Der Fluch der Chlorhühnchendebatte
Am 24. August hatte ich nach intensiven und frustrierenden Gesprächen mit einem Verwandten, der das ganze Jahr durch die Welt jettet, um mit Behörden über den Export deutscher Maschinen zu verhandeln, einen Eintrag über den sogenannten „Freihandel“ geschrieben:
„Aber was ist eigentlich der Lebensquell der EU? (…) der Freihandel ist es sicher nicht. Denn statt mit Zöllen wird die Wirtschaft mit nationalen und übernationalen Normen, Umweltstandards, Schikanen im Gewand des Verbraucherschutzes oder einfach mit Willkürmaßnahmen geknebelt und gequält, die weit heftigere Auswirkungen haben, als ein paar Prozent Zoll. (…) Wer daran glaubt, daß es in der EU ungehinderten Handel gibt, der gehört in die Klapsmühle. Von Freiheit in Europa schwafeln eh nur Politiker und Journalisten. (…) Diejenigen, die exportieren und importieren – die Praktiker – erzählen etwas anderes: Wie sich die Bürokraten aller Länder vereinigt haben, um zu gängeln, zu verhindern, zu zwiebeln und zu schikanieren.“
Inzwischen hat sich auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHT) entschlossen, den Kampf gegen nichttarifäre Handelshemmnisse aufzunehmen. Im Außenwirtschaftsbericht 2017, von dem gestern in der WELT N24 vorab berichtet wurde, heißt es:
„Die Unternehmen haben mit immer mehr Anforderungen, Regulierungen und Hemmnissen im internationalen Handel zu kämpfen (…) Vor allem lokale Zertifizierungen im Lebensmittel- und Gesundheitsbereich und verstärkte Sicherheitsanforderungen bremsen das Geschäft“
Die WELT zitiert Beispiele aus dem DIHK Bericht:
„Seit Ende 2015 verlangt die Türkei bei der Einfuhr elektrischer Geräte die Vorlage bislang nicht erforderlicher Prüfzertifikate, etwa zu deren elektromagnetischen Eigenschaften (EMC).“
„Immer aufwendiger wird es zum Beispiel, wenn man Mitarbeiter, zum Beispiel für Montagearbeiten, für kurze Zeit in ein anderes Land schicken will. Dies gilt laut DIHK unter anderem für Länder wie Österreich, Italien und insbesondere für Frankreich. „Bereits seit August 2015 müssen Unternehmen jeden zu entsendenden Mitarbeiter bei den lokalen Behörden anmelden. Seit Ende 2016 ist die Abgabe dieser Entsendemitteilung nur noch elektronisch möglich. Spontane Entsendungen, zum Beispiel der Einsatz eines deutschen Mitarbeiters für Reparaturen oder für Warenlieferungen per Lkw nach Frankreich, werden hierdurch fast unmöglich“, klagen die Exporteure.“
Letzteres kann ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen. Ich hatte kürzlich im Auftrag eines kleinen Einmann-Montagebetriebs einen endlosen Briefwechsel mit einem österreichischen Ministerium. Zum Schluß haben wir einen Weg gefunden, die Probleme der Arbeitserlaubnis zu lösen. Kleinbetriebe stehen die paragrafengespickte Korrespondenz mit den Wiener Magistern und promovierten Hofräten allein nicht durch.
Mit Frankreich ist eine Unterhandlung ganz unmöglich, weil die Normalfranzosen keine Sprachen können. Ich war einmal im Lande der Franzosen auf der Durchreise nach Spanien und wollte an einer Tankstelle bezahlen. Es ging wirklich nur um die Zapfsäulennnumer. Die sehr hübsche, aber etwas einfältige junge Dame an der Kasse konnte kein Italienisch (was dem französischen sehr ähnlich ist), kein Englisch, kein Polnisch, kein Ungarisch und kein Russisch. Und Deutsch natürlich auch nicht. Ein anderes Mal bin ich bei Perpignan in ein Hotelgelände eingefahren, wo es keine Rezeption gab, sondern nur einen Automaten. Der Automat zeigte an: „Hotel complet“. Nach einer Weile begriff ich, daß es voll war. Wegen einer Schranke kam man aber nur wieder raus, wenn man bereits eingecheckt war und die elektronische Karte hatte. Ein Teufelskreis. Ich ging zum Nachbarhotel an die Rezeption, um das Problem zu klären. Wieder dasselbe, wie an der Tankstelle. Gott sei Dank hatte ich einen starken Geländewagen, mit dem ich über eine Böschung, ein Blumenbeet und einen Zaun rauskam. „Wenns nicht geht wie man will, muß mans tun wie man kann“, war die passende Ritteregel des Runkel von Rübenstein. Irgendeine Weisheit aus seiner goldigen Sprüchesammlung paßt immer.
Auch die Umsatzbesteuerung ist für viele Kleinbetriebe im innereuropäischen Verkehr schwierig zu verstehen und zu handhaben. Gerade beim emsigen Bemühen alles richtig zu tun, stellen sich immer wieder neue Rechtsfragen, die ohne einen im Außenhandel versierten Steuerberater nicht zu lösen sind.
Nun muß man allerdings auch die Frage stellen, wer die vielen Umwelt-, Arbeitsschutz-, Verbraucherschutz-, Steuer- und Gesundheitsschutzvorschriften erfunden und erstmalig praktiziert hat. Einer der eifrigsten Pioniere auf diesem Gebiet der Vorschriftenerfindung (freilich nicht der einzige) war Deutschland.
Tugend will ermuntert sein, Bosheit kommt von ganz allein, dichtete Wilhelm Busch zum Thema der Verbreitung schlechter Praktiken. Am 23. November 1895 wurden in Deutschland die ersten „Sicherheitsvorschriften für elektrische Starkstromanlagen“, der Vorläufer der heutigen DIN VDE 0100 herausgegeben. Das war der Startschuß für die Normung in England und Deutschland, die nach 1900 in Gang kam. Arbeitsschutz wurde im 19. Jahrhundert zuerst in Preußen eingeführt, da sich durch Kinderarbeit der Gesundheitszustand der Rekruten deutlich verschlechtert hatte. Dazu erließ König Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1839 das Preußische Regulativ. Auch der Umwelt- und Emissionsschutz ist eine preußische Erfindung, obwohl es verstreute Bestimmungen zur Lösung von Einzelproblemen immer schon gegeben hat. Bereits in Bismarcks Gewerbeordnung von 1860 finden sich entsprechende Paragrafen. Deutschland war auch nach 1968 ein Vorreiter des Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsschutzes in der EU. Es war auch das erste Land, in dem die Grünen etwas zu sagen hatten, und es wird vielleicht das letzte sein, in dem sie aus den Parlamenten wieder verschwinden.
Aufschlußreich war die Anti-TTIP- und CETA-Propaganda der Grünen und der NGOs. Die Ablehnung der Handelsabkommen wurde nicht zuletzt damit begründet, daß nationale Umwelt- und Verbraucherschutzvorschriften ausgehebelt werden könnten.
Für den deutschen Außenhandel wäre das allerdings ein Segen. Für die Landwirte zum Beispiel, wenn es den Amerikanern erlaubt würde salmonellenverseuchte Hähnchen aus Deutschland zu kaufen. Oder warum ist es falsch, wenn die Deutschen sich für desinfizierte Ware aus Amerika entscheiden dürften? Warum überläßt man solche die individuelle Gesundheit betreffenden Entscheidungen nicht den Kunden?
Die teilweise völlig überzogenen das Gewerbe und den Handel betreffenden Schikanierungs- und Verhinderungsvorschriften hatten ihren Ursprung zumeist in Berlin, und nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo sich die teuflische Bürokratie überall in der Welt breit gemacht hat. Wo die Ausländer von Deutschland „gelernt“ haben und die von Deutschen erfundenen Waffen gegen Deutschland selbst gerichtet werden. Ob Hähnchen, Kettensägen, Rasenmäher, Waschmaschinen, Staubsauger oder VW-Diesel-Modelle, alles wird nach und nach von Auslandsmärkten verdrängt. Die Fabrik, wo mein Verwandter arbeitet, wird demnächst geschlossen. Weil der inzwischen japanische Eigentümer die Faxen mit den Handelshemmnissen dicke hat.
Der Krieg gegen das Augenmaß und die Vernunft im Handel, der von Berlin ausging, wird in die Welthauptstadt der Bürokratie zurückgetragen werden. Im Außenhandel droht eine protektionistische Eiszeit. Für Deutschland ist das nicht so gut. Ich denke der DIHT muß sehr dicke Bretter bohren, um aus der verkorksten Lage wieder rauszukommen…
Wenn die Türkei in der EU wäre, müsste sie nicht ihre eigene „Zertifizierungsbürokratie“ aufbauen …
Inhaltlich werden sich die türkischen EMV-Normen und Grenzwerte vermutlich kaum von denen der EU unterscheiden
„Warum überläßt man solche die individuelle Gesundheit betreffenden Entscheidungen nicht den Kunden?“
Ganz einfach, weil der Kunde irgendwann keine Wahl mehr hat. Das funktioniert nämlich nur dort, wo der Markt ein ausgewogenes Angebot bereit stellt. Die Amerikaner würden aber genau wie beim Glukosesirup der den Zucker weitgehend vom Markt verdrängt hat, einen Weg finden ihr eigenes Zeug in grossen, billigen Mengen auf die Märkte zu werfen und die hiesige Wirtschaft zu ruinieren. Spätestens dann ist Schluss mit fröhlicher Auswahl. In Deutschland kennt man das unter dem Begriff Alternativlos!
Marktwirtschaft ist in Deutschland unbeliebt, wie man hier wieder sieht.