Die Wendehälse von 1918
Der Begriff des politischen Wendehalses wurde erst 1989 geprägt. Diese edlen Vögel gab es jedoch immer schon, wie tief man sich in der Weltgeschichte auch vergräbt. Viele Väter der Weimarer Republik hatten in verschiedenen Positionen dem Kaiser treu gedient, einige hatten insbesondere die deutsche Kriegsmaschine nach Kräften geölt. Das war natürlich die Pflicht jedes deutschen Patrioten, wo der Krieg nun einmal ausgebrochen war. Was jedoch fragwürdig ist: Wenn die Nachwelt einigen von ihnen unverdient Kränze als absolute Beginner einer politischen Wende flicht.
Der AEG-Direktor Walther Rathenau, nach dem heute noch Plätze, Straßen und Schulen benannt sind, wurde bereits im August 1914 Leiter der Kriegsrohstoffabteilung (KRA), die bald zu einer obersten Reichsbehörde ausgebaut wurde. Rathenau organisierte die Beschaffung von Rohstoffen, auch in den besetzten Gebieten, und formte eine staatlich gelenkte Mangelbewirtschaftung als Mischung aus staatlichen Eingriffen und industrieller Selbstverwaltung, in deren Gefolge rund 200 Kriegsrohstoffgesellschaften gegründet wurden. Diese Gesellschaften waren letztlich Zwangssyndikate, in denen alle Produzenten der kriegsnotwendigen Erzeugnisse vereint wurden. Von diesen Zwangsvereinigungen hat sich die deutsche Wirtschaft bis in die 50er Jahre nicht mehr verabschiedet, im Osten bleiben sie unter dem Namen „VEB“ und „Kombinate“ bis 1990 erhalten. Der Amtsnachfolger von Rathenau in der KRA, Koeth, organisierte 1919 die Demobilisierung im Auftrage der deutschen Räte. Viele Beamte der Kriegsbewirtschaftung landeten in den Sozialisierungskommissionen. Die Macher der kaiserlichen Kriegsmaschinerie und die Revolutionsführer verstanden sich offensichtlich prächtig. Rathenau wurde übrigens im weiteren Verlauf Reichsaußenminister und ruinierte das ohnehin bis zum Reißen gespannte Verhältnis zu den Siegermächten nach Kräften.
Ab Oktober 1914 war Matthias Erzberger (Zentrum) als Leiter der „Zentralstelle für den Auslandsdienst“ für die planvolle Steuerung der öffentlichen Meinung im Ausland zuständig. Bereits 1912/13 hatte er als Zentrumsabgeordneter Im Reichstag eine starke deutsche Aufrüstung unterstützt. Zu Beginn des Weltkriegs forderte er die Einverleibung Belgiens, 1918 unterschrieb er die Kapitulation. Er wurde danach Reichsfinanzminister und zerstörte die kommunalen Finanzen, was bis heute nicht behoben ist.
Gustav Stresemann (DVP) hatte sich besonders im „Deutschen Kolonialverein“ hervorgetan und sich ebenfalls für die Angliederung von Gebieten stark gemacht. Er bekam in den zwanziger Jahren die Kurve und trieb als Reichsaußenminister den Ausgleich mit Frankreich voran. Was dauerte und mühsam war, weil er die hinterlassenen Scherben von Rathenau aufzukehren hatte.
Friedrich von Payer war Vizereichskanzler gewesen. Als solcher hatte er noch im Oktober 1918 verkündet, Deutschland werde nach dem erhofften „Wilson-Frieden“ die natürliche Schutzmacht der von Russland abgefallenen und vom Bolschewismus bedrohten Randstaaten sein. „Gegen Osten ist die Welt wieder offen für uns.“ Dort sei für uns Frieden und bleibt für uns Frieden, mag es unseren westlichen Feinden gefallen oder nicht. In der Nationalversammlung war er Fraktionsvorsitzender der DDP und damit für die Weimarer Verfassung mitverantwortich.
Der spätere Reichskanzler Wilhelm Cuno, in dessen Amtszeit 1923 die französische Ruhrbesetzung fiel, war während des Krieges Leiter der Reichsgetreidestelle. Als solcher war er an der Bildung des Kriegsernährungsamtes beteiligt.
Bernhard Dernburg (Nationalliberal, nach 1918 DDP) war seit 1908 Staatssekretär im Kolonialministerium gewesen. Er wurde im Kabinett Scheidemann Reichsfinanzminister.
Viele andere, vor allem Sozialdemokraten, unterstützten die Kriegspolitik passiv durch den sogenannten Burgfrieden und die Zustimmung zu den Kriegskrediten, z.B. Friedrich Ebert, Phillipp Scheidemann, Hermann Müller. Ebert wurde Reichspräsident, Scheidemann und Müller wurden Kanzler.
1917 begann ein Umdenken bei einigen dieser Politiker, sie drängten auf einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen. Also auch ohne Rausgabe deutscher Gebiete. Dieses Umdenken wurde denen zum Verhängnis, die die Verantwortung für den 1918 nicht mehr zu vermeidenden Friedensschluß übernahmen: Sie wurden nach Versailles als Novemberverräter bezeichnet.
Erzberger wurde nicht wegen seiner faschistoiden Reichsfinanzreform, sondern wegen seiner Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde ermordet, Rathenau nicht wegen der Sozialisierung der Wirtschaft, sondern weil er Jude und „Kriegsgewinnler“ war. Auf Scheidemann wurde ein Säureanschlag verübt, Ebert (wegen eines Beleidigungsprozesses verschleppte Blinddarmoperation), Müller (verpatzte Gallenoperation) und Stresemann (Herzinfarkt) wurden totgeärgert. Am Tag, als Stresemann starb, notierte Goebbels in sein Tagebuch:
„Hingerichtet durch einen Herzschlag. Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt. Gut so! Er hat sich dem kommenden Strafgericht entzogen.“
Bis hierher ist nur von Politikern berichtet worden. Viel einflußreicher als diese waren in einer selbstgefühlten Kulturnation die sog. „Kulturschaffenden“. Denn sie vergifteten vor und nach dem Krieg das Klima. Zu den Wendehälsen gehörten natürlich auch jene Expressionisten, die sich von Kriegslyrikern oder Kriegsfreiwilligen zu Pazifisten oder Anklägern des imperialistischen Krieges wandelten. Hierzu gehörten beispielsweise Ernst Toller, Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Otto Dix, Thomas Mann, Alfred Döblin, Johannes R. Becher, Kurt Tucholsky und Bertold Brecht.
Wenn man die extreme Verlogenheit, politische Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit der deutschen Lebensreform studieren will, so gibt es mehrere besonders traurige Exempel: Ferdy Horrmeyer beispielsweise malte ein Kriegsanleihepalkat und eine Aufforderung sozialistisch zu wählen im zeitlichen Abstand von weniger als einem Jahr. Für die letzte Kriegsanleihe warb er 1918 und für den Pazifismus noch im selben Jahr. Leider darf ich die beiden Plakate hier nicht darstellen, weil er erst 1978 gestorben ist und die Urheberrechte noch nicht erloschen sind. Aber am 1.1.2049 ist es soweit, daß sie gepostet werden dürfen.
„Was sind das für Köpfe: sie pappen Bolschewistenplakate an die Mauern, aber als unsre Väter, Brüder und Söhne in den Gräben verdreckten und verlausten, als sie zu Tausenden verreckten – da warben sie für die Kriegsanleihen, und kaum eine Hand rührte sich für die unschuldigen Opfer einer verbrecherischen Politik.“
Diese Frage stellte ausgerechnet Kurt Tucholsky, der selber für die letzte Kriegsanleihe geworben hatte. Er wusste aus erster Hand, worüber er sprach.
1918 war die Zahl der politischen, künstlerischen und wirtschaftlichen Newcomer wesentlich geringer, als nach der Herstellung der Deutschen Einheit 1990. Wo findet man in der Weimarer Republik maßgebliche Politiker, die ihre Wirksamkeit erst nach 1918 entfalteten? Der reformistische Ausländer Adolf Hitler und seine PGs sind relativ seltene Beispiele, und gleich schlechte. Wie sah es bei den Künstlern aus? Einige Neue Sachliche, wie Hans Fallada und Erich Kästner gehen in einem Meer von Altgedienten fast unter und spielten erst am Ende der Republik eine geringe Rolle. Ansonsten auch hier einige Nationalsozialisten wie Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels.
Die Zeitungen der Weimarer Republik wurden von den Vorkriegsmedienzaren Mosse und Ullstein beherrscht, im Weltkrieg kam Hugenberg dazu. Der einzige Neue war Wilhelm Münzenberg, der im Auftrag der Kommunistischen Internationale in den 20ern einen stalinistischen Medienkonzern aus dem Boden stampfte. War nicht wirklich hilfreich.
In der Bundesrepublik hat sich weitgehend eine naive Auffassung der Gutmenschen von Weimar durchgesetzt. Im Kurztext zu Hans Mommsens „Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar“ heißt es:
„Die deutsche Demokratie von Weimar entsprang der nichteingestandenen Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg. Ihre Schöpfer versagten aus nationalpolitischen Rücksichten vor der Aufgabe, einen klaren politischen und moralischen Trennungsstrich zu den Verfechtern einer verfehlten Weltpolitik und zu den Verteidigern einer überholten sozialen Ordnung zu vollziehen. Die abgebrochene deutsche Revolution erleichterte die liberal-parlamentarische Verfassungsgebung, aber erschwerte es, sie mit demokratischen Inhalten zu füllen. Der Weg der Weimarer Republik in den Untergang ergab sich aus einer unaufrichtigen Allianz heterogener Interessen und ideologischer Strömungen, die nur in der Kampfstellung gegen den Liberalismus und Sozialismus übereinstimmten.“
Mommsen scheute sich mit Rücksicht auf die Lebensreformmafia, die nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch dichtete, malte, schrieb und musizierte, Roß und Reiter zu nennen. Dieselben Leute, die vor dem Weltkrieg für die Verbreitung der Lebensreform sorgten, kulturellen und politischen Sonnenkult trieben, den Neuen Menschen erdachten, Gewalt verherrlichten, eine horizontlose hasardierende Außenpolitik entwarfen, bei allem die tradierten Grundsätze der praktischen Vernunft leichtfertig über Bord warfen, betätigten sich nach dem Weltkrieg als Ärzte am Krankenbett Deutschlands, um eben jene Krankheit zu verschleppen, die sie selbst ausgebrütet hatten.
Die Schuld am Versagen der Weimarer Republik wird immer der Industrie, den Beamten und Richtern zugeschoben, wie in den Agitpropgemälden von Grosz, z.B. „Stützen der Gesellschaft“.
Die Verderber des Neuanfangs waren jedoch weniger die vielgescholtenen Generäle, Richter und Beamten des Kaisers, die oft in preußischer Pflichterfüllung eine ungeliebte Republik nach dem Buchstaben des Gesetzes lustlos tolerierten, sondern mehr die Eliten der Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur. Nicht nur die Ludendorffs, Hindenburgs, Rantzaus und Schleichers verdarben das Land, sondern auch die Rathenaus, Moellendorffs, Wissels, Sombarts und Cunos. Über dem Wirtschaftsbetrieb Nachkriegsdeutschlands lag immer noch der Mehltau der Kriegs- und Kartellwirtschaft und auf den republikanischen Kulturschreinen standen wie vor dem Krieg nackte Gigantenstelen auf Hakenkreuzdeckchen bzw. neben Hammer- und Sichelstandarten. Auch Fidus, Gropius, Hesse, Th. Mann, Gropius, Graf Kessler, Rilke, Tucholsky, George, Grosz, Zetkin und andere erklärte Antidemokraten leisteten ihren unheilschwangeren Beitrag zur Sabotage eines Neuanfangs.
Der höhere Beamtenapparat wurde im Laufe der Weimarer Republik personell neu ausgestattet. 1914 war jedes zweite preußische Landratsamt durch Vertreter des Adels besetzt, 1922 war der Adelsanteil auf 12 % gesunken, 1931 auf 7 %. In der Generalität hatten die preußischen Adligen 1914 einen Anteil von 70 %, 1921 waren noch 21,7 % adlig und 1930 nach der Verkleinerung der Reichswehr 34 %. Die Zahl der adligen Ministerialbeamten in Preußen schrumpfte von 1914 bis 1931 von 203 auf 34. Die Zahl der adligen Oberpräsidenten schrumpfte im gleichen Zeitraum von 18 auf 0. Zwei Fünftel der Polizeipräsidenten wurden durch republiktreue Beamten ersetzt. Neben die preußischen Berufsbeamten wurden bis 1928 1084 politische Beamte gestellt, von denen 20 % dem Zentrum, 16 % der SPD und 15 % der DDP angehörten. Nur noch in der Richterschaft blieb die Häufung von Angehörigen der alten Oberschicht weitgehend unangetastet. In der Wirtschaft, in der Kultur, in den Medien und in den tradierten Parteien dagegen blieben alle auf ihren Pöstchen und Posten, außer denen, die endlich in Rente gingen oder von Gott selbst von ihrer Tätigkeit abberufen worden sind.
Nicht so viel personelle Erneuerung wie in der Verwaltung gab es in der Wirtschaft. Die wirtschaftliche Grundlage des Spätkaiserreichs war einerseits aus einer Konstellation gewachsen, als Preußen noch eine Armee mit Land war, als nämlich Waffenmanufakturen staatlich waren. Andererseits zogen die wirtschaftlichen Verwerfungen ihre Kraft und ihren Bestand auch aus den Träumen von der Kraft der Korporationen des Mittelalters. Es seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war eine staatlich und planwirtschaftlich beeinflußte Privatwirtschaft, die sich im Krieg zur völlig reglementierten Kriegswirtschaft weiterentwickelte. Das bedeutet, daß die Privateigentümer in einem planwirtschaftlichen System nur sehr begrenzt Einfluß auf die Produktion nehmen konnten. Preise, Mengen, Rohstoffe, Absatz waren wie im Mittelalter bei den Zünften ihrer Einflußnahme weitgehend entzogen. Sie waren im Weltkrieg Organisatoren des Produktionsprozesses, die aus einer bestimmten zugeteilten Menge Vorprodukten in einer bestimmten Zeit mit zugeteilten Arbeitskräften eine bestimmte Menge Endprodukte zu liefern hatten. Dieser Typus wurde früher Zunftmeister, später Betriebsführer genannt und noch später unter Walter Ulbricht Betriebsleiter. Mit dem Begriff des Kapitalismus ist dieses Organisationsverhältnis begrifflich nicht in Übereinstimmung zu bringen, denn kapitalistisches Eigentum bedeutet Verfügungsgewalt. Verfügt wurde woanders als in den Betrieben, in übergeordneten Reichsstellen und Selbstverwaltungsorganisationen, die wiederum den Reichsstellen unterstanden. Später in Plankommissionen.
Von den Machern der kriegswirtschaftlichen Reglementierung, Rathenau, Moellendorff, Koeth sowie von einem Teil der damals tonangebenden modischen Wirtschaftswissenschaftler, und solchen, die sich dafür hielten, z.B. Werner Sombart, Wladimir Iljitsch Lenin und Rudolf Hilferding wurde diese zentralistische marktferne Ordnung als gesellschaftlicher Fortschritt verstanden und einige der Macher aus der Kriegsrohstoffabteilung und dem Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt saßen folgerichtig nach der Revolution in der Sozialisierungskommission und priesen die Vergesellschaftung der Produktionsmittel.
Lenin und Hilferding hatten diese planwirtschaftliche Rückwärtsrolle als staatskapitalistische Entwicklung gedeutet und so verstanden, daß aus dem Staatskapitalismus, den Lenin Imperialismus nannte, der Sozialismus hervorgehen würde. Oberflächlich war das gut und scharf beobachtet, denn aus dem Wirtschaftssystem der Weimarer Republik entstand tatsächlich rassereiner Sozialismus, zunächst braun, danach rot. Aber der Weg in den „Staatskapitalismus“ und Sozialismus war kein Fortschritt, sondern eine historische, ökonomische und politische Sackgasse der gesellschaftlichen Evolution, die nach 1950 bzw. 1990 rückgängig gemacht wurde.
Auf der Tagesordnung der Novemberrevolution hätte die Rückkehr zum Konkurrenzkapitalismus als Grundlage der parlamentarischen Demokratie gestanden, wenn man die parlamentarische Demokratie denn wollte. Konservative, Reformisten, Klerikale, Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige Sozialdemokraten standen fest auf dem Boden der Planwirtschaft, indem sie die Rückkehr zum Kapitalismus und nach Europa nicht im Programm hatten und eher den Status Quo oder eine genossenschaftlich-berufsständische Ordnung in Deutschland anstrebten.
Es ging zunächst um eine notwendige Wirtschaftsreform, um die bürgerliche Demokratie mit ihrem Wettbewerb politischer Konzeptionen mit einem Wettbewerb von Produzenten zu verbinden, den politischen Wettbewerb durch den wirtschaftlichen Wettbewerb zu untersetzen und zu stabilisieren. Notwendig war ein wirtschaftlicher Trennungsstrich, die Rückkehr zu Bismarcks Gewerbefreiheit, der modernen europäischen Wirtschaftsordnung, um damit im Zusammenhang eine politische, kulturelle und moralische Renaissance zu bewirken.
Wenn man ganz leidenschaftslos betrachtet, wo sich auf der Welt parlamentarisch-demokratische Verhältnisse etablieren konnten, und wo nicht, so stößt man darauf, daß Planwirtschaften zur Diktatur neigen, Mischsysteme aus Plan- und Marktwirtschaft oft ein Mischsystem zwischen Diktatur und Demokratie entwickeln und Marktwirtschaften ein parlamentarisches System aufweisen. Das war in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht anders. Die derzeitige Erosion der demokratischen Ordnung in Deutschland geht mit der Verdrängung der Marktwirtschaft Hand in Hand.
Während England und die Vereinigten Staaten relativ überschaubare Probleme mit der Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie hatten, sah es auf dem europäischen Kontinent ganz anders aus. Der totalitäre Bazillus breitete sich aus.
Rußland wurde seit dem Aufkreuzen der Goldenen Horde autoritär regiert. In Italien wurde 1922 die Mussolini-Diktatur errichtet. Polen und Litauen wurden seit 1926 autoritär regiert. Albanien folgte 1927, Jugoslawien 1929, Portugal 1930, Österreich und Deutschland 1933, Lettland, Estland und Bulgarien 1934, Griechenland und Spanien 1936 und Rumänien 1938.
Im Osten Europas wurde 1938 nur die Tschechoslowakei noch halbwegs demokratisch regiert, im Westen Frankreich, das Vereinigte Königreich, Irland, die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Luxemburg sowie die skandinavischen Staaten.
Die autoritär-diktatorische Seuche ging um in Europa. Sie war die Folge der übermäßigen Verseuchung der Volkswirtschaften mit planwirtschaftlichen Ansätzen. Autoritäres Wirtschaften denkt nun einmal autoritäres Regieren voraus und umgekehrt. Eduard Stadler hatte das bereits im März 1919 in seiner Broschüre „Die Revolution und das alte Parteiwesen“ angedeutet: „Echt ist … die Tendenz, an Stelle der Formaldemokratie des 19. Jahrhunderts etwas Neues zu setzen, nämlich die politische Macht der gegliederten Gesellschaft.“
An der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik ist diese Erkenntnis weitgehend vorbeigegangen. Statt dessen Verschwörungen finsterer Kräfte, falsche Kampfstellungen, Mangel an aufrechter Gesinnung. Alles was sich in den Weimarer Köpfen abspielte, sind jedoch Kollateralschäden eines verbrauchten, aber weiterhin für richtig gehaltenen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells.
Alle Revolutionen scheitern, denn mit dem Umsturz ändern sich nicht automatisch die Menschen. Da Revolutionen nie perfekt ablaufen, gibt es regelmäßig Enttäuschung und eine Rückerinnerung an die Zeit vor der Revolution. Die Revolution frißt ihre Kinder, sie ist irgendwann zu Ende und es überleben nicht die Revolutionäre, sondern revolutionäre Institutionen, in der Weimarer Zeit zum Beispiel die republikanische Verfassung und das allgemeine Wahlrecht. Wenn diese Institutionen die Generation derer überleben, die sich noch an die Zeit vor der Revolution erinnern können, dann haben die geänderten Institutionen eine gewisse Chance, einen längeren Zeitraum zu überdauern.
Das war bei der Weimarer Republik nicht der Fall. Sie wurde von Wandervögeln und Lebensreformern aller Couleur, darunter dichtenden, musizierenden, bauenden und politisierenden Elitaristen zur Stecke gebracht und als politisches System überrannt. Vollkornverzehrende Eigenbrötler, vom schönen Mittelalter träumende Zunftmeister, leninistische Parteiavantgardisten, deutschtümelnde Germanenschwärmer, kapitalismuskritische Antisemiten, von Blutreinigung und Menschenzucht besessene Landkommunenindianer, Heimatschützer, die das Arten- und Brauchtumssterben betrauerten, christliche Volksgemeinschaftssoftis und Querulanten in Reformsandalen bildeten ein zivilisationskritisches und demokratiefeindliches buntes Netzwerk. Die politischen Arme dieses kulturellen Netzwerks waren elitäre jugendoptimistische Bünde, dem Führerprinzip verpflichtete Vereinigungen, Parteien und Landbünde, die Kommunisten als Elitepartei „Neuen Typus“ und als Erben der meisten dieser Organisationen die Nationalsozialisten, die die Republik mit offenem Visier bekämpften und zusammen mit Stalinisten und linksliberalen Reißbrettpolitikern zerstörten. Die passive Seite bildeten die Weimarer Parteien SPD und Zentrum, die den demokratischen Staat durch eine fehlende ökonomische und kulturelle Fundamentierung dem schnellen Verfall preisgaben. Spätestens seit 1930 hatten die erklärten Todfeinde und Gegner der parlamentarischen Republik die Mehrheit der Wähler auf ihrer Seite. Nicht durch diesen Wählerwillen und auch nicht durch die Einigkeit der Demokraten, sondern nur bedingt durch die präsidentiale Übermacht und den Immobilismus des uralten Präsidenten Hindenburg konnte die Weimarer Republik als politisches System noch drei Jahre bis 1933 überleben, dann wurde Hindenburg überredet, Blödsinn zu machen. Die parlamentarischen und demokratischen Institutionen der Republik wurden binnen kurzer Zeit abgeschafft, sie waren so wenig im Volk verwurzelt, daß nur eine schwache Erinnerung die 12 Jahre des tausendjährigen Reichs überdauerte. Die Großelterngeneration konnte sich um 1960 vor allem an Straßenschlachten zwischen Kozis und Nazis am Zahltag erinnern. Das war meistens freitags.
Von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution hatte es einen Paradigmenwechsel gegeben. Die demokratischen Rauschebärte, die für Deutschland eine parlamentarische Republik erträumten, waren in der Spätkaiserzeit langsam in die Defensive geraten. Mehr und mehr setzte sich beim Bildungsbürgertum der Glaube an die Kraft von Führern durch, die ihre Legitimation nicht durch Wahlen, sondern durch Charisma, Gewalt, Kraft und geistige Überlegenheit bezogen. Der Masse wurde mehr und mehr die Vernunft abgesprochen, diese politischen Titanen zu erkennen und zu wählen. Aus der allgemeinen Wahl würden politische Pygmäen als Sieger hervorgehen. Das demokratische Paradigma befand sich auch deshalb in der Krise, weil die Demokraten es zwischen 1848 und 1914 nicht fertiggebracht hatten, ihre Macht evolutionär zu erweitern. Es blieb in Preußen beim Dreiklassenwahlrecht, es blieb bei der Beherrschung des Reichstags durch den Reichskanzler. Bismarck wurde als Dompteur der Volksvertretung geehrt, und nicht als deren politischer Arm. Die Deutschen Kriege hatte Bismarck gegen das Abgeordnetenhaus vorbereitet und nicht mit den Mehrheitsliberalen. Dr. Merkel erinnert in ihrer Geringschätzung des Parlaments an den Eisernen Kanzler.
Die älteren Jahrgänge hielten noch an demokratischen Leitbildern und Vorstellungen fest, die jüngere Generation neigte zur elitaristischen Gewaltspolitik, wie sie von Nietzsche mit dem „Zarathustra“ propagiert worden war. In dieser Situation des labilen Gleichgewichts der Generationen und deren Lieblingskonzeptionen begann der Erste Weltkrieg als Erfolg der Kriegs- und Gewaltspropheten in Medien und Kultur. Er endete nicht wirklich mit einer Krise des Paradigmas vom überlegenen fröhlichen Krieger und von der Sieghaftigkeit des idealistischen deutschen Weges über den materialistischen britischen Kraken.
Bei den Intellektuellen gab es nach dem verlorenen Krieg eine ideologische Verunsicherung. Thomas S. Kuhn hat für die Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physik folgende Gesetzmäßigkeit entdeckt:
„Wenn sie auch beginnen mögen, den Glauben zu verlieren und an Alternativen zu denken, so verwerfen sie doch nicht das Paradigma, das sie in die Krise hineingeführt hat. Das heißt also, sie behandeln die Anomalien nicht als Gegenbeispiele, obwohl Anomalien im Vokabular der Wissenschaftstheorie genau das sind.“
Der Elitarismus, die Gewaltsphilosophie und der Führerglaube wurden nach dem Ersten Weltkrieg nicht verworfen, auch von denen nicht, die sich von Kriegstreibern zu Pazifisten gewendet hatten. Kurt Tucholsky beispielsweise bewunderte Mussolini und Stalin. Kuhn stellte fest:
„Sie selbst können und werden jene philosophische Theorie nicht falsifizieren, denn deren Verteidiger werden das tun, was wir die Wissenschaftler schon haben tun sehen, wenn sie mit einer Anomalie konfrontiert waren. Sie werden sich zahlreiche Artikulierungen und ad hoc-Modifikationen ihrer Theorie ausdenken, um jeden scheinbaren Konflikt zu eliminieren.“
Der Konflikt hieß: Obwohl der deutsche Idealismus über den englischen Kapitalismus überlegen ist, hat er den Krieg verloren.
Eine verbreitete ad hoc-Modifikationen war die Begeisterung für die Oktoberrevolution. So konnte das kriegerische nietzscheanische Paradigma gerettet werden, allerdings unter Aufgabe des Glaubens an die deutsche Überlegenheit.
Nun ging einfach im Osten die Sonne auf. Neue Artikulierungen waren auch das Bauhaus, das personell den Blauen Reiter und inhaltlich den Futurismus sowie den Expressionismus beerbte, die Logokratie, die aus dem Vorkriegs-Expressionismus und –aktivismus hervorging, der Nationalsozialismus und der Nationalbolschewismus. Kuhn stellte fest, dass eine Theorie, die einmal den Status eines Paradigmas erlangt hat, nur dann für ungültig erklärt wird, wenn ein neues Paradigma so entwickelt ist, dass es seinen Platz einnehmen kann. Die mitteleuropäische Intelligentsia war für einen Paradigmenwechsel noch nicht gerüstet, obwohl die bellizistische Theorie gerade in Deutschland und Österreich in die Irre einer Niederlage geführt hatte. Thomas S. Kuhn hat das Exemplarische in einer solchen ideologischen Krisensituation in Bezug auf die Paradigmen der Physik so beschrieben:
„Wenn er (der Wissenschaftler) sich nun auch darüber klar ist, dass die Regeln der modernen Wissenschaft nicht ganz richtig sein können, wird er sie doch strenger als je befolgen, um zu sehen, wo und wie weit sie im Bereich der Störungen angewandt werden können. Gleichzeitig wird er Wege suchen, den Zusammenbruch zu vergrößern, ihn deutlicher und vielleicht auch aufschlussreicher zu machen…“
Diese Verhaltensweise von Forschern liegt im Psychologischen begründet, und daraus ergibt sich die Frage, ob Ideologen, Politiker und Künstler nicht ähnlich auf eine Krise reagieren: Die strengere Befolgung der elitaristischen Theorie gegenüber den Verhältnissen im Spätkaiserreich verlangte die Bewunderung und Förderung so stringenter Führerstaaten wie Mussolinis Italien, Lenins und Stalins Russland und den Aufbruch in Hitlers Deutschland. Tatsächlich wurden in Russland und Deutschland alle Rekorde im Vernichten von Existenzen gebrochen, der Zusammenbruch unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte vergrößert. 1950 und 1990 entstanden mit der Eingliederung ins westliche Bündnissystem endlich Alternativen. Das Volk wollte die damit verbundene Sicherheit, die Bananen und den billigen Kaffee. Die Intelligentsia lästerte darüber. Da war was mit Bananen und Affen.
Um noch einmal auf die Weimarer Republik zurückzukommen. Im Kulturbetrieb, in den Medien, in der Wirtschaft und in der Politik gab es wenig personelle Erneuerung, und wenn ja, dann waren die Newcomer meistens Stalinisten und Nationalsozialisten. In den Beamtenapparat und in die Reichswehr kam etwas frischerer Wind, aber gerade diesen Bereichen stehen die in der Geschichtswissenschaft angestellten Agitatoren und Propagandisten am kritischsten gegenüber. Das hat damit zu tun, daß die Hetze, die die Jugendbewegung in den zwanziger Jahren entfaltete immer noch nachwirkt.
Wendehälse gibt es, seit es Menschen gibt. Wahrscheinlich gibt es sowas auch bei Tieren, z.B. wenn in einem Wolfsrudel der Leitwolf durch einen Nachfolger ersetzt wird oder werden muss.
Es sind aber ein paar Richtigstellungen wichtig:
Deutschland hatte nie vor, Belgien zu erobern und zu besetzen. Belgien ist Durchmarschgebiet für die Reichswehr nach der Kriegserklärung der Franzosen an Deutschland gewesen. Deutschland hat Belgien offiziell um Genehmigung des Durchmarsches ohne Kriegshandlungen gegen Belgien bei Erstattung aller eventuellen Schäden angefragt. Da aber Belgien schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr neutral war, marschierte die Reichswehr ohne diese Genehmigung ein.
Deutschland hat auch im Gegensatz zu Russland, das sofort nach Kriegsgeginn in Ostpreußen einmarschiert war und unerlässliche Schäden angerichtet hatte und Frankreich, das sich Elsass und Lothringen „wieder zurückholen“ wollte, nicht vor, einen Eroberungskrieg zu führen.
Der Friede im Osten, der mit dem Vertrag von Brest Litowsk geschlossen wurde, ist im übrigen in Versaille für unwirksam erklärt worden.
Zu den angeblichen Revolutionen in Deutschland und Russland und übrigens auch im Osmanischen Reich habe ich meiner Phantasie bereits freien Lauf gelassen.