Die Welt retten für 89 Cent
„Die Zeit läuft mir davon, zu warten wäre eine Schande für die ganze Weltbevölkerung. Ich muss jetzt los, sonst gibt’s die große Katastrophe, merkst du nicht das wir in Not sind. Ich muss jetzt echt die Welt retten. Danach flieg ich zu dir.“ Wir wissen nicht genau wie ernst das der Sänger Tim Bendzko meinte. Vielleicht klingt in seinem Liedchen Ironie an? Aber viele Leute waren und sind echt fest davon überzeugt, die Welt retten zu können.
Mit lächerlichen Kinkerlitzchen, obskurem Abrakadabra und grünem Hokuspokus zumeist. Die einen kaufen bei ihrem Versorger reinen unvermixten Ökostrom, andere trinken einen Kasten Bier, damit am Amazonas ein Baum gepflanzt wird. Ganz Eifrige fahren jede Woche 20 Doppelkilometer zum Ökobauern, um zwei Packungen dioxinfreie Eier zu ergattern. Im Oktober während der Mauser ist das fast unmöglich, aber welcher Käufer kennt die kraftzehrende Umstellung auf das winterliche Federkleid der Hinkel? Andere schmeißen ihre Meerrettich- und Ackerwindenwurzeln brav auf den Kompost, statt in den zu verbrennenden Restmüll, damit sich diese Landplagen im Garten nachhaltig vermehren.
Ganz skurril geht es im Supermarkt zu. Zwischen Handel und Herstellern fliegen bei jeder Preisverhandlung die Fetzen wegen Pfennigen, also halben Cents. Aber dem Kunden wird immer öfter vorgegaukelt, daß fair gehandelt wird. Gestern habe ich im Landhandel für 89 Cent ein Gebäck erstanden, welches gleich zwei Siegel auf der Verpackung in trauter Harmonie vereint. Der verbackene Kakao ist UTZ-certified und der Keks kommt aus ressourcenschonendem Anbau (Pro Planet-Siegel mit der magischen Geheimnummer 4011 001).
UTZ ist ein Gütesiegel für nachhaltigen Anbau von Agrarprodukten. Das Programm wird seit 2002 von einer Stiftung mit Sitz in Amsterdam betrieben, einer alten Handelsmetropole, in der nicht nur Liebe und Hanf käuflich sind. Voraussetzung für die Zertifizierung ist die Einhaltung eines Verhaltenskodex durch die Landwirte, der soziale Kriterien festlegt und Anforderungen an die Umweltverträglichkeit und effiziente Bewirtschaftung stellt. Hinter der Stiftung steht übrigens der niederländische Kaffeeröster Ahold Coffee Company. UTZ Certified finanziert sich über Spenden und durch Verwaltungsgebühren, die bei den Käufern von zertifizierten Produkten erhoben werden. So beträgt die Gebühr je nach Potenz des Kaffeeeinkäufers (wer erinnert sich nicht an den netten Tschibo-Einkäufer mit dem Don-Camillo-Hut aus der Werbung?) jährlich zwischen 250 € und 4000 € zuzüglich 10 € pro Tonne gekauften Kakaos, mit Rabatten für große Mengen. Um zertifiziert zu werden, müssen Landwirte nicht von Anfang an alle Kriterien des jeweiligen Verhaltenskodex erfüllen. So müssen zertifizierte Betriebe z. B. erst ab dem dritten Jahr der Zertifizierung sicherstellen, dass ein in Erster Hilfe ausgebildeter Mitarbeiter dort anwesend ist. Auch müssen Produkte mit UTZ-Gütesiegel nicht zu 100 % zertifizierte Rohstoffe enthalten, im Jahr 2013 lag der erforderliche Anteil bei 60 %.
Durch das UTZ-Siegel wird der Kakao nicht billiger, weil ja Verwaltungsgebühren anfallen. Die müssen irgendwie im Endproduktpreis versteckelt sein.
Weil REWE ebenfalls Green-Washing seiner Produkte anstrebt, hat es ein eigenes Label: PRO PLANET. „Bei der REWE Group geht es schon längst nicht mehr nur um die Qualität der Produkte – ökologische und soziale Nachhaltigkeit spielen mittlerweile eine ebenso bedeutende Rolle. Und damit das alles beim Einkauf ganz leicht zu finden ist, bietet das blauweiße PRO PLANET-Label eine zuverlässige Orientierung.“ Weiter heißt es: „Die Vergabe des PRO PLANET-Labels erfolgt im Rahmen eines komplexen Prozesses, der durch einen unabhängigen Beirat begleitet wird. Bereits während der Entwicklung dieses Prozesses hat die REWE Group verschiedene externe Experten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eingebunden.“
Auch durch das PRO PLANET-Abzeichen werden die erworbenen Kekse nicht billiger, weil ja wiederum unabhängige Fachleute bemüht werden müssen, die erfahrungsgemäß nicht nur von Luft und Liebe leben. Wie ein hochsubventionierter NGO-Mitarbeiter unabhängig bleiben soll, ist übrigens eines der noch unaufgelösten Mirakel der jüngeren Erdgeschichte.
Es gibt zwei Wege die Zertifizierungskosten zu amortisieren. Erstens: Das Produkt verteuern. Das ist offensichtlich nicht geschehen, weil die unzertifizierte Ware dasselbe kostet. Zweitens: Die Kosten werden dem Hersteller vom Preis abgezogen. Das ist der übliche Weg. Mit den ganzen Firlefanz-Siegeln wird genau das Gegenteil erreicht, was sie eigentlich bezwecken: Unfairer Handel mit Preisabzügen für den Erzeuger. In der Regel landet das Problem auf dem Tisch des Kakaobauern, denn er ist das schwächste Glied der Kette.
Wer glaubt, daß er beim Kauf eines Gebäcks für 89 Cent die Welt rettet, dem ist nicht zu helfen. Derjenige wird im wahrsten Sinne durch den Kakao gezogen. Der vernünftige, wache und aufgeklärte Kunde, der die armen Bauern in Übersee gut leiden kann, wird alle Produkte zielgerichtet boykottieren, die irgendein Siegel tragen.
Der Sänger Tim Bendzko ist mit Details zur rettenden deutschen Weltmission wortkarg, weil alles fragwürdig und faul ist: „Ne ganz besondere Mission lass mich dich mit Details verschonen. Genug gesagt genug Information. Muss nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu dir.“
Ich finde, Sie könnten zumindest an den bemühten Menschen ein gutes Haar lassen, die versuchen ihr Leben nachhaltiger zu gestalten.
Dass Profit und Weltrettertum miteinander konkurrieren und dass nur Personen mit sehr starken inneren Werten diesen Konflikt zu Gunsten der Wohltätigkeit auflösen, ist ja klar. Und natürlich sind diverse Siegel eher Opium fürs Volk.
Aber bitte scheren Sie nicht aus zynischer Effekthascherei alle engagierten Menschen über einen Kamm. Gutes tun und davon Leben ist immer ein Balanceakt. Ich finde den Menschen, die das versuchen, sollte Respekt gezollt werden. Unabhängig davon, wie erfolgreich sie damit in diesem Moment sind.
(Ich will damit nicht behaupten, die Motivation von Rewe oder anderen von Ihnen benannten Gruppen zu kennen. Ich finde nur die pauschale Unterstellung ungerecht.)
Abgesehen davon, danke ich Ihnen für Ihren kontroversen Artikel. Ein kritischer Spiegel der eigenen Bemühungen, hilft ja auch immer wieder, sich selbst klarer zu sehen. 😉
Und ich finde, man könnte Soldaten, Bohrinselarbeitern und Kernkraftwerksmitarbeitern auch Respekt zollen. Die sind die Prügelten der Nation.
„Ich finde, Sie könnten zumindest an den bemühten Menschen ein gutes Haar lassen, die versuchen ihr Leben nachhaltiger zu gestalten.“
Bitte nicht. Bemühen läuft ins Leere, wenn kein echter Zugewinn (von materiell bis ideell) erkennbar ist. Gut gemeint ist häufig schlecht gemacht. Nur bemühen reicht nicht. Wissen!
Nachhaltig arbeiten wird automatisch derjenige, der bestrebt ist einen Gewinn zu erzielen. Ansonsten rächt sich das mit dem berühmten Schuß in das Knie. Auch die Natur arbeitet gewinnorientiert. Und der Natur ist es völlig egal wer leidet, gewinnt und überlebt. Den meisten Menschen eben nicht. Mutter Gaya ist eine Rabenmutter und die Eroberung der Erde (und auch des Weltalls, dauert nur ein bißchen länger) ist in der Summe für „die Natur“ vorteilhafter als das „natürliche“ Schicksal. Hierbei denke ich aktuell an den kürzlich erschienenen Bericht über einen archäologischen Fund eines weiblichen Skeletts mit dem des noch im „Bauch“ bzw. Geburtskanal befindlichen Säugling bzw. seines Skelettes (aus der (Jung)Steinzeit). Wie viel Qualen mußten beide ertragen bis sie zwangsläufig starben? Und jetzt sage mir noch einer, dass die Natur gnädig, milde, gütig, paradiesisch sei.
Sorry, da legt mein Frühstück eher einen Rückwärtsgang ein.