschaft, zu Berufungen Stellung zu nehmen, Änderung der Prüfungs- und Studienordnung, Staffelung der Hörgelder nach dem Einkommen der Eltern. Wir fordern Ausbau der Selbstverwaltung der Studentenschaft und stärkere Einflussnahme auf die Studentenhilfe.“
In antiautoritärem Tonfall zog Goebbels die wissenschaftliche Arbeit der Professoren als Produktion von „Buch- und Afterweisheit“ ins Lächerliche, warf ihnen vor, sie würden ihre der Zukunft zugewandten Studenten am Ende als „streng thronende Prüfer gelassen und hochmütig“ am „aufgehäuften Paragraphenstaub messen“. Der spätere Propagandaminister giftete gegen das Versinken in „Wissenschaft, Statistik, Beruf, Strebertum, Fachsimpelei“ und die „flegelhafte Arroganz des ‚Gebildeten‘ dem ‚Volk‘ gegenüber“. „Erst der Werkstudent“, der in die Bergwerke hinuntersteige und neben dem Kumpel in harter Handarbeit um die Rohstoffgrundlagen der Nation kämpfe, weise „neue Wege“, nur er könne „die Fäden zwischen Hörsaal und Grube“ knüpfen.
Es entsprach purer ahistorischer Einbildung, als Dutschke im Februar 1968 in der Evangelischen Akademie Bad Boll verkündete: „Dass Bürgersöhnchen und elitäre Gruppen der Gesellschaft anfangen, ihr Elitedasein und die verinnerlichten Mechanismen der elitären Haltung zu beseitigen, ist etwas historisch Neues in Deutschland, und das sollte gesehen werden.“ Ähnlich wie später Dutschke forderte Goebbels sein akademisches Publikum zur Bildung revolutionärer Bewusstseinsgruppen auf, zur Agitation in der Aktion: „Einer muss anfangen! Stürzen Sie die alten Altäre um! Rotten Sie den alten Menschen in Ihrem Hirn und Herzen aus! Nehmen Sie die Axt in die Hand und zertrümmern Sie die Lüge einer alten falschen Welt! Machen Sie Revolution in sich! Das Ende wird der neue Mensch sein!“
Wer den neuen Menschen schaffen will, legt sich mit der Staatsgewalt an. Auch die NS-Studenten erinnerten ihre Kampfzeit später als Lebensabschnitt, in dem sie „Polizisten mit gezücktem Gummiknüppel“ trotzten, es beispielsweise ertrugen, wie sie der Polizeipräsident wegen antisemitischer Umtriebe im November 1930 aus der Berliner Universität jagte. Er „wütete mit seiner Prügelgarde unter Studenten und Studentinnen schlimmer als Iwan der Schreckli-che“. Schließlich schritt der Rektor der Berliner Universität ein, vermittelte und erreichte den Rückzug der Polizei vom Campus. Die braunen Studenten johlten den abziehenden, der Republik verpflichteten Polizisten hinterher: „Muss i‘ denn, muss i‘ denn zum Städtele hinaus.“
Schon bald wurden im Zeichen des staatlichen Appeasements „drei der verhafteten Nationalsozialisten freigelassen“. Kaum war das erreicht, verkündete die NS-Studentenzeitung „Die Bewegung“, wie der Kampf gegen „das heutige System“ weiterzuführen sei: „Die maßgebenden Männer des korrupten Systems können sich aber nach derartigen Vorfällen mit Bombensicherheit darauf gefasst machen, dass noch kräftigere und lauter schallende Maulschellen folgen werden.“
Bei allen Ähnlichkeiten in den politischen Ausdrucksformen und zum Teil in den hochschulreformerischen Zielen liegt der wesentliche Unterschied zwischen den 33ern und den 68ern auf der Hand: Die Revolte der einen führte rasch zur Macht, zu furchterregenden Karrieren und Konsequenzen; die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage, zumindest in der Zersplitterung.
Die 68er verzichteten auf einen Teil ihrer beruflichen Chancen. Später passten sie sich nach individuell verschieden langen Umwegen wieder an die durchaus reformfähige Mehrheitsgesellschaft an. Verglichen mit der NS-Zeit sind die Folgen der 68er-(Un-)Taten belanglos. Albern ist das Gerede davon, dass die vielleicht 200 000 jungen Leute, die vor 40 Jahren einen kleinen Aufstand probten und verloren, irgendein Problem verschuldet hätten, das die Bürger der Bundesrepublik heute beschäftigt.
Umgekehrt findet sich kein Grund zum Stolz auf 68. Die Kinder der 33er waren Getriebene, konfrontiert mit einer Last, die sie nicht zu verantworten hatten, der sie jedoch nicht ausweichen konnten. Chinesisch, kubanisch, sowjetisch oder trotzkistisch verfremdet veranstalteten sie nach den in Deutschland gebräuchlichen Regievorlagen eine Farce, die der Tragödie von 1933 folgte.
Sie inszenierten eine Variante des politisch eindimensionalen Utopismus, auf dessen Trümmern sie groß geworden waren.
An die Stelle des extrem schuldbehafteten Nationalismus der Eltern setzten sie den Internationalismus. Bundeskanzler Kiesinger durchschaute das Spiel sofort. Ohne Abitur, als kleiner Leute Kind hatte er es dank der Begabtenförderung der Weimarer Republik zum Volljuristen gebracht und war 1933 der NSDAP beigetreten, weil er, wie er sagte, „national und nationalistisch nicht genügend klar unterschieden“ hatte. Ihm erschien die moralisch verbrämte Überheblichkeit verdächtig, mit der sich die 68er-Studenten hauptsächlich für Konflikte engagierten, „die ihre Wurzel im Ausland haben“, gerade so als gäbe es in Deutschland nicht genug zu besprechen. Seiner Ansicht nach folgten sie der „merkwürdigen Illusion“, sie könnten so „aus der deutschen Geschichte fliehen“.
Dann konfrontierte er seine Berater mit der Frage: „Schwingt da nicht – gewissermaßen als Kehrseite – die Einstellung mit, ‚Am deutschen Wesen muss die Welt genesen‘?“ Da es still in der Runde blieb, antwortete er selbst: „Ich sehe darin eine schulmeisterliche, missionarische Umkehrung unseres früheren extremen Nationalismus.“ Die Kraft, so auch öffentlich zu reden, fand Kurt Georg Kiesinger nie
Ich bitten den Herrn Prabel um Entschuldigung wegen der Länge des Textes. Aber der Inhalt dürfte es wert sein.
Warum wohl wurde dieser Artikel aus dem Verkehr gezogen? Geschichte scheint sich in Deutschland doch zu wiederholen, wenn auch unter anderem Namen.
Dazu auch noch :
https://www.prabelsblog.de/2015/05/der-bausatz-des-dritten-reiches-2/
Zwar die gekürzte Fassung, aber hervorragende Ergänzung des Themas.
https://reitschuster.de/post/es-ist-faschistischer-geist-in-dem-merkel-und-soeder-handeln/
Das erstaunliche ist , das drei Personen aus verschiedener politischer Heimat zu dem gleichen Ergebnis kommen, dass das mit realer deutscher Demokratie nicht so ganz stimmen kann. Eher um eine Konstante
der Traditionspflege der real marodierenden politischen Kaste. Oder?
Genau.
Danisch schreibt auch darüber.
Danisch schreibt viel. Und offensichtlich immer mehr Unsinn, was sich wohl mittlerweile auf seine Gefolgschaft mindernd auswirkt.
Sein letzter Artikel
https://www.danisch.de/blog/2021/08/29/das-wort-zum-sonntag-6/
ergeht sich – wieder einmal – in schwacher Polemik gegenueber Gegnern der Coronaspritzungen. Offensichtlich ist er nicht mehr in der Lage, seine eigenen bei anderen Gebieten gern zelebrierten – und das dann auch als „selbsstaendig Denken“ andern aufs Brot zu schmieren, wenn sie das seiner Meinung nach nicht tun – Massstaebe an Analyse bei diesem Thema in auch nur grundlegender Form zu halten.
So scheitert er hier am Begriff „genesen“ aus 2G oder 3G. Er tauscht – und ein Lapsus kann es bei seiner sonstigen Erbsenzaehlerei in solchen Dingen nicht sein – den normalen inhaltlichen Begriff mit dem offiziell Verwendeten, der wieder einmal die gezielte Verbiegung eines eigentlich selbsterklaerenden Wortes darstellt. Wie ‚Pandemie‘, wie ‚tolerant‘, wie so viele andere der letzten Jahre die in Summeeine Orwellsche Sprache geschaffen haben.
Das staatlich definierte „genesen“ unterliegt naemlich einem Zeitfenster und der von Anfang an unzulaessigen Validierungsmethode PCR als einzig moeglichem Nachweis. Ein solcher muss zwischen 28 Tagen und 6 Monaten alt und positiv sein, um einen Genesenenstatus zu belegen. Der Sinn ist leicht ersichtlich, danach bleibt nur noch „Impfung“.
Antigentests sind explizit nicht zugelassen. In kleinen Privatinitiativen wird versucht, ueberhaupt eine Basis zum Immunisierungsgrad der Bevoelkerung zu erlangen. Beispiel:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=75467
Stoerfeuer werden natuerlich unvermeidlich auf solche Dinge gelenkt, denn wie viele andere Dingen ist nichts weniger erwuenscht als solche immer schon auf der Hand liegende Vorgehen als national einheitlich zu etablieren und belastbares Wissen zu erzeugen. Das haben wir schon bei Testungen in der Anwendung (keine signifikanten Kohorten) und in ihrer medizinischen Aussagekraft (PCR: Zyklenzahl , Prinzip Eiweissbruchstueck und moeglicherweise damit zusammenhaengende eingeschraenkte Unterscheidungsfaehigkeit zwischen Corona- und z.B. Influenzaviren).
Frage am Rande: Als geneigtem Leser wird mir der Hadmut immer rätselhafter. Nüchterne, sachliche Denke, sehr kritisch gegen Medien und Rechtssystem – und dann diese sture Befürwortung der Maßnahmen, Kritiker quasi als Aluhütler usw. Der könnte sich doch durch medizinische Fachliteratur plus Statistik usw. in Ruhe ein eigenes Bild machent??
Ein so exponierter Blogger kann nicht gegen alles sein, sonst verliert er seine Glaubwürdigkeit (die ohnehin wegen der oft verstiegen anmutenden Geheimdienstideen rund um seine abgeschnittene wissenschaftliche Karriere immer auf der Kippe steht).
Überdies hat er klar begründet (Vorerkrankungen usw), weshalb er sich impfen lässt. Wie viele „Nerds“ steht er der (Molekular-)Biologie mit ihren halb griechisch, halb lateinischen Termini für eigentlich ganz moderne Sachen aus der Mondfahrtära ziemlich verständnislos gegenüber, was er ebenfalls geschrieben hat.
> Ein so exponierter Blogger kann nicht gegen alles sein, sonst verliert er seine Glaubwürdigkeit
Das habe ich hier doch schon einmal gelesen…
Sorry, das ist bullshit. Es gibt genuegend Leute, die ihre Ablehnung und Kritik von/an links-gruen, Gender und den anderen ueblichen Themen problemlos auch auf Corona ausweiten, ohne dass sie damit mehr oder weniger glaubwuerdig werden (bei wem eigentlich?).
Gerade der Danisch, der sonst immer das Gras in jeder Formulierung wachsen hoert und wie eine Bulldogge nicht unblickig hinterherrecherchiert, blendet bei diesem Thema die offensichtlichsten Widersprueche nicht nur einmal, sondern fortlaufend aus. Ist dabei *zusaetzlich* aber noch so unverfroren, die Leute die ihn darauf hinweisen, ihrerseits mit logischen Winkelzuegen anzugreifen, die er erstmal bei sich selbst anwenden sollte (oder besser echte Logik). Dazu bringt er noch eigenen Mumpitz wie den Vergleich des Virus mit Krankheiten wie Krebs zu ziehen. Ja ich weiss, hatte er wohl selbst einmal. Das macht den Vergleich aber nicht besser.
Erstmal das eigene dog food an Anspruch zu sich nehmen, wenn man sich sonst anderen gegenueber damit gern weit herauslehnt.
Er liegt uebrigens mitunter aus ganz seltsamen Gruenden voellig daneben. Mir hat er einmal gesagt, er glaube mir nicht dass ich Mathematiker waere, weil er da viele kennen wuerde und die „anders redeten“. Ich habe ihm dann einen Link zu meiner Homepage geschickt, dort kann man das recht einfach verifizieren. Darauf kam nichts mehr. Worauf mir dann auffiel mich generell nicht daran entsinnen zu koennen, dass er eine Meinung je korrigiert oder sich gar fuer einen Irrtum entschuldigt haette.
Aber er scheint die Folgen zu merken. Er hat kuerzlich in einem Beitrag seine Leserschaft doch tatsaechlich vorsichtig zu den Themengebieten gefragt, die er behandelt oder in Zukunft behandeln soll. Das waere ihm frueher nie ueber die Lippen gekommen. Ich habe den Eindruck, dass er Resonanz verliert und das mag er gar nicht. Sein spezieller Umgang mit Corona scheint mir Teil des Schluessels zu diesem Bedeutungsverlust zu zein.
Kleine Frage, ganz am Rande: Angeregt durch bescheidenen China ETF gucke ich gelegentlich entsprechende Themen. Hier: Propagandabilder zur gigantische Aufforstung http://german.china.org.cn/txt/2021-08/27/content_77718399.htm Keine Ahnung von Forstwirtschaft, bloß ein ungutes Gefühl zu dem „Großen Sprung nach vorn“. Kann man (Nadel-)Wälder so aus dem Boden stampfen, müssen nicht Böden und Klima stimmen?