Hausaufgaben und Sofakartoffeln

Es gibt so störende Details, worüber die Journallenden nicht berichten dürfen, weil sie ansonsten wie in einer studentischen Verbindung in den Verschiß geraten. Das war so geregelt: Jemanden in Verschiß tun hieß, jemanden schneiden weil er in erheblicher Weise gegen den Burschenkomment verstoßen hatte. Der Betreffende erhielt während des Verschisses, aus dem er sich in älterer Zeit herauspauken mußte, keine Satisfaktion. Jeder Umgang mit ihm unterblieb. So ähnlich ist das heute auch in der Nachrichten- und Kommentarzunft geregelt.

Ein heißes Thema sind derweilen in vielen Haushalten, nicht jedoch für die Medienberichterstattung, die Hausaufgaben. Ab der fünften Klasse, manchmal schon vorher, sind die Eltern nur gelegentlich in der Lage zu helfen. Ich hatte angeboten, in Mathe Hilfestellung zu geben, aber die Aufgaben werden einmal in der Woche in Papierform ausgegeben, die kann man sich nicht mal fix zumailen. Die müssen noch wie in der Goethezeit mit der Post versendet werden, wenn die Leut keinen Scanner haben. Die meisten Zeitgenossen haben zwar einen Fotoapparat, mit dem man auch telefonieren kann, einen Scanner haben sie aber nicht. Allenfalls bekommt man ein Foto über Whatsapp, was man sich großzoomen soll.

Es gibt Schüler, die wie die Automaten funktionieren. Sie tragen ihre Hausaufgaben ins Heft ein, machen sie so früh wie möglich und nicht auf den letzten Pfiff, vergessen sie nie und versagen oft im wirklichen Leben an dessen bizarrer Wirklichkeit. Andere geraten oft ins Träumen und Abschweifen, in den Lehrbüchern las ich die Abschnitte, die mich faszinierten, aber nicht die Lieblingskapitel meiner geplagten Lehrer. Bleistifte wandelten sich zu Raketen, das Tintenfaß in der Schulbank zur Abschußrampe, Radiergummis zu Panzern. Mit dem Banknachbarn Klaus liefen schwierige Waffenstillstandsverhandlungen, während die Lehrern was vom Akkusativ verzählte.

Im Stubenarrest die Selbstdisziplin aufrecht zu erhalten ist nicht leicht, sie herzustellen, wenn man sie nicht hat, das dürfte mißlingen. Erste Jugendliche versacken vor dem Compi bei Videospielen. Die Tendenz ist nicht ganz neu, aber es nimmt jetzt Ausmaße an, daß die Jünglinge leichenblaß sind, weil sie die Sonne nicht mehr sehen. Ein Heranwachsender aus der Bekanntschaft fürchtet sich aus dem Haus zu gehen, weil er wegen der Kórona-Propaganda aus dem Fernsehen die frische Luft fürchtet. Kleine Ticks verfestigen sich im Lauf von Monaten zu Gewohnheiten.

Ich erinnere mich, welche Schwierigkeiten meine Lehrer hatten, nach den Ferien wieder Zug in den Schul- oder Unibetrieb reinzubringen. Allein das Wochenende reichte schon die ZK-gewollte Ordnung aufzuweichen. Deshalb wurde montags  eine halbe Stunde früher aufgestanden, als sonst in der Woche. Nach den Zerstreuungen des Sonntags, wo viele Schüler sich mit ihren Eltern bzw. Freunden kleinbürgerlichen Vergnügungen oder gar dem dekadenten Westfernsehen hingegeben hatten, wurde es für erforderlich gehalten, wieder zum tristen Alltag überzuleiten. Das weiße Pionierhemd mit dem bei zahlreichen Wäschefesten ergrauten Kragen wurde angelegt und ein blaues Tuch um den Hals gebunden. In diesem Aufzug wurde hinter der Schule auf einem eigens hergerichteten Platz klassenweise Aufstellung genommen, so daß insgesamt ein Halbkreis entstand. Vorn in der Mitte befand sich, die Älteren werden sich noch daran erinnern, der Fahnenmast. Rechts vom Mast standen der Schuldirektor und die Pilei. Zunächst mußte gemeldet werden. Also wurde erstmal durchgezählt. Dann meldete der Letzte im Glied an den Gruppenratsvorsitzenden: „Klasse sowieso mit x Pionieren zum Fahnenappell angetreten“. Dazu gehörte eine Handbewegung, die rechte Hand wurde in Richtung Kopf bewegt. Dann setzte sich der Gruppenratsvorsitzende in Richtung Pilei in Bewegung, und dort angekommen wurde die Meldung einschließlich Handbewegung noch einmal wiederholt. Wenn alle sieben Klassen endlich fertig gemeldet hatten, rief die Pilei: „Seid bereit!“, und alle Schulklassen antworteten: „immer bereit“. Dann wurde zu „Kleine weiße Friedenstaube“, „Der kleine Trompeter“, oder „Auf, auf zum Kampf“ die Fahne hochgezogen. Und dann kam das Ereignis, worauf sich alle so freuten: Entsprechend dem Fortschritt des Jahres und streng nach dem Heiligenkalender hielt ein Lehrer oder die Pilei eine flammende Rede. Anlaß waren Geburtstage und Todestage von Parteigrößen wie Wladimir Iljitsch Lenin, Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, der Ausbruch der Oktoberrevolution oder der Pioniergeburtstag am 13. Dezember. Mürbe gemacht zogen die Klassen danach in ihre Räume.

Ganz schlimm war die Ordnung nach dem Militärlager zusammengebrochen, zwischen dem Ende der Veranstaltung und den Sommerferien lagen drei Wochen, die für die Menschheit verloren waren.

Ich will damit andeuten, daß man eine Ordnung mühevoll herstellt, daß sie von alleine jedoch zerfällt. Es dürfte einige Mühe bereiten, eines Tags wieder zum Schulalltag überzugehen.

 

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Tugend will ermuntert sein, Bosheit kommt von ganz allein.“ (Wilhelm Busch)