1900 und wir
Auf den ersten Blick ist in Deutschland alles anders und fortschrittlicher als vor hundert Jahren. Aus dem deutschen Kaiserreich ist eine Republik geworden. Frauen sind per Gesetz und faktisch gleichberechtigt. Die Sozialdemokratie ist aus einer verfolgten Oppositionsgruppe zur ewigen Regierungspartei geworden. Die Medien sind nicht mehr scharf deutsch-national, sondern stramm Multikulti. Und Deutschland verfügt trotz zweier verlorener Weltkriege über größeren Wohlstand als 1900. Das politische System ist grundlegend verändert worden. Aber sind wir deshalb andere Menschen?
Nicht mehr Friedrich Nietzsche gibt den zivilisationskritischen Ton an, sondern Göttinger, Freiburger und Tübinger Medien-, Kultur- und Politikwissenschaftler. Aber gibt es deshalb einen kulturellen Wandel? Die Skepsis der deutschen Eliten gegenüber der Technik, der überbordende Gesundheits- und Körperkult, die ablehnende Haltung zur Marktwirtschaft, die letztlich die natürliche Wirtschaftsordnung ist, und die außenpolitische Horizontlosigkeit haben in Deutschland alle Stürme des sehr bewegten Jahrhunderts überdauert. Verbergen sich unter dem demokratischen Firnis der Bundesrepublik in den Tragbalken des medialen und parlamentarischen Systems verborgene Schädlinge aus der Kaiserzeit, die gegen alle Mittel resistent sind? Haben die medialen und politischen Eliten eine geistige Verankerung in der deutschen Geschichte, oder gehen sie mit historischen Erfahrungen um, wie der Islamische Staat mit den vorislamischen Tempeln in Palmyra?
Fast, aber nicht ganz. Die Ausstellung „Einfach.Natürlich.Leben“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte gab im vergangenen Sommer und Herbst flüchtige, um nicht zu sagen sehr oberflächliche und tendenziöse Einblicke in Themen der Lebensreform, die heute fast Mainstream sind. Das Leben des Hipsters als Déjà-vu quasi: „Wohnen, Arbeiten, Essen, Kleiden, Heilen, Bewegen, Erziehen, Wirtschaften und Zusammenleben – im Sinne von Natürlichkeit, Gesundheit, Schönheit und Einfachheit“, so bewarb die Kuratorin der Ausstellung Dr. Christiane Barz ihre Schau. Sie begriff die lebensreformerischen Ansätze als Reaktion auf die rasante Industrialisierung und Urbanisierung am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
Tatsächlich gab es im Spätkaiserreich eine breite technikfeindliche Bewegung, die einen scharfen Gegensatz zwischen Wirtschaft und Kultur gepredigt und genüßlich kultiviert hat. Ludwig Klages schrieb 1913 ein Grußwort an den Freideutschen Jugendtag, in dem alle Ressentiments bereits ausformuliert waren: „Wir täuschen uns nicht, als wir den ´Fortschritt´ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ´Nutzen´, ´wirtschaftlicher Entwicklung´, ´Kultur´ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrig läßt gleich dem ´Schlachtvieh´ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt ´rationeller´Ausbeutung. In diesem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.“
Die Urbanisierung förderte natürlich die Sehnsucht nach Natur und Natürlichkeit. Wenn jedoch nur Zivilisationsmüdigkeit geherrscht hätte, wäre die Lebensreform nicht ständig ins Völkische, Nationalsozialistische, Bolschewistische und Esoterische abgeglitten. Man hätte sich mit Botanik, Tierschutz, Landschaftsgenuß und Gartenbau begnügt. Vor 1890 gab es noch diese unschuldige Natursehnsucht, nachzulesen zum Beispiel im Fortsetzungsroman „Leberecht Hühnchen“ von Heinrich Seidel. Doch dann kamen die Welterklärer und Ideologen. Die Verbindung der Natur-, Körper- und Siedlungskonzepte mit Germanenkult und Übermenschentum verbreitete sich nach 1890 rasant und wurde in der Ausstellung weitgehend ausgeblendet. Der Ausstellungsbesucher blickte auf die Zeit um 1900 mit dem Interpretationsrahmen des 21. Jahrhunderts. Fidus beispielweise wurde als Illustrator und Gebrauchsgrafiker der Lebensreform gefeiert, der mit seiner emphatischen Bildsprache eine übergreifende ästhetische Identifikation geliefert habe. Daß auf vielen seiner Bilder das Hakenkreuz und die Todesrune Dauergäste waren, daß Frauen nur zum Kränzeflechten für die Helden dargestellt werden oder als Däumelinchen, daß Fidus bereits seit 1928 Mitglied der NSDAP war, daß er vor allem völkische Themen bebilderte, und den Führer malte, alles das bleibt außen vor.
Die Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg verband „Genossenschaftssiedlung, ökologischen Landbau, Vegetarismus, Reformpädagogik, Brotreform sowie Freiland- und Freigeldwirtschaft. Leider auch aggressiven Antisemitismus, was in der Potsdamer Ausstellung zu kurz kam. Eden war ein regelrechter Sammelpunkt von radikalen Judenhassern. Einer von Ihnen, der Schöpfer des Vollkorn-Simons-Brotes, Gustav Simons war die Scharnierperson zur Lebensreformbewegung und gehörte dem rassistischen „Orden des Neuen Tempels“ des Lanz von Liebenfels an. Auf der Burg des Ordens wehte schon seit 1907 die Hakenkreuzfahne. Es war ein Orden für blonde und blauäugige Männer, die sich zur Reinzucht verpflichten mussten.
Gustav Nagel wird als schrulliger Wanderprediger verharmlost. Die von seinen wechselnden Frauen geborenen Patchwork-Kinder starben überwiegend, weil er sie gleich nach der Geburt in den Arendsee tunkte. Auch im Winter. Da schwang schon früh die Selektion in lebenswertes und lebensunwertes Leben mit. Unter der Maskierung von Kneipp. Die drei überlebenden Kinder wurden dem Vater vom Amt entzogen. Auch das wird dem Besucher der Ausstellung verheimlicht.
Da sind wir eigentlich schon beim Nacktbaden „In zahlreichen Publikationen engagierte sich Richard Ungewitter für die Verbreitung der ›Nacktkultur‹, die er als Allheilmittel gegen den körperlichen und seelischen ›Niedergang‹ des modernen Großstadtmenschen propagierte. Gleichzeitig trat er für eine bewußte ›Rassenzüchtung‹ ein, da durch die christliche und sozialistische Verbrüderung eine gefährliche Mischung der Rassen entstanden sei. Die Skandinavier stellte er als einzige noch ›reine Rasse‹ als Vorbild dar, die außerdem auch das ›Nacktbaden‹ kultivierten. Schon die Mischehen zwischen dem ›nordischen‹ und dem ›alpinen‹ Menschen hätten zum körperlichen ›Niedergang‹ geführt. »Aus Gründen der gesunden Zuchtwahl fordere ich deshalb die Nacktkultur, damit Starke und Gesunde sich paaren, Schwächlinge aber nicht zur Vermehrung kommen«, – so sei es laut Ungewitter schließlich schon bei den alten Germanen gewesen, die »neben ihrem Waffen- und Jagdhandwerk gleich den Hellenen das Nackttanzen zwischen Schwertern und Spießen« geübt hätten“, so ein Zitat aus einer Veröffentlichung des Deutschen Historischen Museums. Diese Weisheit ist in Potsdam nicht angekommen. Die Ausstellung suggeriert dagegen die Dominanz „naturheilkundlich inspirierter FKK-Aktivitäten mit Ideen der Arbeiterbildung, Sexualaufklärung, Ernährung, Gymnastik und der neuen Körperästhetik in der Freiland-Aktfotografie.“ Sicher, die Lebensreform drang frühzeitig in die Arbeiterbewegung ein, das Ergebnis war aber oft frustrierend. Der völkische Fidus malte zum 1. Mai 1905 für den sozialdemokratischen „Vorwärts“ ein Plakat mit halbnackten „Hippies“. Die Lebensreform drang in die Arbeiterbewegung ein, und nicht umgekehrt. Wenn es andersherum funktioniert hätte, wäre uns das nationalsozialistische Episode der deutschen Geschichte erspart geblieben.
Diese Liste der Weglassungen der Ausstellungskuratorin kann man gehörig weiterführen. Das Bionadebürgertum, das die Ausstellung besucht, soll in seinen Anschauungen nicht verunsichert, sondern bestätigt werden. Welcher politisch korrekte Veganer möchte gerne damit konfrontiert werden, daß seine Vorläufer überwiegend aus der völkischen Ecke kamen? Statt dessen das banale Gefühl: Aha, das was wir schön finden, ist ja alles schon mal dagewesen.
Die Lebensreform ist im Juste Milieu wieder angekommen. Spätestens seit den Protesten gegen das Kernkraftwerk Wyhl im Jahr 1975 und gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens 1979 verzeichnen wir wieder eine romantische industriefeindliche Strömung wie damals. Die Bürgerinitiativen in Wyhl übertrieben maßlos. Es wurde vor der Entwicklung des Rheintals zu einem „zweiten Ruhrgebiet“ gewarnt. Mittlerweile sind die Gentechnik, die Kernenergie, die Gasförderung, die Kohleförderung und die Biotechnologie in den Augen der Medien und Politiker ausgemachte Horrorindustrien, in denen Frankenstein künstliche Monster erzeugen und mit denen Dr. Evil die Welt vernichten würde, wenn die Kulturbürger nicht achtgeben und den Industriellen in den Arm fallen.
Mit religiöser Naturverehrung verbunden begann um 1900 der Götzendienst im Tempel des eigenen Körpers. Vor Friedrich Nietzsche hatten die Bürger noch an das Jenseits gedacht, und das oft karge Leben war mit der Hoffnung auf das Paradies erträglich. Mit dem Abschied von Gott und dem dünnen Ende des Lebensfadens im Diesseits mußte ein Leben auf der Überholspur begonnen werden, um bis zur Ankunft auf dem Friedhof möglichst viel mitzunehmen, was sich bot. Otger Gräff, ein völkischer Aktivist formulierte das aus: „So ist deutscher Glaube ein lebendiger Diesseitsglaube, `deutscher Idealismus‘, der die schöne reiche Erde, insonderheit die liebe Heimat nicht als ein Jammertal ansieht und auf ein angeblich besseres Jenseits hofft, über das wir nichts wissen können, der vielmehr vor allem hier auf Erden das Gottesreich aufrichten will, das Höhere Reich der Deutschen.“ Die Lebensverlängerung wurde ein beherrschendes Thema. Um 1900 schossen Reformhäuser wie Pilze aus dem Boden. Der Glaube mit gesunder Ernährung aus nichtindustrieller Erzeugung bereits im Diesseits eine paradiesische Gesundheit und die Lebenslänge Methusalems zu erkaufen, verbreitete sich wie eine hochansteckende Infektion. Was dem Magen und den Schläuchen des Darms nicht zugetraut wurde, mußten vor 100 Jahren das Turnen und die Quälerei in Kraftkunstinstituten richten. Das spätkaiserzeitliche Bodybuilden hat genauso wie das Nacktbaden eine epochenübergreifende narzistische Komponente. Die Kehrseite des Gesundheits- und Schönheitskults war schon in der Kaiserzeit die Propaganda für die Euthanasie und das Aufkommen des Begriffs vom lebensunwerten Leben. Und das Entstehen von durchästhetisierten Schönheitsstaaten wie Fiume, Italien und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Was im Dritten Reich ins Werk gesetzt wurde, wurde von den Lebensreformern 30 Jahre vorher erdacht.
Und was ist heute eigentlich anders? Nach einigen Jahrzehnten nachkriegsbedingter ernährungstechnischer Rationalität hat inzwischen jeder billige Supermarkt eine Bio-Ecke. „Essen ist wieder ein soziales Statement geworden. Mit großem Potenzial für Distinktionsgewinn. Bio-Lifestyle, regionale Küche, vegetarisch-vegan als letzter Schrei der political correctness – das kommt uns inzwischen alles wahnsinnig hip und trendy vor“ , schrieb Tilman Krause am 20.08.2015 in der „WELT“, nicht ohne darauf hinzuweisen, was für ein alter Hut das „anständige“ Essen, wie die Schriftstellerin Karen Duve das hochmoralisch nennt, im Grunde ist. Selbst ansonsten kompetente Ärzte verschreiben homöopatischen Kokolores. In Fitnessstudios und Schönheitsfarmen wird um den perfekten Body gerungen, heute freilich mit mehr Geräteaufwand und muskelaufbauunterstützenden Drinks, also im Grunde „künstlich“.
Die heutigen Schlagwörter „eine Welt“ und „fair teilen“ verklammern das eigene Individualverhalten mit der Weltrettung. Das war auch vor 100 Jahren schon so. Die Veränderungen im kleinen Territorium des eigenen Körpers wurden durch eine horizontlose Weltsicht flankiert. Ab 1884 entwickelte Deutschland späten kolonialen Eifer. In Afrika, Asien und Ozeanien wurden noch ein paar Reststückchen von der großen Torte der Dritten Welt ergattert. Wirklich nicht viel, wenn man mit Frankreich, Großbritannien oder Portugal vergleicht. Der wirtschaftliche Nutzen für das Reich war Null, und das wußten auch alle. Der ideelle Schaden war dafür umso größer. Es entstand in den Eliteschädeln das Bild einer Weltmacht und es entstand die Wahnvorstellung einer deutschen Kulturmission in der Welt. In der Tagebuchaufzeichnung von Leutnant Leopold von Sutterheim (*1894) vom 04. August 1914 bei Kriegsausbruch ist diese Obsession auf den Punkt gebracht: „1864, 1866, 1870 waren es nur praktisch erreichbare Ziele, diesmal handelt es sich um das Ideal der höchsten Kultur der Welt.“ Alfons Paquet skizzierte diese Idealvorstellung einer deutschen Weltmission so: „Unsere Weltflucht muß nach vorwärts in die Einsamkeiten, in die Versuchungen und in die Größe des Weltbürgertums. Es wäre Zeit für einen neuen Orden von wandernden Schülern…, eine Vergeistigung der Erde durch das deutsche Wesen.“
Am deutschen Wesen soll auch heute wieder alle Welt genesen. Besonders in der Energiepolitik, aber auch sonst, ist Deutschland wieder der Elefant im internationalen Porzellanladen. Gegen fast jedes Nachbarland hat Deutschland in den letzten zehn Jahren gepöbelt: Ob es tschechische oder französische Kernkraftwerke sind, polnischer Kohlestrom, das Schweizer Steuergeheimnis, niederländische, dänische, italienische, ungarische oder österreichische Regierungen, die den deutschen Grünen nicht passen, grundsätzlich wurde geschulmeistert. Kronprinz Wilhelm von Preußen schrieb bereits 1922 darüber, als wäre er unser Zeitgenosse: „Das offenbar herausfordernde, laute Auftreten, das alle Welt bevormundende, fortwährend belehren wollende Gebaren mancher Deutschen im Auslande fiel den anderen Nationen auf die Nerven. Es richtete im Verein mit Torheiten und Geschmacklosigkeiten, die sich auf der gleichen Linie bewegten und die im Lande von führenden Persönlichkeiten oder von leitenden Stellen ausgingen und draußen hellhörig empfangen wurden, großen Schaden an.“
Die außenpolitische Komponente der Lebensreform wurde in der Potsdamer Ausstellung als störendes Detail ganz weggelassen, genauso wie der durchweg grassierende Rassismus und die sowohl in linken wie in völkischen Kreisen aggressiv propagierte Euthanasie. Als hätte es den „Kolonialwarenladen“ und die Propaganda für die Legalisierung der Abtreibung nie gegeben. Eine Ausstellung in Potsdam ist zu Ende gegangen, die man ohne den Veranstaltern zu nahe zu treten, als „Geschichte to go“ bezeichnen kann. Sehr erklärungsbedürftige Exponate, die dem Besucher wirklich einseitig und mangelhaft erläutert wurden.
Wir schauen mit einem gespaltenen Sentiment auf die Zeit um 1900. Einerseits wird die damalige Jahrhundertwende als gute alte Zeit oder konträr als Aufbruch in die Moderne verklärt, andererseits wird sie als junkerliche Hohenzollernmonarchie abgewertet und mystifiziert. Diese Zeit war weder das eine noch das andere, weder kultureller Himmel noch politische Hölle. Sie war die Epoche einer fatalen traditionsverachtenden Kulturrevolution, die 1945 abrupt unterbrochen wurde und langsam wieder auflebt. Die vorletzte Jahrhundertwende ist ein Spiegel, in den es für die selbstverliebten Eliten der Bundesrepublik lohnen würde zu blicken, um sich selbst zu erkennen. Das politische System ist seit der Kaiserzeit nicht verbessert worden, sondern nur verändert. Und ein großer Teil der deutschen Tonangeber hat die Lektionen zweier Weltkriege inzwischen verdrängt und vergessen.
Vom Autor ist zum Thema das eBook „Der Bausatz des Dritten Reiches“ erschienen.