Biedermeier folgt auf Jahrhundertwende
Kulturelle Phänomene waren immer schon Frühindikatoren gesellschaftlicher Umbrüche. Insofern war die Beobachtung des Ausflugsgeschehens am Wochenende mehr als interessant, waren doch Picknicks seit den sechziger Jahren fast ausgestorben. Das gesellige Treffen in Wald und Flur war seit etwa 1970 immer mehr ins Hintertreffen geraten, der Niedergang der Ausflugsgaststätten im Nahbereich der Städte lief parallel dazu.
In den 70ern und 80ern ging der Trend klar zum Wochenende, der sog. Datscha oder Datsche, danach dominierten die Auslandsreisen nach Spanien, Italien, Schweden, Kroatien und in die Türkei. Pfingsten gab es nun eine klare Tendenz zurück zur Natur im Nahbereich der Städte.
1911 wurde Jakob von Hoddis „Weltende“ veröffentlicht, ein schütteliger Extrakt aus Klima und Schnupfen-Kórona, das die deutschen Gymnasiasten regelrecht elektrisierte, da gehörte offensichtlich auch vor hundert Jahren nicht viel dazu:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es von Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Da laufen nun 2020 die städtischen Strohhüte wieder im Wald und auf dem Feld herum, die im August 1914 begeistert in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wurden. Inzwischen ist nicht mehr der Rucksack, sondern ein teurer Tournister ein Ausweis, den aktuellen Modetrend nicht verschlafen zu haben. Nur die Botanisiertrommel kommt nicht wieder. Oder doch noch? Und man frönt 2020 wie 1910 der Lust am Weltuntergang, heuer nicht durch einen Kometen, sondern durch CO2:
Im 19. Jahrhundert folgte die Jugendbewegung als Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung auf das ärmliche Biedermeier. Für das 21. ist meine Prognose anders herum: Erst Jugendbewegung mit Greta und Langstreckenluisa, dann Biedermeier. Diese Abfolge ergibt sich einfach aus den finanziellen Verhältnissen. Sie werden in etwa fünf Jahren prekär sein.
Einen Blick in diese sparsame und gesellige, mehr auf die Familie gerichtete Zukunft gab es auf dem Kötsch: Hier fand ein größeres Picknick statt, alle Tische waren besetzt. Sogar Tischdeckchen waren ausgebreitet, Körbe mit mitgebrachten Leckereien ließen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Epoche der Thermoskanne und des Bierflaschenschanppverschlusses ist wieder da, oder nicht?
Grüße an den V-Schutz. Ihr habt wenigstens Schlapp- und keine Strohhüte!
Ihre Kulturprognose dahingestellt, die Gegend um den Carolinenturm ist für Wanderer recht angenehm (wie überhaupt das große Waldgebiet um Bad Berka). Und zur Hutgeschichte: Thomas Wangenheim.
Das Ärmer-Werden will aber geübt sein. Sicher, es hilft auch alte Bücher zu lesen (Die Familie Pfäffling oder Leberecht Hühnchen). Aber auch ein Coaching „Mit weniger auskommen“ könnte nützlich sein.
Heinrich Seidel beschreibt in Leberecht Hühnchen gerade das Gegenteil: Das Hereinwachsen in eine reichere Zeit. Zum Schluß verkauft Hühnchen seine Hütte an einen Bauträger, weil der mit immer mehr Kohle winkt und zieht in eine größere Behausung.
Nun, ein durchaus positiver Trend, den ich allerdings schon immer mit meinen Kindern und Engeln gepflegt habe – ohne dass das als spießig oder altmodisch abqualifiziert wurde.
In diesem Zusammenhang macht sich ein fehlender Kiosk am Kötsch schon lange schmerzlich bemerkbar.
Vielleicht schafft der „neue“ Trend neue, alte Geschäftsfelder.
Habe das WE übrigens im Dresdner Umland erlebt – jede Menge Familien und Gruppen zu Fuß oder par Rad unterwegs – mit Picknick.
Diese beschriebene Ausflugskultur, die bis in die 70iger reichte, habe ich auch am damaligen (Ost-)Berlin sehr gemocht.