Die Umdeutung des Herbstes 1989
Daß die Jubiläumsfeiern zum Ende des Stacheldrahts unerfreulich werden würden, ahnte man im dunkeldeutschen Süden schon lage. Denn es bestimmen ja nicht die damaligen Akteure, sondern die Massenmedien über das, was in Geschichtsbüchern steht. 1989 hatte ich mir zunächst in der Euphorie des November ausgemalt, wie der 25. und der 30. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert – oder pathetisch ausgedrückt – begangen werden würden. Zuerst dachte, ich, daß die Macher der Wende vor ihrem Ableben noch einmal im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stehen würden. Aber schnell reifte die Überzeugung, daß diese Annahmen zu optimistisch wären und der eigenen Eitelkeit zu sehr schmeicheln. Denn Undank ist der Welt Lohn, pflegte die weise Großmutter zu sagen.
Als ich am 1. Oktober 1989 das erste Mal nach Berlin fuhr – es war eine recht abenteuerliche Reise mit vielen Überraschungen – um an einem Treffen der Opposition teilzunehmen, traf ich vor Ort auf eine desolate Situation. Denn bei den damaligen Verhältnissen der Flüsterpropaganda fuhr man los, ohne zu wissen wohin. Es gab ja noch kein Telefon und keine Emails. Neues Forum, SDP oder was ging ab? Es war sozusagen eine Fahrt ins Blaue. Ich landete zufällig in der Gründungsversammlung des Demokratischen Aufbruchs. Da waren alle Berliner versammelt, die mit Personen des Neuen Forums und der SDP seit Jahren persönlich über Kreuz lagen oder mit Bärbel Boley seit der Steinzeit verkracht waren. Einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Zeit schwirrten Anekdötchen durch den Raum. Das war eben Berlin. Die Opposition war heillos zerstritten, und auch die Versammlung endete im Streit. Und zwar darüber, wer gegenüber der Westpresse die Gründung des Demokratischen Aufbruchs verkünden dürfe. Die Presse kam aber nicht. Vor dem Haus standen nämlich zwei Mannschaftswagen besetzt mit Bepo und im Hausflur eine Polizeikette. Da rutschte den Reportern von SPIEGEL und WELT doch das Herz in den Hosenboden.
Die Spaltung der Opposition war von der Stasi durch Gerüchte, Zersetzungsmaßnahmen und die Einschleusung von Agenten auch verstärkt worden. Nicht alles an Ressentiments war natürlich zustande gekommen. Andererseits wollten alle Westparteien die Opposition in ihrem Sinne beeinflussen und gründeten in Ostberlin ihre Außenstellen, lieferten Literatur, Kopierer und Propagandamaterial. Dabei waren die Grünen, die protestantische Kirche und linksradikale Splittergruppen wesentlich fleißiger gewesen, als die SPD, die lieber mit den Mächtigen disputiert hatte.
Der linksradikale und grüne Rand war also auf die Revolution wesentlich besser vorbereitet als die staatstragenden Parteien und hatte sozusagen Bodenpersonal. CDU und FDP halfen sich mit der Annäherung an die christ- und liberalbolschewistischen Blockflöten, die SPD hatte ein Problem. Ihre Reputation war durch jahrelanges Fraternisieren mit der SED im Osten ziemlich am Boden. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt. Die Krise der SPD begann eigentlich in den 80ern, als sie Helmut Schmidt die Gefolgschaft verweigerte und das unsägliche Blabla mit Ostberlin anfing.
Schon wenn man die Verrenkungen und Rankünen der Lügenpresse und des damals noch nicht zwangsfinanzierten Staatsfernsehens während des Zusammenbruchs der Zone sah, merkte man wohin der Hase läuft: Zur Umdeutung des Herbstes 89. Dazu trug schon automatisch der Sitz der Medien in Berlin, Hamburg und München bei. Die liberalkonservative ostdeutsche Provinz kam in der Berichterstattung nicht vor. Die Medienmärchen aus Adlershof und Mainz waren berlinlastig und damit elitär Linksgrün. Ein Aufruf von Christa Wolf „Für unser Land“ mit einem Hang zum demokratischen Sozialismus machte die Runde, die ersten Oppositionellen wollten sich mit der SED verbrüdern. Es dauerte nicht lange, und aus Sachsen und Mecklenburg wurde ein Naziland geschmiert, der Niedergang der Wirtschaft wurde nicht der Abgeschiedenheit der Russenzeit, sondern der Bundesregierung in die Schuhe geschoben. Legendenbildung überall. Allerdings hatten Kohl und Genscher, Schröder und Fischer und zuletzt Dr. Merkel keine Konzepte für den Wiederaufbau einer nationalen Industrie des Ostens.
Leute, die bei der letzten Volkskammerwahl im März 1990 oder auch danach sang- und klanglos untergingen, waren in der Glotze im Herbst 89 die Gesichter der sogenannten friedlichen Revolution. Friedrich Schorlemmer, Ibrahim Böhme, Wolfgang Schnur, Gregor Gysi hatten privilegierten Zugang zum Westfernsehen. Der Begriff „friedliche Revolution“ war schon damals das, was man heute „Framing“ nennt. Es war der Einstieg in die Entnazifizierung der SED-Führung. Den letzten Rest von demokratischen Illusionen nahmen einem die Reporter und Berichterstatter am Abend der Volksammerwahl, als sie dem Wahlverlierer Gregor Gysi stundenlang am Mund hingen. Sicher, es war nicht sonderlich ästhetisch den sabbernden Wahlsieger zu porträtieren, aber Lothar de Maiziere war nun mal gewählt worden, allerdings in der Halbhauptstadt Berlin nur mit mageren 18,3 %. Da konnte man schon ahnen, daß Gysi die Festrede zum 9. Oktober 2019 halten wird.
Die Opposition, oder was von ihr übriggeblieben ist, sollte am 9. November in strikter Abgrenzung vom Staat ihre eigenen Treffen abhalten. Mit den freien Medien. Denn der 9. November ist für uns der emotionalste Tag. Es war die Befreiung aus dem Nachkriegsserail. Den Tag kann man nicht mit dem 3. Oktober vergleichen, als ein paar honorige Herren aus dem Westen in Berlin nach wohlgesetzten Worten die Nationalhymne sangen und ein Feuerwerk veranstalteten. Alles leidlich gut und schön, die Bilder von Helmut, Oskar, Willy und Hans-Dietrich, aber unter die Haut ging das nicht.
Ein eigenes Treffen ist vielleicht eine gute Idee.
Ja – das ist wohl das Beste.
Und aus diesem Anlass nochmal die harten Zahlen der Deindustrialisierung und der Verwaltungs- und Gerichtsbarkeitübernahme auf den Tisch.