Das „Völkische“ hatte viele Gesichter
Ab 1890 wuchs die Jugendbewegung in Deutschland exponential. Und nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Mittel- und Osteuropa, selbst in der Türkei. Diese Bewegung war in Deutschland und Österreich sehr vielgestaltig. Germanenkult, Tierschutz, Antisemitismus, Denkmalschutz, Schwundgeld, Ästhetizismus, Schwulität, Naturschutz, Weltverbesserei, Gesundheitsfexerei, Romantizismus, Ernährungsvorschriften, Reformhäuser, Okkultismus, Antikapitalismus, Nacktkultur und Ausdruckstanz verschränkten sich immer wieder neu. Ab etwa 1887 tauchte in diesem Umfeld das Label „völkisch“ auf.
Die zugrunde liegende Denkweise gab es schon seit der französischen Besetzung Deutschlands: Friedrich Ludwig Jahn polterte 1810 in seinem Buch „Deutsches Volkstum“:
„Die Kleinstaaterei verhindert Deutschlands Größe auf dem Erdenrund. Wer seinen Kindern die französische Sprache lernen läßt, ist ein Irrender, wer darin beharrt, sündigt gegen den heiligen Geist. Wenn er aber seinen Töchtern französisch lehren läßt, ist das ebenso gut, als wenn er ihnen Hurerei lehren läßt. Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück“.
Diese Stoßrichtung konservierte sich lange Zeit. Es war nicht nur Germanenschwärmer und Deutschtümler, auch die schwulen Ästhetizisten um Stefan George schwammen auf der völkischen Welle:
Den einzigen, der hilft, den mann gebiert…
Der sprengt die ketten, fegt auf trümmerstätten
Die ordnung, geisselt die verlaufnen heim
Ins ewige recht, wo grosses wiederum gross ist,
Herr wiederum herr, zucht wiederum zucht. Er heftet
Das wahre sinnbild auf das völkische banner.
Er führt durch sturm und grausige signale
Des frührots seiner treuen schar zum werk
Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.“
Der von Malern und Architekten vorangetriebene Heimatschutz speiste sich aus der gleichen neudeutschen Wandervogelmystik, wie der ästhetische Führungsanspruch der Künstler und Architekten. In der Programmatik des Werdandibundes hieß es beispielsweise 1908:
„Nur dann vermag die todkranke deutsche Kunst zu gesunden, wenn die harte Germanenfaust aus völkischen Empfindungswuchten mythisch-mächtige Walkürenwolken gestaltet und aus düsterem deutschen Gestein Rolandstatuen edlerer Begrifflichkeiten ahnungsvoll und sagenfreudig erzeugt.“
Keineswegs herrschte diese Denkweise nur in Deutschland: Zu einem Eklat kam es bei einer Versteigerung moderner Kunstwerke am 2. März 1914 in Paris: Bonnard erzielte 720 Fr., van Gogh 4.200, Fr. Matisse 5.000 Fr. und Gauguin 4.000 Fr. Picassos „Famille de Santimbanques“ erzielte 11.500 Fr., die durch den Münchner Kunsthändler Thannhäuser geboten wurden. Rufe wie „Das ist das Ende der Kunst!“ und „Das ist Anarchie, der Krieg ist nicht mehr weit!“ hallten durch das Versteigerungsgemäuer. Der Kritiker Maurice Delcourt giftete in „Paris-Midi“:
„Die grotesken mißgestalteten Werke einiger unerwünschter Ausländer haben nun fette Preise erzielt, und wie wir seit 14 Tagen mit gutem Grund immer wieder voraussagten, waren es Deutsche, die diese Preise gezahlt, bzw. bis zu diesen Preisen hinaufgesteigert haben. Ihr Plan ist nun klar. Naive junge Maler werden ihnen unweigerlich in die Falle gehen…So gehen nach und nach Maß und Ordnung unserer völkischen Kunst verloren – zur großen Freude des Herrn Thannhäuser und seiner Landsleute…“
Am 24. Februar 1920 fand die erste größere öffentliche nationalsozialistische Versammlung im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses statt. Der Arzt Dr. med. Johannes Dingfelder hielt unter dem Titel „Was uns not tut!“ eine Rede über den bevorstehenden Produktionsstreik der Natur; die natürlichen Grundlagen seien gefährdet, die Güter würden sich vermindern, den Rest fräße das Ungeziefer. Das Ende der Menschheit wäre nahe ohne die völkische Neubesinnung. Untergangsszenarien, Malthusianismus, der Glaube an Klimakatastrophen und an die Erschöpfung der Rohstoffreserven waren schon damals die Glaubenssätze der Vorläufer des „Club of Rome“. „Volk ohne Raum“ ist nur eine erste Ableitung dieses in der grünen Seele tief verwurzelten Irrglaubens. „Völkisch“ waren fast alle Avantgardisten der grünen Bewegung, die mit fliegenden Fahnen in den Vollkorn-Nationalsozialismus des Vegetariers und Tierschützers Hitler marschierten.
Hitler profitierte zweifellos von der völkischen Welle. Was eine Abgrenzung nicht ausschloß. Bereits in „Mein Kampf“ hatte sich Hitler über die „völkischen Johannesse“ lustig gemacht, die „mit Blechschwertern in den Lüften herumfuchtelten, ein präpariertes Bärenfell mit Stierhörnern auf dem Haupte“. Er habe seine Partei Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei genannt, um diese Schlafwandler von der Beantragung einer Mitgliedschaft abzuschrecken. Auf der Nürnberger Kulturrede 1934 tat Hitler die Germanenschwärmer der ersten Generation als „Rückwärtse“ ab. Das SS-Organ „Das Schwarze Chor“ bezeichnete den völkischen Illustrator Fidus als einen „Verkitscher der nordischen Kunst“, die jugendstilige Schwulstik des Spätkaiserreichs war in den Dreißigern nicht mehr gefragt.
Das Label „völkisch“ ist janusköpfig und kann schnell zum Bumerang werden. Auch für Sozialdemokraten. Der sozialdemokratische „Vorwärts“ bestellte beispielsweise beim Germanenmaler und späteren NSDAP-Mitglied Fidus im Jahr 1905 ein Werbebanner für den Ersten Mai mit der Abbildung völkischer Hippies.
Klopstock schrieb:
„Was tat dir, Tor, dein Vaterland?“
Heute könnte man schreiben:
„Was tat dir, Tor, dein Volk?“
„Völkisch“ ist übrigens nur die deutsche Übersetzung des altgriechischen „ethnikos“, engl. ethnic, frz. ethnique. Das Wort ist jung, die Sache alt.