Erdoğan bleibt uns erhalten

Die deutschen Systemmedien hatten fröhlich wie die Vögelchen tiriliert, als Erdogans fromme Fortschrittspartei AKP die Wahl zum türkischen Parlament verloren hatte. „Den Sieg des Tages hat keine Partei errungen, sondern die Demokratie“, trällerte Reinhard Baumgarten auf „tagesschau.de“. „Die Wahl in der Türkei verändert das Land“, kommentierte Mike Szymanski für den „Tages-Anzeiger“. „Der Einzug der bunten Demokratischen Partei der Völker ist ein großer Schritt nach vorn für die Demokratie der Türkei“, schrieb  Markus Bernath für „Der Standard“. Claudia Roth: „Der Ausgang der Wahlen ist ein Erfolg für den Pluralismus und die Demokratie. Die Wählerinnen und Wähler haben sich gegen eine Alleinregierung der AKP und gegen das von Präsident Erdogan bevorzugte Präsidialsystem entschieden und ihn damit klar abgestraft.“

Das Wahlergebnis war tatsächlich überraschend deutlich. Auf den ersten Blick eine klare Mehrheit für die Opposition.

Partei Stimmen Sitze
Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei AKP 40,9% 258
Republikanische Volkspartei CHP 25,0% 132
Partei der nationalistischen Bewegung MHP 16,3% 80
Volksdemokratische Partei HDP 13,1% 80

Die bisherige Regierungspartei AKP ist eine konservative Kraft, die den Islam zur Richtschnur der Politik machen möchte. Anfangs faßte sie den EU-Beitritt ins Auge, orientiert sich in den letzten Jahren jedoch mehr nach Asien. Die Islamisierung hatte in der Türkei natürlich auch einen positiven Aspekt, nämlich die Liberalisierung der türkischen Wirtschaft, die damit verbundene erhebliche Steigerung des Wohlstands und die Zurückdrängung des verkrusteten sozialistischen Staatssektors. Die AKP wurde in letzter Zeit jedoch zunehmend eine autoritäre Einmann-Veranstaltung des Türkenpräsidenten Erdoğan. Ein Symbol dafür ist der jüngst fertiggestellte überdimensionierte Präsidentenpalast.

Die Republikanische Volkspartei CHP hängt den Maximen des Staatsgründers Kemal Atatürk an. Der Kemalismus wurde aus Republikanismus, Trennung von Staat und Religion, Populismus, aus permanentem Reformismus, aus dem Kampf gegen ein multiethnisches Staatskonzept und aus Etatismus mit reichlich Planwirtschaft gebacken. Die Zutaten entsprachen den zeitgenössischen Vorstellungen der europäischen Jugendbewegung und wurden in Italien und vielen anderen Staaten fast zeitgleich umgesetzt. In Europa nannte sich dieses Konzept Faschismus. Die CHP wird oft als sozialdemokratisch charakterisiert.  – Unklar warum.

Die Nationalistische Bewegung MHP möchte das Türkentum lupenrein erhalten und eine Großtürkei erkämpfen. Sie ist deswegen gegen den EU-Beitritt der Türkei. Devlet Bahçeli, der Vorsitzender der MHP, hantierte in vergangenen Wahlkämpfen mit einem Strick und versprach seinen Anhängern, die Todesstrafe wieder einzuführen, damit der Kurdenführer Abdullah Öcalan endlich gehängt werden könne.

Die volksdemokratische Partei der Kurden will genau das Gegenteil. Sie ist gegen die Eintürkung der Kurden. Sie kämpft für kurdische Schulen, für kurdische Buchstaben, für kurdische Namen und alles was kurdisch ist, hat aber auch sozialistische Tendenzen.

Zwischen den drei bisherigen Oppositionsparteien wird es wegen der nationalistischen Ausrichtung der kleinasiatischen Politik kein Übereinkommen geben. Zwischen Türken und Kurden ist das Gelände extrem vermint. Erhebungen und Statistiken zur Volkszugehörigkeit sind in der Türkei verboten. Deshalb kann die Zahl der Türken und Kurden nur grob geschätzt werden. Man rechnet mit gut 15 % Kurden.

Die AKP kann wegen der politischen Isolation der Kurden im Parlament nur gestürzt werden, wenn etwa 60 % der Türken Erdogan nicht mehr folgen wollen und die Kurden mit der AKP gemeinsam in der Opposition landen. Aber ist es für Deutschland so verlockend, wenn die jetzige Opposition regiert? Wohl kaum, weil die deutsche Politik inzwischen eine verlängerte Werkbank der türkischen ist. Statt der AKP und ihren DITIB-Moscheevereinen würden die Idealistenvereine, auch Graue Wölfe genannt, mehr Gewicht bekommen.

Die Deutsch-Türkischen Nachrichten spekulieren über die Koalition zwischen der AKP und einer der drei Oppositionsparteien. Die Kemalisten und Kurden hatten eine Koalition mit der AKP vor der Wahl bereits ausgeschlossen. Die CHP fordert unter anderem, die Machtbefugnisse von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einzuschränken. Die AKP lehnt eine Debatte über die Macht des Präsidenten und AKP-Mitbegründers jedoch kategorisch ab. Viele Beobachter rechnen im November mit Neuwahlen, die die AKP wegen Alternativlosigkeit gewinnen dürfte oder mit einem Bündnis zwischen AKP und Nationalisten.

Der Bruch zwischen Kurden und Türken, der das Land am Bosporus seit Jahrzehnten beschäftigt, geht mittlerweile durch ganz Europa. In Deutschland kandidieren viele Türken auf Listen der SPD, die Kurden wollen in ihrer Mehrheit mit Türken nichts zu tun haben und bevorzugen deshalb die extremistische Linkspartei. Auch in Österreich zeigt sich die Spannung zwischen den Völkern der Türkei. In Wien will die türkische AKP demnächst für den Gemeinderat kandidieren. Die Kurden verweigern die Unterstützung dafür.

Das nationale Zerwürfnis in der Türkei schwächt die Opposition und stärkt deshalb letztlich die AKP. Die Medien und Claudia Roth haben sich über das politische Ende Erdoğans vermutlich zu früh gefreut und getäuscht. Er bleibt uns erst mal erhalten.