Erinnerungen an den Ersten Mai

Eine Woche vor dem Ersten Mai bekam in der Russenzeit jeder Haushalt in Weimar und Umgebung einen Wurfzettel, auf dem die Aufteilung der Betriebe auf die fünf Marschsäulen und deren Stellplätze angegeben waren. Jede Marschsäule hatte einen verantwortlichen Antreiber und jeder Betrieb auch.

Der Tag begann alljährlich mit dem Sammeln an den vorbestimmten Stellplätzen und dem Streit darüber, wer die Spruchbänder und Fahnen tragen sollte. Dazu gibt es eine köstliche Anekdote: Genosse Abramowitsch sollte das Bild des Generalsekretärs Tschernenko tragen. Er wehrt sich: „Vorletztes Jahr habe ich das Bild von Breschnjeff getragen, und dann ist er gestorben. Letztes Jahr habe ich das Bild von Andropow getragen, und dann ist er gestorben.“ Die anderen: „Genosse Abramowitsch, du hast goldene Hände! Du trägst das Bild von Tscherneko.“ Nun, wie wir wissen hat es geholfen, Tschernenko ist kurz darauf gestorben.

Wenn Fahnen- und Spruchbandträger bestimmt waren, wurden Plastikbeutel mit Leberwurst- und Knackwurstbroten ausgegeben. In guten Jahren war eine Banane dabei. Dann setzten sich die Marschsäulen sehr langsam in Bewegung und kam immer wieder ins Stocken. Dieses stop and go dauerte bis zum Erreichen der Karl-Liebknecht-Straße (vormals Adolf-Hitler-Straße, davor Bürgerschulstraße, in der Russenzeit im Volksmund wegen der rußgeschwärzten Fassaden „Gaskammer“ genannt). Dort stand der Hauptverantwortliche für den Zug und fädelte die fünf Säulen mit hastigen Hand- und Armbewegungen ineinander. In der Gaskammer bekam der Umzug regelmäßig das Rennen. Die Reihen rissen auseinander, es entstanden Lücken und man erreichte den Goetheplatz, wo links die Holztribüne aufgebaut war. Die 100prozentigen blickten nach links zur Tribüne und winkten den örtlichen Typen der Partei zu, die von der Tribüne zurückwinkten. Die normalen Leute fanden das peinlich, blickten in die Luft und ignorierten die Natschalniks, die einen eh besser nicht kannten. Nach dem Passieren der Tribüne kam man in die Heinrich-Heine-Straße, wo der Zug sich auflöste. Auflösen ist gut, während der Zug in den sechziger Jahren noch geordnet die 300 Meter bis zum Sophienstiftsplatz schaffte, erreichte er in den Achtzigern nur noch mit Mühe die Löwenapotheke in Sichtweite der Tribüne. Fahnen und Spruchbänder wurden eilig an die Hauswände geklatscht und alle entfernten sich unauffällig und rasch zu den Bratwurstständen und Bierkästen. Sammler von Fahnen und Spruchbändern wären sicher auf ihre Kosten gekommen, aber es gab keine Sammler, da an Fahnen und Sprüchen ein absolutes Überangebot herrschte. Entgegen der Fama gibt es eben Dinge, die im Sozialismus nicht knapp werden.

Die Kampagne gegen den Sozialdemokratismus hatte ihren Höhepunkt erreicht, als die Werktätigen den ersten Mai 1971 feierten. Neben der Tribüne auf dem Goetheplatz gab es eine Besonderheit. Ein Sprecher stand an einem Mikrofon und las unentwegt etwa folgenden Text: „Wir begrüßen die Genossenschaftsbauern der LPG „Ulrich von Hutten“, die ihren Plan bereits zum 30. April mit 41,4 % erfüllt haben. An der Spitze marschiert die Brigade Sowieso mit dem Genossen Sowieso, die hohe Leistungen im Plan Wissenschaft und Technik bei der Einführung der neuen Rübenhacken in die Produktion erreicht haben. Wir danken den Werktätigen der Brigade Sowieso für ihre hohen Leistungen, die nur unter Anwendung neuester sowjetischer Erfahrungen erreicht werden konnten, hoch lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft, sie lebe hoch, sie lebe hoch, sie lebe hoch…..Wir begrüßen die Werktätigen des VEB Dreikäsehoch, die hohe Leistungen bei der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Käsesorten erbracht haben. Zusätzlich zum Plansoll wurden im Rahmen der Konsumgüterproduktion täglich 20 Blumenampeln produziert. Die Brigade Sowieso unterstützt den Freiheitskampf des chilenischen Volkes mit einer Spende von 144 Mark. Hoch lebe die antiimperialistische Solidarität, sie lebe hoch, hoch, hoch. Wir begrüßen die Schüler und das Lehrerkollektiv der Pestalozzi-Oberschule. Zu Ehren des soundsovielten Plenums der Partei der Arbeiterklasse haben die Schüler der Klasse 7a 3,7 Tonnen Altpapier gesammelt. Der Erlös wurde für das Pfingstreffen der FDJ in Berlin zur Verfügung gestellt………“. Und so ging das Hochleben am laufenden Band.

1971 wurde experimentiert. Gegenüber der Tribüne befand sich die Eingangstreppe der Hauptpost mit einem ausreichend großen Podest. Hier wurde unsere Schulklasse in Stellung gebracht. Ein Instrukteur von der Kreisleitung mit einer Flüstertüte hatte mit uns wochenlang zwei Sprechchöre eingeübt. Wenn er mit der Flüstertüte zu schreien anfing mußten wir das Einstudierte rufen. Die Sprüche waren: „Wir fordern von dem Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ und „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“. Immer wenn der Redner von der Tribüne mal kurz Luft holte, fing unser Instrukteuer von der Posttreppe an zu schreien „Wir fordern von dem Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ oder „Freundschaft zur Sowjetunion ist Ruhm und Ehre der Nation“, und wir riefen es ihm mit dünnen Stimmchen nach. Im Stillen dachte ich: „Hoffentlich ist Willy Brandt nicht so blöd.“ Ich war mit dieser Hoffnung nicht allein. Nach etwa zwei Stunden hatten die von der Tribüne unser Gerufe satt, und bestellten die Sprechchöre von der Posttreppe einfach ab. Der Heini mit der Flüstertüte war ziemlich deprimiert. War er nicht gut ? Hatte er was falsch gemacht? Hatte er die Ohren der gegenüberstehenden Genossen beleidigt ?

Hochschulvorsitzender der GST (Ges. für Sport und Technik) war der Wissenschaftliche Oberassistent M., der sich um die Vorbereitung der Hochschulmeisterschaften im Luftgewehrschießen, den Wettbewerb um die „Goldene Fahrkarte“, um die jährlich stattfindenden Wettläufe um Belvedere, das Besorgen von Bratwürsten und Bier für Sportfeste, um das Ölen der Waffen, die Sicherheit der Waffenkammern oder die Beteiligung der Hochschulmannschaft an den Bezirksmeisterschaften im Orientierungslauf kümmern mußte. Die schwierigste Aufgabe, die er je zu meistern hatte, war es, für den 1. Mai 1978 einen Träger für die GST-Fahne zu finden. Die zentrale Vorgabe war, daß die Fahne im Stechschritt über den Goetheplatz getragen werden sollte. Lange wurde hin und her überlegt, wer die nötige Puste und Selbstverleugnung hätte. Nach einer Weile fiel die Wahl auf den Genossen K. Mit Rücksicht auf einen zufällig gleichnamigen Weimarer Politiker habe ich den Namen abgekürzt, um Verwechslungen zu vermeiden. Angetan mit Kampfanzug und Schiffchen hüpfte er an der Spitze des Hochschulmarschblocks wie ein Gummiball mit der GST-Fahne über den Goetheplatz.

Ab Anfang der 80er wohnte ich auf dem Orte. Da an Feiertagen der Arbeiterbus nicht fuhr, war man von der Teilnahme befreit, ohne befürchten zu müssen bei der nächsten Lohnerhöhung übergangen zu werden. Landluft machte schon immer frei.

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Zwang tötet alle edle, freiwillige Hingebung.“ (Adolf Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge, 1752 – 1796)