Europa ist überdehnt
Manchmal wirft der Tag ein grelles Schlaglicht auf Widersprüche und Ungereimtheiten Europas. Der gestrige Tag war eigentlich nicht spektakulär, sondern exemplarisch. Unsere französischen Freunde waren mit einer Idee ihrer arabischen Bildungsministerin beschäftigt, die deutsche Sprache in den Schulen zurückzudrängen. Le Figaro berichtete weiter über einen Brand an der französischen Autobahn, die Diskussion der deutschen Medien über den Flugzeugabsturz in den französischen Alpen, die Ersäufung christlicher Mitfahrer auf einer moslemische Fähre, den vielleicht neuen Parteinamen der Oppositionspartei UMP und daß Franzosenpräsident Hollande immer noch im Umfragetief steckt. Der Focus ist eigentlich straff innenpolitisch. Gleiches kann man täglich der römischen Presse nachweisen.
Ganz anders in Polen. Die „Rzeczpospolita“ aus Warschau schwelgt in außenpolitischen Themen, mit besonders scharfem Blick auf Deutschland und Rußland. Die Zeitung berichtet über den Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier in Estland und Lettland, wo dieser den baltischen Staaten zuverlässige Unterstützung angesichts ihrer Auseinandersetzung mit den Bedrohungen aus Russland versprochen hatte. Einen Tag vorher hatte sie irritiert über die Idee von Bundeskanzlerin Merkel über eine Freihandelszone mit Rußland berichtet. Ein bebilderter Bericht über die neuen Wachttürme an der russischen Grenze rundete das Rußland-Thema ab.
Damit war Rußland aber immer noch nicht erledigt. Die geplante Fahrt der russischen Nachtwölfe nach Berlin erhitzt die Gemüter. Diese für die östlichen Länder unerhörte russische Provokation nimmt einen breiten Raum in vielen polnischen, baltischen und tschechischen Gazetten ein. In der Rzeczpospolita wurde spekuliert, daß Putins Motorradclub über die Slowakei ins EU-Gebiet einreisen könnte, sehr zum Ärger auch der Tschechen. Rzeczpospolita berichtete auch über den Unmut des russischen Außenministeriums und dessen Erklärung, daß die Ausbildung der ukrainischen Nationalgarde durch US-Soldaten im Gegensatz zu dem Friedensabkommen von Minsk stehe.
Die Prager Zeitung „Lidové noviny“ begrüßte den Verzicht des tschechischen Präsidenten auf seine Teilnahme an der Militärparade in Moskau am 9. Mai, nachdem im In- und Ausland heftige Kritik geübt worden war: „Das ist eine gute Nachricht. Aber wiewohl sie zu der Genugtuung verführt, das Zeman verloren hat, sollte man auf Triumph verzichten. Die in die Welt gesandte Nachricht wirkt unglücklich, aber wir müssen sie uns bewusst machen. Tschechien ist das letzte europäische Land, welches hinsichtlich seiner offiziellen Reise nach Moskau und deren Ziele Klarheit schafft.“
Von den europäischen Führern werden also nur noch der Serbe Nikolić, der Grieche Tsipras und ein Vertreter Zyperns zur russischen Siegfeier fahren. Aus dem Süden erfahren wir weiterhin, daß die griechische Links-Rechts-Regierung russische Raketen einkaufen will und auf russisches Erdgas zum Freundschaftspreis hofft.
Die tschechische Wochenzeitschrift „Echo“ vergleicht die Einstellungen zu Russland in Tschechien und Deutschland: „Über die Tschechische Republik als ein für die Eroberung durch russische Propaganda anfälliges Land zu sprechen ist sehr irreführend, wenn wir die Stimmungen bei uns und in Deutschland vergleichen. Eine Welle prorussischer Sympathien kam dort Ende 2014 zu einem Höhepunkt, als sechzig prominente Persönlichkeiten (… Roman Herzog, Gerhard Schröder, führende Künstler, Juristen, Ökonomen) Regierung und Medien dazu aufriefen, sich um eine Versöhnung mit Russland zu bemühen. Kann man sich so etwas bei uns vorstellen? Das sind … wirkliche deutsche Eliten. (…) Gerade Deutschland ist zudem das Land, das für die Position der EU zu Russland eindeutig den Ton angibt.“
Ja, das war ein ganz normaler Tag in Europa und in den europäischen Medien. Die deutsche Sprache ist in Frankreich auf dem Rückzug. Franzosen und Deutsche können sich ja demnächst auf Arabisch miteinander unterhalten. Hat den Vorteil, daß man den Koran dann in der Originalsprache rezitieren kann. Frankreich und viele andere Länder des Westens sind mit ihrer eigenen Nabelschau beschäftigt, während im Osten Europas der Blick auf die auswärtigen Beziehungen gerichtet ist. In Helsinki, Warschau oder Athen begreift man sich als Frontstaat, egal ob der Hauptfeind nun in Moskau, Berlin oder Ankara sitzt.
Diese Konstellation erinnert an den Vorabend des Zweiten Weltkriegs, wo die Hauptländer des Westens mit sich beschäftigt waren, pazifistischen Strömungen nachgaben und Stalin und Hitler die Initiative überließen. Europa versucht sich derzeit an einer gemeinsamen Außenpolitik. Wo die Wahrnehmung der europäischen Völker und ihrer Hauptmedien so unterschiedlich ist, kann diese nicht wirklich zustandekommen. Europäische Außenpolitik ist auf Dauer kein Elitenprojekt, sondern wird nach und nach ein Spielball europäischer Innenpolitiken.
Die Außenpolitik der EU kann man so karikieren: Auf einer Konferenz in Brüssel geben der finnische, der estnische, der lettische, der ungarische und der litauische Außenminister ihre Statements ab. Die Außenbeauftragte der EU übersetzt alle Reden fließend. Sie wird gefragt, woher sie diese außergewöhnlichen Sprachen kennt. „Ich beherrsche diese Sprachen auch nicht, aber was haben die schon zu sagen?“
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