Vom Befreier zum lästigen Parasiten
Unsere von Phantasten und Wunschdenkern beherrschten Medien malen alles schön, was mit Kurdistan zu tun hat. Ob es die Kurdenpartei HDP in der Türkei ist, ob es die in Syrien lebenden Kurden sind oder die aus dem Irak. Immer werden die Kurden zu heldenhaften und strahlenden Kämpfern für das Schöne und Gute verklärt. Um die finsteren Gegner der Kurden wie den Türkenpräsidenten Erdogan, den syrischen Präsidenten Assad und den Islamischen Staat noch verruchter darzustellen, als diese es tatsächlich sind, braucht es als Gegenpol erfundene strahlende Lichtgestalten.
Unsere Presse hat den Faden zur Realität verloren, auch und gerade bei der Berichterstattung über den Nahen Osten. Man glaubt in den Kurden Brüder im Geiste zu erkennen, seitdem Kurdenführer Abdullah Öcalan ein hollywoodreifes Bekenntnis zu Multikulti abgegeben hat. Daß das auch taktische und agitatorische Gründe haben könnte, wird von vornherein ausgeschlossen. Werfen wir einen Blick auf das Autonomiegebiet der Kurden im Irak. Es ist ein weißer Fleck bei der Berichterstattung der zwangsfinanzierten Staatssender ARD und ZDF. Das arabische Nachrichtenportal Al Jazeera ist nahe dran und berichtet aktuell.
Das autonome Gebiet steht seit der Invasion des Irak durch amerikanische Truppen unter dem Kuratel der eigenen Befreiungskämpfer. Eine Situation wie man sie im Gefolge des antikolonialen Kampfs fast weltweit beobachten konnte. Derzeit gibt es gewalttätige Proteste in der irakisch-kurdischen Hauptstadt Sulaimanya, weil die Löhne der im öffentlichen Sektor Beschäftigten nicht pünktlich gezahlt werden. Das hat mit der „Präsidentenkrise“ zu tun, denn der Kurdenführer Massoud Barzani weigert sich zurückzutreten, nachdem seine Amtszeit am 19. August abgelaufen war. Das übliche Demokratieverständnis oder besser –defizit im Nahen Osten.
Mehr als ein Jahrzehnt nach der US-geführten Invasion im Irak, die mit dem Sturz von Saddam Hussein und seinem Baath-Regime endete, ertragen die nicht eng mit der Regierung vernetzte Kurden in der halbautonomen Region tägliche Nöte. „Die Menschen sind müde“, sagt der Grafiker Darya Ibrahim dem Nachrichtensender Al Jazeera: „Ich will nicht mehr für den öffentlichen Sektor arbeiten, dadurch werde ich ein freier Mann. Ich kann dann sagen, was ich will.“ Überall dasselbe, denkt unser deutscher Leser. Wer wird da nicht sofort an die Meinungsdiktatur in Germanien erinnert?
Im Umfeld der US-geführten Invasion im Irak im Jahr 2003, waren Kurden begeisterte Anhänger dieser „Operation Iraqi Freedom“, der Sturz von Saddam Hussein und seiner Baath-Partei galt als das Allheilmittel für alle ihre Probleme. Mehr als ein Jahrzehnt später wird den Kurden von der Regierung in Bagdad zwar nicht mehr nach dem Leben getrachtet, es herrschen jedoch Korruption, Vetternwirtschaft, Elektrizitätsmangel und eine lahmende Wirtschaft, die einseitig auf Öleinnahmen beruht.
Infolge dessen resumiert der irakisch-kurdische Romancier Rauf Behgard , daß viele Kurden heute in Frage stellen würden, was sie einmal geglaubt hätten und sie würden zu Tausenden versuchen, die Region in Richtung Europa oder nach den Vereinigten Staaten zu verlassen. Die Ernüchterung sei nicht über Nacht gekommen, sondern sie hat sich langsam in das Herz der Kurden eingeschlichen. „Vergleichen Sie die Stimmung jetzt mit der Stimmung 2003, als die Peshmerga von den Bergen herabgekommen sind“, sagte er. „Sie wurden als Engel vom Himmel, die gekommen waren, um Kurdistan von der Baath-Partei zu befreien gefeiert. Aber wir haben langsam entdeckt, dass sie nicht die Lösung unserer Probleme, sondern das Problem selbst sind. Wir gaben ihnen eine Chance, denn wir waren zu der Überzeugung gelangt, daß Saddam Hussein das einzige Hindernis für unsere gemeinsamen Bestrebungen war. Aber die Zeit der Hoffnung verging schnell.“
Die stagnierende Wirtschaft und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Leistung der Kurdenregierung sind nicht die einzigen Faktoren, die zu der gegenwärtigen Malaise führten. Bei den Wahlen 2013 für die kurdische Regionalregierung, erhielten strenge Moslems, die dem islamischen Staat nahestehen 16,5 Prozent der Stimmen. 12,8 Prozent waren es 2014 bei den Provinzwahlen.
Es ist eine Herausforderung für die kurdischen Behörden sicherzustellen, dass der Islamische Staat in der Region nicht von der Unzufriedenheit profitiert. Während Zehntausende von Peshmerga-Kämpfer an der Front im Nordirak stehen, hat der Staat kurdische Religionsführer mobilisiert, um eine andere Art von Krieg zu führen: einen theologischen.
Mullah Abbas Khadr Faraj, staatlich lizensierter Prediger an der Awal Bakrajo Moschee in Sulaimanya sagte Al Jazeera: „Wir haben über 400 junge Männer im Kampf gegen den IS verloren, aber das ist zahlenmäßig nichts im Vergleich zu den 6.000 Menschen aus Europa, die für den islamischen Staat kämpfen. Was ist Europas Entschuldigung dafür?“
In den Städten Sulaimanya und Erbil verurteilen Mullahs routinemäßig in den Freitagspredigten den Islamischen Staat als eine Verirrung des Islam. „Wir, die Mullahs der kurdischen Region, veranstalten regelmäßig Konferenzen und Workshops zum Thema Islam um die Kinder zu erziehen, die junge Generation über das Leben des Propheten Muhammad aufzuklären. Aber es ist nicht nur die Jugend von Kurdistan, es ist vor allem die Jugend Europas, der das Wissen über die Religion fehlt“, beklagte Faraj. Der kurdische Theologe rügt ganz klar, daß in Europa eine regierungsamtliche Indoktrination zum friedlichen Islam fehlt.
Faraj glaubt, junge Männer zwischen 18 und 25 Jahren seien am anfälligsten für IS-Propaganda. „Es ist eine gefährdete Altersgruppe. Und ich habe einige von ihnen getroffen, die der Gehirnwäsche unterzogen worden sind,“ sagte er. „Egal, was Sie ihnen sagen, sie glauben nur das, was ihnen indoktriniert wurde. Sie glauben, dass wir die Kuffar sind und sie allein sind es, die auf dem richtigen Weg sind.“ (Anm. Kuffar sind Ungläubige, wörtlich übersetzt: Kaffern)
Der städtische Basar berichtet Al Jazeera, sei immer ein guter Indikator für die kurdische Psyche. Er ist mit Kriegsutensilien vollgestopft: Peshmerga-Uniformen für Kinder, Militärmützen, Taschen und andere Accessoires mit kurdischen Fahnen geschmückt. Noch triumphiert der Nationalismus der Kurden über religiöse Versuchungen. Der Prediger Faraj: „Die meisten Leute hier setzen auf ihre kurdische Identität, bevor sie ihre religiöse Identität entdecken. Ich für meinen Teil bin stolz auf meine beiden Identitäten.“
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