Auf dem Sofa und mit den Füßen im Atlantik: Lesen in Zeiten der Hysterie

Sieben Rezensionen zu Büchern, die ich in den letzten Wochen gelesen habe und zur Lektüre
weiterempfehle.

Jörg Bernig: Niemandszeit. Roman. Dresden, Edition Buchhaus Loschwitz, 2020. 330 Seiten, 19,95 €.

Das Buch ist der neu herausgegebene Roman von Bernig, der erstmals 2002 bei der DVA in Stuttgart erschienen war. Für mich stellt er eine Entdeckung dar, der eine gezielte Suche voranging. Gegenstand meiner Neugierde war der Autor, der 2020 ein Opfer der Cancel-Kultur geworden war. Hinter dem Schwurbel-Wort verbirgt sich die öffentliche verbale Hinrichtung von Personen, die nach Auffassung von Mainstream weder zu Wort kommen sollen, geschweige denn ein öffentliches Amt übernehmen. In Sachen Bernig war dessen Wahl zum Kultur-Dezernenten der Stadt Radebeul rückgängig gemacht worden, nachdem der links-faschistische Internet-Mob einen Shitstorm gegen den Mann losgetreten hatte. Daher meine Frage: Was scheibt denn der Gemaßregelte so Empörendes?

Nun zum Buch: Der Roman komprimiert das Leben der etwa 12 Protagonisten in einem einzigen Tag im September 1946. Ort der Handlung ist ein von der Umwelt abgeschnittenes Grenzdorf zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei, auf der böhmischen, also der tschechischen Seite. Der geschichtliche Spannungsbogen ist weiter gefasst, indem das Schicksal der Protagonisten vor diesem Tag der Vernichtung in Rückblicken geschildert wird. Das Thema ist unbequem, denn es führt in die zweieinhalb Jahrzehnte der Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen, wobei Letztere eine große Minderheit in der Ende 1918 auf Geheiß der Sieger des Ersten Weltkriegs gebildeten tschechoslowakischen Republik bildeten. Dass dieses multi-ethnische Experiment nicht gutging, ist bekannt. Wem hieran die Schuld zu geben ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Es ist auch nicht die Grundmelodie des Bernig’schen Buches, sondern der Autor führt anhand seiner Figuren vor, dass es ein Knäuel von Aspekten gibt. Es sind lauter ganz normale Leben nebeneinander, manche auch vage miteinander verknüpft. Jedes dieser Leben repräsentiert bestenfalls einen Einzelaspekt des gesamten Desasters, das schließlich ab Mai 1945 in die Ausrottung der Deutschen und die Austreibung der Überlebenden aus Böhmen einmündet.

Das durch eine unsinnige Sprengung gleich nach der Kapitulation der Deutschen von der Umwelt abgeschnittene und dann in Vergessenheit geratene, von den Einwohnern verlassene Dorf ohne Namen wird der Sammelplatz der merkwürdigsten Versprengten. Teils sind es deutsche Militärs, teils tschechische Revolutionsgarden, die im Verlauf des Frühjahrs und Sommers desertierten, teils sind es versprengte Flüchtlinge aus den Elendskolonnen der Außer-Landes-Getriebenen. Sie nehmen das verlassene Dorf in Besitz. Es ist wie ein Atemholen der Geschichte, denn auch die, welche allen Anlass hätten, einander zu hassen, haben sich aus purer Erschöpfung auf ein friedliches Miteinander verständigt. Doch die einjährige Pause, die das neu belebte Dorf seinen gestrandeten Bewohnern gewährt, geht an jenem Septembertag 1946, in welchem die Handlung kulminiert, gewaltsam zu Ende. Angesichts der nahenden Bedrohung durch die Ankunft eines tschechischen Revolutionskommandos löst sich die Dorfgemeinschaft wieder in Einzelschicksale auf. Man ahnt es, wer überleben wird und wer nicht, wiewohl am Ende einer übrigbleibt, von dem ich das nicht gedacht hätte.

Ich will hier die Einzelheiten nicht verraten. Ich habe das Buch nach ein paar Lesestunden an zwei Abenden schließlich, wie aus einem bösen Traum erwachend, auf der Hand gelegt. Es ist eine illusionslose Schilderung, das nahtlose Nebeneinander vom Gewalterdulden und Gewaltausüben, die fast beiläufige Nennung der Gründe für das Totschlagen und die leichte Verführbarkeit, wenn sich einer auf der richtigen Seite – meist der der Sieger – wähnt.

Zum Stilistischen: An die mehrfache Wiederholung ganzer Sätze musste ich mich erst gewöhnen.  Sie sind ein originelles Stilmittel, um die Situation aus anderer Perspektive für einen der anderen Protagonisten einzuleiten. Man erkennt die Situation wieder und erfährt, dass ein anderer alles ganz anders erlebt haben kann. Fazit: das Buch ist lesenswert, ein Berg im deutschen Roman-Flachland.

Vernon Bogdanor: Britain & Europe in a Troubled World. New Haven/London, Yale University Press, 2020. 164 S. ca. 15,84 €.

Der Autor unternimmt eine Tour d‘Horizon zu Großbritanniens Rolle beim Prozess der europäischen Integration seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 2020. Den nach Abschluss des Manuskripts erst definitiv erfolgten Austritt des Landes aus der EU nimmt er als eine Selbstverständlichkeit vorweg.

Das Buch ist laut Impressum als Lehrbuch für englischsprachige Studenten konzipiert. Doch keine Angst: Es ist weder hochgestochenes Politologen-Zeug, noch verstiegenes Akademiker-Vokabular, sondern in leicht verständlichem Englisch geschrieben.

Es empfiehlt sich, beim Lesen stets vor Augen zu haben: Hier schreibt einer, der durch die englische Brille blickt. So nimmt es kaum Wunder, dass der Autor immer wieder den britischen Nationalhelden Winston Churchill als einen der großen Vordenker der europäischen Einigung zu Wort kommen lässt. Soviel Ehre verlangt allerdings nach dem Hinweis, dass Churchills Worte mit seinen Handlungen nicht harmonierten. Das Heraushalten Großbritanniens aus dem ab 1950 stattfindenden Integrationsprozess verdankten die Briten ausgerechnet Winston Churchill. Der Autor bedauert das, denn als sich der Raushalte-Wind unter den Bedingungen eines verheerenden wirtschaftlichen Niedergangs auf den britischen Inseln zu drehen begann, konnten die Briten nur noch den bestehenden Strukturen, so unbritisch wie sie waren, beitreten oder es bleiben lassen, aber sie konnten an der Grundstruktur nichts mehr gestalten. Der Zug war abgefahren.

Die britische Sicht nach außen ist stets auch eine auf die ganze Welt. Hierbei haben die Insulaner einige, durchaus nachvollziehbare Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit, denn diese Weltsicht ist nicht mehr die einer Weltmacht, sondern die eines wirtschaftlichen und militärischen Mittelgewichts. Auch hier war es Churchill, der den Niedergang des Empire mit Floskeln einer Spezialbeziehung der english speaking peoples, sprich GB-USA, zu übertünchen suchte, wofür die angeblichen Verwandten auf der anderen Seite des Atlantik nur Spott übrig hatten. Nein, diese special relationship war ein Hirngespinst. Das wurde den Briten bei der sog. Suezkrise 1956 deutlich gemacht, als die USA bestimmten, dass Engländer und Franzosen sich aus Ägypten herauszuhalten bzw. von dort zu verschwinden hätten.

Das gemeinsame Vorgehen beider Länder war so etwas wie die Wiedererweckung der Entente Cordiale gewesen, die ab Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen Großbritannien und Frankreich als militär-politisches Bündnis geschmiedet worden war, um das wirtschaftlich prosperierende Deutsche Reich gründlich zu ruinieren. Das gelang, wenn auch nur nach entscheidender Beihilfe der USA (1914-45). Der Autor geht auf diese glorreichen Zeiten ein und empfiehlt allen Ernstes, dass Großbritannien sich nach dem Austritt aus der EU auf eine solche starke Entente mit Frankreich rückbesinnen solle, um dank seiner militärischen Stärke erneut eine führende Rolle in Europa beanspruchen zu können.

Der Autor hält diesen Vorschlag für realistisch, da er Deutschland für außenpolitisch impotent und für einen militärischen Zwerg einschätzt, so dass die Führungsrolle auf dem Kontinent automatisch Frankreich zufalle. Der heutige französischen Präsidenten Macron verkörpere diese Rolle als ein Repräsentant des Nationalen wie der liberalen Welttugenden.

Bei solchen Sentenzen sollte man als deutscher Leser hellhörig werden. Eine britisch-französische Entente war stets gegen Deutschland gerichtet. Und ganz so sieht es auch nach diesen Vorschlägen aus. Frankreich, so liest man, habe nach dem Austritt Großbritannien aus der EU die natürliche Führerschaft in dem EU-Konglomerat auf seinem Weg zum Gesamtstaat übernommen, und Großbritannien besitze durch seine militärische Stärke und gleiche strategische Interessen den Rang eines idealen Bündnispartners. Deutschland kommt in diesem Gedankengebäude nur noch als Finanzfaktor vor, dem zudem übel genommen wird, die Weltwährung durch Schuldenmachen zur Finanzierung der deutschen Einheit geschwächt zu haben. Wenn sich die Deutschen überhaupt für etwas interessierten, dann sei es das Geldverdienen. Deswegen werde sich die deutsche Bevölkerung niemals daran beteiligen, eine Schuldenunion auf der EU-Ebene entstehen zu lassen. Da irrt der Professor aus London, denn er überträgt sein Bild davon, wie es zur Zeit um den Antagonismus zwischen Volk und Herrschaftsschicht in Großbritannien bestellt ist, ausgerechnet auf die Verhältnisse in Deutschland. Und das ist falsch.

In summa: Das ist ein lesenswertes Buch, denn es beleuchtet, was man in der englischsprachigen Welt den Studenten über Großbritannien und die EU und die Rolle beider in der Welt beibringt, und wie man sie lehrt, das liberale Weltbild gegen die Nationalstaaten zu verteidigen.

Egon W. Kreutzer: Andere Abhilfe. Literarische Vision zur Gestaltung einer vom Grundgesetz eröffneten Option. Norderstedt, Book on Demands, 2020. 321 Seiten, 22,00 €.

Das Buch ist ein Zukunftsroman. Er handelt von einem Staatsstreich gegen das etablierte System in Deutschland. Argumentationsgrundlage des Autors ist die Verfassungsvorschrift des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz, wonach allen Deutschen ein Widerstandsrecht gegen diejenigen zusteht, die es unternehmen, die Verfassungsordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Es ist nicht die Aufgabe einer Roman-Rezension, der Frage nachzujagen, ob wir in Deutschland dieses Stadium erreicht oder, ja nach Sichtweise, den Rubikon bereits überschritten haben. Dieses hier ist kein Staatsrechts-Seminar. Der Leser muss sich vielmehr auf diese, vom Autor postulierte Grundannahme einlassen, sonst braucht er mit der Lektüre eigentlich nicht zu beginnen. Tut er es dennoch, kann er den Roman immerhin noch unter dem Blickwinkel lesen, was böse Verschwörungstheoretiker in ihren Köpfen spuken haben, um das beste aller Deutschlands zu verhunzen.

Wie auch immer. Werfen wir einen Blick auf die Handlung. Es gibt, wie aus dem Nichts, eine vage Organisationsstruktur von Leuten, die genau das denken, was der eine oder andere auch schon gedacht haben mag, nämlich dass es in unserm Land eine Herrschaftsschicht gibt, die Deutschland mutwillig oder aus Unfähigkeit oder aus einem Gemisch von beidem gegen die Wand fährt. Hieraus ziehen die Protagonisten die Schlussfolgerung, diesen Zustand im Wege eines Staatsstreich zu beenden. Der Leser wird in mehrere Handlungsstränge mitgenommen: Die ausufernden Verhältnisse in Deutschland, in denen sich das Leben bemerkbar chaotisiert, die Machenschaften, die darauf angelegt sind, die psychische Verblödung der Bevölkerung voranzutreiben, und die konspirativen Bemühungen, dem Ganzen ein Ende zu machen.

Ein Zukunftsroman wird sicher von jedem mit anderer Elle gemessen. Mich hat interessiert, ob ich das Entstehen der Widerstandsorganisation nachvollziehen kann. Also die Frage: Wie finden sich diese Leute? Wo kommen sie her? Wie erkennen sie einander? Wie schützen sie sich gegen Verrat? Wer führt, wer ordnet sich unter? Vermutlich sind meine Fragestellungen falsch, zu sehr geprägt durch die Denk-Ansätze der Berufsjahre. Jedenfalls lautet der Rat an meine Amtsnachfolger: Keine Angst, entspannt euch, so wie vom Autor vorgeschlagen, wird es nicht funktionieren:

Ein wohlgeordnetes Verfahren, in welchem ein am 1. Mai ins Land hinausschwafelnder Bundespräsident unterbrochen wird, indem man ihm das Mikrofon abschaltet, der sodann die Entlassung der Regierung unterschreibt und gleich anschließend den eigenen Rücktritt. Das entbehrt nicht der Komik, denn das Staatsoberhaupt war in seiner Rede grade an der Stelle angekommen, wo er den Tag der Arbeit zum Tag umwidmete, an dem jeder an sich selber arbeiten müsse.
Es geht also, um die Planung und Durchführung eines unblutigen Umsturzes. In Ruhe und Ordnung. Ich mag nicht dagegen meckern, denn, Leute, das ist ein Roman. Es ist der vom Autor romanhaft für möglich gehaltene Ablauf. Dabei ist eine gut lesbares Buch mit einem gelungenen Spannungsbogen herausgekommen. Einige der Figuren kommen einem irgendwie bekannt vor.

Stephan Paetow: Black Box 2020. Die Satirischen Sonntagskolumnen von Stephan Paetow.
München, Wishing Well Media, Dezember 2020. 110 Seite, 18,90 €.

Das Buch ist – wie aus dem Subtitel ersichtlich – eine Sammlung von Beiträgen, die der Autor Woche für Woche für die Online-Publikation Tichys Einblick (TE) verfasst. Böse Zungen behaupten, dies sei ein Hauptgrund, TE sonntags, wenn nicht gar überhaupt aufzurufen. Soweit würde ich nie gehen, wiewohl festzustellen ist, dass ich Paetows Beiträge als die Haselnüsse in Tichys Bitterschokolade empfinde, die ich nur zu gerne herauspicke.

Wozu also noch das Buch? Das lässt sich leicht beantworten. Der Eindruck aus dem Internet ist stets flüchtig. Dies hier hat man schwarz auf weiß und dann auch noch für ein ganzes Jahr. Mit etwas Abstand bewertet man die Ereignisse anders, stellt Verknüpfungen her, die in der Aktualität des Tages nicht erkennbar waren. In diesem Zusammenhang ist es kaum zu überschätzen: Das, was da steht, ist wirklich passiert. Jetzt beim zusammengefassten Lesen habe ich mir ein ums andere Mal an den Kopf gegriffen: Wirklich? Das hatte ich ganz vergessen.

Vielleicht lenkt eine solche ernsthafte Bewertung des Buches von einer ganz speziellen Sache ab. Paetow schreibt respektlos, er hängt den Akteuren des Circus officialis schrille Glöckchen um: Karl jetzt ohne Fliege Lauterbach, Frank-Walter, der Spalter, Heiko, unser Äußerster, der Innen-Horst, Deutschlands größter Wirrologe (schon wieder Lauterbach), Erdolf, der Prächtige, Eroberer von Idlib, und so weiter und so fort. Dumm dran ist nur, wer wg. Unbekanntseins mit vollem Namen genannt werden muss. Nun mag diese Art des Umgangs mit unsern Prominenten nicht jedermanns Sache sein – jedenfalls nicht für Untertanen. Ich gebe zu, dass mich der despektierliche Ton amüsiert.

Paetows Prosa hat noch einen weiteren über den Tag hinausreichenden Kern. Seine Aufzeichnungen sind zugleich Protokoll einer permanent falsch oder missleitend berichtenden Mainstream-Presse. Deswegen mein Tipp für Zeitgeschichts-Forscher: Vor Übernahme eines Faktums aus den Mainstream-Medien schnell noch mal bei Paetow nachschlagen. Entdeckt man dort das Gesuchte, ist nur zu häufig Anlass, nachdenklich zu werden.

Okay, das ist jetzt genug Lob. Ich empfehle das Buch. Lästig fand ich lediglich, dass die gegenüberliegenden Text-Doppelseiten jeweils nach der laufenden Kalenderwoche benannt sind. Das ist eine Zählweise, die mich öfters notgedrungen zum Terminkalender hat greifen lassen, um das Datum besser einkreisen zu können.

Ulrich Schacht: Im Schnee treiben. Essays zum poetischen Weltverständnis. Dresden, Edition Buchhaus Loschwitz, 2021, 262 Seiten, 18 €.

Dies ist ein Aufsatzsammelband des verstorbenen Journalisten Ulrich Schacht. Ein solches Buch muss es sich gefallen lassen, dass man in die Beiträge hineinliest, um herauszufinden, was einem lesenswert erscheint und was nicht. In diesem Fall hätte ich fast nach wenigen Minuten aufgegeben, denn der von mir willkürlich angelesene Aufsatz begann derartig verschroben, dass ich keinen Anlass sah, mich weiter ärgern zu lassen (Eichendorff, Ungaretti oder Der Blick über die Grenze, S. 98): Am Ende seines Lebens sehen wir den ein Jahr vor Ausbruch der französischen Revolution von 1789 auf Schloss Lubowitz bei Ratibor geborenen Dichter, Ex-Offizier der Lützowschen Jäger im anti-napoleonischen Befreiungskrieg und preußischen Staatsbeamten Josef Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff in jenem Zeitalter angekommen, in dem auch das Portrait als Kunstwerk nicht mehr nur potentielle Vorlage, manueller Kopie, sondern wie Walter Benjamin in seinem berühmten Essay aus dem Jahre 1936 entwickelte: Objekt „technischer Reproduzierbarkeit“ geworden ist.

Was bedeutet das? Was soll das? Wer liest so was? Wenn dann im selben Aufsatz ein Gedicht von Eichendorff wie folgt zitiert wird…
Es war als hätt der Himmel/die Erde still geküsst,/Dass sie im Blütenschimmer/von ihm nun träumen müsst. //Die Luft ging durch die Felder, /Die Ähren wogten sacht,/Es rauschten leis die Wälder,/so sternklar war die Nacht.// Und meine Seele spannte/Weit ihre Flügel aus,/Flog durch die stillen Lande,/ als flöge sie nach Haus.

…ja, da ist man baff. Es handelt sich hier nach dem Subtitel des Buches um poetisches Weltverständnis. So skurril sah ich Eichendorff selbst von seinen Feinden nicht verhunzt. Erwähnen will ich immerhin, dass ich zum Regal geeilt bin, und zwei Abende lang Eichendorff gelesen habe. Aus dem Leben eines Taugenichts wird mir einfach nicht langweilig, andere Erzählungen las ich zum ersten Mal.

Da ich mir lange schon abgewöhnt habe, Verrisse zu schreiben, muss der Grund für diese Rezension ein anderer sein. Und richtig: Ich habe in dem Buch nach Überwindung des Ärgers etliche Goldkörner gefunden. Denn immer wenn der Autor seinen Hang zum selbstverliebten Belesenheitsnachweis abstreift und vom Feuilleton zur Reportage übergeht, wird der Leser belohnt.

Mir haben es die beiden Nordlandexpeditionen Schachts nach Spitzbergen und nach Franz-Josef-Land angetan. Mein Lieblingsstück ist indessen seine Beschreibung Dresdens, wo er ein Jahr lang ein Stipendium als Stadtschreiber auslebte. Allein sein früher Besuch im dortigen Antiquariat Bücherscheune ist ein Kleinod. Das ist Reportage pur – man blickt Schacht über die Schulter.

Boris Sawinkow: Das schwarze Pferd. Roman aus dem russischen Bürgerkrieg. München, dtv, 2018. 263 S., 11,80 €.

Es handelt sich um einen Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg (in etwa: 1918-23). Der Ich-Erzähler ist ein Regimentskommandeur der ehemaligen zaristischen Armee, jetzt die Weißen, die gegen die Bolschewiken, die Roten, einen blutigen Krieg führen. Er wechselt sodann von den Weißen zu den Grünen, das ist die hierzulande wenig bekannte dritte Größe in dem unübersichtlichen Gemetzel.

Man beschreibt sie am besten so: die Enttäuschten beider Seiten, die sich in die Wälder zurückzogen – daher die Bezeichnung grün –, um ein selbstorganisiertes Leben zu führen. Der Ich-Erzähler wird einer der Leiter der Grünen. Im weiteren Verlauf der Handlung schlägt er sich nach Moskau durch, um dort Terrorhandlungen gegen kommunistische Institutionen und Spitzenfunktionäre zu organisieren und auch eigenhändig durchzuführen. Durch Verrat fliegt alles auf. Er flieht außer Landes.

Man kann dieses Buch aus zwei Blickwinkeln lesen: Es ist eine spannende Story, die in den Abgründen einer entfesselten Welt spielt. Es ist aber auch deswegen so fesselnd, weil es sich um eine rücksichtslose Selbstbeschreibung des Autors handelt. Zu diesem Boris Sawinkow sollte man wissen, dass er – aus einer Familie des zaristischen Dienst-Establishments stammend – von Jugend an ein führender Terrorist der illegalen Partei der Sozialrevolutionäre gewesen ist. Eigenhändig beteiligt an der Ermordung russischer hoher Beamter, wurde mehrfach verhaftet und entging dem Tod am Galgen durch Flucht. Er lebte dann wie viele seinesgleichen im Pariser Exil. Hier entstanden auch seine ersten literarischen Arbeiten, so der Vorgängerroman Das fahle Pferd und eine Autobiographie Memoiren eines Terroristen. Nach der russischen Februarrevolution 1917 glückte es Sawinkow, aus Frankreich nach Russland zu gelangen, wo dem bekannten Mann eine Stelle als stellvertretender Kriegsminister in der Provisorischen Regierung zufiel, die er bis zum
August 1917 innehatte. In dieser Übergangszeit waren die Fronten noch einigermaßen klar: Die neuen Herren in Petrograd waren gegen den Zaren und für die Fortsetzung des Krieges, und sie waren gegen die Parallelherrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte. Diese wiederum waren gegen alle anderen und hinsichtlich der Kriegsfortsetzung ambivalent. Das alles spielte keine Rolle mehr, nachdem es Lenin, Trotzki & Co gelungen war, sich mit viel deutschem Geld gewaltsam an die Macht zu putschen. Lenin beendete, so wie er es seit Monaten versprochen hatte, die Mitherrschaft aller anderen und den Krieg mit dem Deutschen Reich.

So entstanden in Russland neue Fronten: Die Matadore der Februarrevolution und die ehemaligen zaristischen Herren fanden sich plötzlich auf der selben Seite wieder, dem der Antibolschewiken. Doch diese Seite hatte niemals eine zündende Idee und noch weniger einen glaubwürdigen Führer. Ganz im Gegenteil: man war zutiefst gespalten in diejenigen, die daran glaubten, das Volk zu vertreten (so zum Beispiel Sawinkow), und jene ganz anderen, die nach der Restauration der alten Herrlichkeit strebten.

Der Ausgang der Sache ist bekannt. Die Bolschewiken schlugen ihre Widersacher, einen nach dem anderen. Sawinkow, der wie sein Roman-Held erst bei den Weißen gedient hatte, dann zu den Grünen gewechselt war, floh erneut ins Pariser Exil. Hier entstand das Schwarze Pferd. Doch hielt es den Abenteurer nicht auf Dauer im Abseits. Bereits im Sommer 1924 ging er auf das Angebot einer innerrussischen Widerstandsorganisation ein, deren Reihen vor Ort zu verstärken. Er ahnte nicht, dass er auf ein Betrugsmanöver der Tscheka hereinfiel, die diesen Staatsfeind Nummer eins auf diese Weise zu liquidieren gedachte. Mitte August 1924 überschritt Sawinkow die sowjetische Grenze. Unmittelbar danach wurde er festgenommen und keine zwei Wochen später in einem eigens für ihn inszenierten Schauprozess am 27. August 1924 zum Tode verurteilt.

Lesenswert ist, was Sawinkow als Geständnis in den Stunden nach der Verhaftung zu Papier gebracht hat und was er vor Gericht als Aussage nahezu wortgleich wiederholte. Beide Einlassungen sind im Buch im Wortlaut abgedruckt. Sawinkow bekannte ganz offen, dass er gegen die Roten mit allen Mitteln gekämpft habe. Hierfür müsse er sich nicht entschuldigen. Er habe lediglich einem Irrtum insofern unterlegen, da er geglaubt habe, das russische Volk stünde nicht auf deren Seite. Das müsse er nunmehr aufgrund eigenen Augenscheins korrigieren. Ich habe keine Ahnung, ob Sawinkow das wirklich geglaubt hat. Leise Zweifel beschleichen mich, wie er diese Erkenntnis so plötzlich gewonnen haben will. Das von ihm geliebte russische Volk hat er in diesen Tagen bestenfalls durch die Gitter eines Gefangenentransportes gesehen.

Für das Sowjetsystem war diese Aussage von ungeheurem Wert. Die obligate Todesstrafe wurde deswegen unverzüglich in eine 10-jährige Haftstrafe verändert. Sawinkow war in der Folgezeit so etwas wir ein Sondergefangener mit großzügigem Freigang, einem Doppelzimmer in der TschekaZentrale in der Lubjanka und der Möglichkeit, Besuch durch seine Moskauer Geliebte zu empfangen. Das muss dem Mann auf Dauer nicht genügt haben. Am 5. Mai 1925 sprang er aus dem 5. Stockwerk der Lubjanka in den Tod. Manch einer behauptete hernach, hierfür habe es helfende Hände gegeben.

Ein interessantes, lesenswertes Buch mit einem langen, sehr nützlichen Anhang, der vom Übersetzer Alexander Nitzberg gestaltet wurde. Ich will kein Beckmesser sein und verkneife mir den Hinweis auf den einen oder anderen Datumsfehler, nur einen finde ich kurios. Das ist der Hinweis im Impressum des Buchs, dass das Original 1909 erscheinen sei. Das ist falsch.

Egon W. Kreutzer: Wollt ihr das totale Grün? Handreichung zur Bundestagswahl 2021. Norderstedt,
Books on Demand, 2021. 162 Seiten, 11,90 €.

Noch einmal der Autor Kreutzer, doch diesmal ein Sachbuch, das sich mit dem Wahlprogramm der Grünen in Form von Zitaten und Kommentaren akribisch auseinandersetzt. Rücksichtslos nimmt der Autor die Phalanx der grünen Floskeln auseinander. Sein Fazit: die Grünen werden unsere jetzige Gesellschaft zerstören. Er hat zudem berechnet, was die von den Grünen versprochenen Segnungen kosten werden, und wer das bezahlen soll, nämlich Sie, der Leser, und ich. Fazit: Das ist ein nützliches Buch für jeden, der sich vornimmt, Naive vom Grünwählen abzubringen und der gerne die passenden Argumente bei der Hand hat. Voraussetzung ist allerdings, dass das Gegenüber überhaupt noch zu einem klaren Gedanken in der Lage ist.

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3. Mai 2021
Der Verlag Knaur stand einmal für Kompaktes, verständlich für
jedermann. Jetzt wird er als Lumpensammler tätig: Die Großen
Reden der A.M.

Großes Gerede (2): Die DDR war zuweilen von amüsanter
Ehrlichkeit heimgesucht. Sie verwendete den Ausdruck
Autorenkollektiv.

Großes Gerede (3): Bis zum 2. August müssen wir noch warten.
Warum bloß? Eine Sinologin, so liest man, müsse die Sentenzen
erst sichten.

©Helmut Roewer, Mai 2021