Vor 30 Jahren: Paneuropäisches Picknick
Der Magyar Hirlap berichtet heute über den 30. Jahrestag des Paneuropäischen Pickniks. 600 „Keletnémeti“ waren nach Österreich geflohen:
Wenige Tage nach der deutschen Kapitulation sandte der britische Premier Churchill am 12. Mai 1945 sein berühmtes Telegramm an den amerikanischen Präsidenten Truman, in dem er erstmals den Begriff Eiserner Vorhang beschrieb. Wie er schrieb, war die Situation in Europa zutiefst besorgniserregend, weil: „Der Eiserne Vorhang ist uns ins Gesicht gefallen. Was hinter ihm vorgeht, wissen wir nicht. Es besteht kein Zweifel, dass die Gebiete östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu vollständig in russischer Hand sein werden … “Churchill war der Ansicht, daß die Eroberung Mitteleuropas durch die Rote Armee besonders besorgniserregend ist, da die russische Macht überall auftreten würde. Im Mai 1945 sah der britische Politiker (spät), daß Sowjetrußland das Herz Europas betreten hatte, eine „fatale Wende für die Menschheit“. Er erkannte jedoch nicht an, dass es Franklin Delano Roosevelt war, der die größte Verantwortung dafür hatte, daß sich die westlichen Alliierten mit den anderen bösartigen Mächten gegen das Dritte Reich Hitlers verbanden, und infolgedessen konnte Stalin Europa erobern und versklaven.
Der Eiserne Vorhang spaltete den Kontinent für fast ein halbes Jahrhundert nicht nur politisch, ideologisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell, sondern auch physisch. Die im August 1961 errichtete Berliner Mauer war und ist das höchste und absurdeste Symbol des Eisernen Vorhangs, von dem der DDR-Diktator Erich Honecker Anfang 1989 sagte, sie würde in fünfzig oder hundert Jahren bestehen, obwohl sie zehn Monate später zusammenbrach. Erst dann endete der Zweite Weltkrieg in Osteuropa. Danach zogen sich die sowjetischen Truppen aus allen mittel- und osteuropäischen Ländern zurück, die zwischen 1944 und 1945 besetzt worden waren.
Im Dezember 1989 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl in Budapest: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen.“ Innerhalb weniger Monate brachen die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa als Kartenhäuser zusammen und 1990 vereinigte sich das Nachkriegsdeutschland wieder. Was letztendlich der „erste Stein der Berliner Mauer“ war, ist natürlich eine Frage der Perspektive und des Urteilsvermögens, da der Abriss des ungarischen Eisernen Vorhangs auch das Ergebnis eines längeren Prozesses war.
Die moskautreuen Kommunisten in Ungarn errichteten zwischen 1947 und 48 eine totale Diktatur, und ein wichtiges Element hierfür war die strenge Grenzkontrolle und die vollständige Schließung der westlichen (österreichischen) und südlichen (jugoslawischen) Grenzen. Nach mehreren verschärften Maßnahmen, einschließlich der einseitigen Kündigung des zwischen den beiden Weltkriegen mit Österreich geschlossenen lokalen Grenzverkehrsabkommens, beschloß das von Rákosi geleitete staatliche Verteidigungskomitee (auf Vorschlag des Innenministers János Kádár) im Dezember 1948, einen tiefen Grenzschutz und Drahtbarrieren einzurichten. Gleichzeitig haben Änderungen des Strafgesetzbuchs die Strafen für das Überschreiten der Grenze erheblich verschärft. 1949 errichteten die technischen Einheiten der Armee einen Stacheldrahtzaun und ein Minenfeld an der gesamten österreichischen (und jugoslawischen) Grenze, und die Offiziere der ÁVH, die ab Anfang 1950 die Grenze und die fünfzehn Kilometer breite Grenzzone übernahmen, erhielten strenge Feuerbefehle. Was absurd war, weil das österreichische Territorium auf der anderen Seite der Grenze – das Burgenland – bis 1955 ebenfalls sowjetisch besetzt war. Nach dem Inkrafttreten des österreichischen Staatsvertrages hat die ungarische kommunistische Führung mit Erlaubnis des Kremls natürlich die technische Grenzsicherung an der Westgrenze verstärkt. Nachdem das Minenfeld und die Drahthecke im September 1956, nach dem 23. Oktober und vor allem am 4. November, der zweiten sowjetischen Intervention, an der österreichischen Grenze entfernt worden waren, gelangten Zehntausende ungarischer Flüchtlinge ungehindert nach Österreich.
Im Dezember 1956, nach der Revolution und der Unterdrückung des Unabhängigkeitskrieges, begann die Wiedereinführung der strengen Grenzkontrolle, und Kádár, Chef der sowjetischen Marionettenregierung (FMPK), gab Anfang 1957 bekannt, dass an der Westgrenze eine technische Schleuse errichtet werden sollte. Nach der Entscheidung des Verteidigungsrates (Kádár, Biszku, Münnich, Géza Révész, Antal Apró) wurde im Sommer 1957 der Eiserne Vorhang (zweireihiger Stacheldrahtzaun, Dreiliniendrahtrolle, Hunderttausende Antipersonenlandminen und Berührungspfade) wiederhergestellt. Später, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, beseitigte das Kádár-Regime unter österreichischem Druck nach und nach ein Minenfeld, in dem viele unschuldige Menschen (darunter auch Österreicher) ums Leben kamen. Stattdessen installierte er ein viel „humaneres“ elektrisches Signalsystem und begann gleichzeitig, die Regeln und Bedingungen für die legale Einreise und Ausreise zu vereinfachen.
Die vier Jahrzehnte des ungarischen Eisernen Vorhangs endeten 1989 mit dem Titel „annus mirabilis“ (ein wunderbares Jahr). Nach der Erosion des kommunistischen Ein-Partei-Staat-Systems, die durch die von Gorbatschow geführten Reformen („Glasznosti“ und „Perestroika“) in der Sowjetunion beschleunigt wurde, begannen im Frühjahr und Sommer 1989 die friedlichen Verhandlungen über das Regime. Zu dieser Zeit stand auch die Frage der dauerhaften Aufhebung des Eisernen Vorhangs, der anachronistischen, barbarischen Voraussetzung des Kalten Krieges, auf der Tagesordnung. Der war veraltet, weil die ungarische Regierung Anfang 1988 den Weltreisepass für Reisen nach überall eingeführt hatte. Aus diesem Grund überquerten am 7. November 1988 anlässlich der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ (dem letzten Feiertag in Ungarn) Hunderttausende Ungarn mit ihren Familienangehörigen die österreichische Grenze, um ihre Autos in den Frontier Stores mit Gorenje Kühlschränken, Grundig VCR, Commodore 64 Computern, jugendlichen Walkmans und anderen trendigen westlichen Konsumgütern zu füllen. Für viele war der Eiserne Vorhang de facto abgeschafft.
Nachdem das oberste Leitungsgremium der MSZMP im Februar 1989 eine „schrittweise und vorhersehbare Gewaltenteilung“ und einen schrittweisen Übergang zu einem Mehrparteiensystem beschlossen hatte, begann der Abbau der technischen Sperren (an der ungarisch-österreichischen Grenze) Anfang Mai und wurde Ende Juli abgeschlossen.
Gleichzeitig wurde ab dem 1. August die zwei Kilometer lange Grenzzone zwischen der abgerissenen technischen Schleuse und der eigentlichen Staatsgrenze endgültig aufgehoben. Eine interessante Episode zeitgenössischer politischer PR und spektakulärer politischer Bäckerei war der Wiederaufbau des „Eisernen Vorhangs“ von Sopron auf einer kurzen Strecke mit Wildnetzen am 27. Juni, was gemeinsam und symbolisch von dem ungarischen Außenminister Gyula Horn und dem österreichischen Außenminister Alois Mock inszeniert wurde. Die Öffnung der historischen Grenze am 11. September war ein glücklicher Auftakt für das gesamteuropäische Picknick vor 30 Jahren in der Nähe von Sopron.
Das wichtigste Ereignis der Wende war, dass im Sommer 1989 Zehntausende DDR-Bürger formell zu einem Urlaub nach Ungarn kamen, mit der wahren Absicht, nicht in die DDR zurückzukehren, sondern als politische Flüchtlinge in den Westen abzureisen. Ihre Hoffnung in diese Richtung beruhte auf dem Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention im Frühjahr 1989, und andererseits wurde die technische Sperre an der ungarisch-österreichischen Grenze in den Sommermonaten aufgehoben. Gleichzeitig war die Absicht der ungarischen Regierung, die sich in einer sehr heiklen Situation befand – zwischen zwei Fronten – nicht bekannt, weil sie keinen der deutschen Staaten verärgern wollte, sich aber nicht mit den Massen der ostdeutschen Flüchtlinge auseinandersetzen konnte.
In dieser Situation beschleunigte ein nichtstaatliches Ereignis die Ereignisse. Am 20. Juni hielt MdEP Otto Habsburg, Präsident der Paneuropäischen Union, einen Vortrag in Debrecen, wo die Führer der örtlichen MDF-Organisation beschlossen, am 19. August ein Picknick an der Westgrenze zu organisieren, um den Abriss des Eisernen Vorhangs zu feiern. Die Idee wurde von MDFs in Sopron und anderen Gebieten aufgegriffen, die die Idee einer demonstrativen Grenzöffnung hinzufügten. In Absprache mit den Regierungschefs (Miklós Németh, Imre Pozsgay) und den Grenzschutzbeamten wurde es am 19. August zwischen 15 und 18 Uhr auf der alten Bratislavaer Autostraße zwischen Sopronkőhida und Szentmargitbánya ermöglicht, in das Nachbarland zu rennen.
Die Organisatoren des Paneuropäischen Picknicks bereiteten sich auf eine friedliche Demonstration in familiärer Atmosphäre vor. In den Lagern in Budapest und bei der westdeutschen Botschaft zirkulierte inzwischen ein deutschsprachiger Flugzettel mit einer Karte, die fälschlicherweise die Möglichkeit enthielt, die Grenze ohne Reisepass zu überqueren. Gegen drei Uhr nachmittags erschienen plötzlich Hunderte von DDR-Bürgern am Picknickplatz und überquerten die Grenze mit überwältigendem Schwung. Der frühere Oberstleutnant István Róka erinnert sich daran: „Wenige Minuten vor der geplanten Öffnung der Grenze stellten wir fest, dass sich etwa 100 Meter vor dem Tor Menschen aufhielten.
Zu diesem Zeitpunkt war bereits erkennbar, dass eine entschlossene Gruppe von Menschen sich der Grenze näherte. Vor der entschlossenen Menge standen harte, athletische Männer mit Frauen und Kindern in der Mitte. Plötzlich wurde die Menge blockiert, gestoppt, und dann knallte ein Sektkorken, was wahrscheinlich bedeutete, daß wir uns davonmachen sollten. Und tatsächlich, auf unserer Seite, als die Menschenmasse kam, wurden die Paßkontrolleure sofort von der Menge mitgerissen und die brach mit einer einzigen Bewegung das Tor. Wir hatten eine Waffe, aber der Feuerbefehl war nicht mehr in Kraft …
Zum Glück für die mehr als sechshundert ostdeutschen Flüchtlinge. Zwei Tage später, am 21. August, hatte Kurt-Werner Schulz Pech – er versuchte am späten Abend, die Grenze bei Peresznye in der Nähe von Kőszeg zu überqueren, doch er wurde entdeckt. Schulz begann mit einem ungarischen Grenzschützer zu ringen, dessen Waffe versehentlich abgefeuert wurde und den Deutschen tödlich verwundete. Er war das letzte Opfer des ungarischen Eisernen Vorhangs seit vier Jahrzehnten … Drei Wochen später, am 11. September, konnten DDR-Bürger ab null Uhr nach Österreich und dann nach Westdeutschland Ungarn verlassen. Bis zum Mauerfall im November nutzten mehr als fünfzigtausend Menschen die Gelegenheit.
Soweit der Magyar Hirlap. Bei uns im Dorf waren die Leute wie elektrisiert. Immer wieder sahen sie sich das unerhörte Ereignis im Fernsehen an und rieben sich die Augen. Mein Nachbar von Gegenüber fuhr unverzüglich nach Ungarn und konnte auch flüchten. Am nächsten Tag machte ein Gedicht die Runde:
Was mußt Erich heut erfahren
aus dem Lande der Magyaren?
Kann er sich die Haare raufen,
Landeskinder sind entlaufen
von Sopron nach Eisenstadt,
was er nicht erwartet hat.
Ungarn zucken mit den Achseln,
können nicht verhindern kraxeln
über ihren Stacheldraht,
den man schon beseitigt hat.
Krokodile weinen Tränen,
Preußen knirschen mit den Zähnen,
ach, so denkt man in Berlin,
schöne Stalin-Zeit ist hin.
Der Grenzdurchbruch bei Sopronköhida war vermutlich das Ereignis, welches die Ostberliner Diktatur in ihrer Bunkermentalität am meisten beschädigt hat. Am Tag danach war nichts mehr wie vorher.