Regierungen aus dem Zufallsgenerator
Eigentlich sollen Wahlen den Volkswillen abbilden. Es ist ja von repräsentativer Demokratie die Rede. Die Abgeordneten sollen die Repräsentanten des Volks sein. Das ist in immer weniger Staaten der Fall. Ursache sind auch überkommene und manipulative Wahlrechtsbestimmungen.
Im Vereinigten Königreich stehen Wahlen an. Das Land ist in 650 Wahlkreise eingeteilt. Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, ist gewählt. Vor 50 Jahren teilten sich Labour und Konservative in der Regel 90 % der Stimmen. Da war es wahrscheinlich, daß eine Partei mindestens 45 % der Wähler hinter sich bringen mußte, um die Downing Street, den Sitz des Premierministers zu erobern. 2015 sieht das ganz anders aus. Für die Konservativen werden ungefähr 34 % vorausgesagt, für Labour 31 % und die restlichen 35 % teilen sich die Unabhängigkeitspartei, Liberale, Schotten, Waliser, Nordiren und andere.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß Konservative und Liberale mit zusammen 48 % der Stimmen eine knappe Mehrheit zustandebringen. Prognostiziert werden derzeit 319 Sitze dieser Parteien im Unterhaus, also etwas weniger als die Mehrheit. Es könnten aber auch Labour und die Schotten mit zusammen 35 % der Wähler eine Mehrheit zustandebringen. Derzeit werden 309 Sitze für beide Parteien vorhergesagt. Obwohl fast 60 % der Wähler rechts wählen, ist der Sieg für Labour nicht ausgeschlossen. Diese Abweichung vom Wählerwillen wird dadurch ermöglicht, daß kleinere Parteien mit bis zu 20 % Wählern nur wenige Sitze beim herrschenden britischen Mehrheitswahlsystem erreichen.
Ähnlich finster geht es in Griechenland zu. Das Links-Rechts-Regierungsbündnis aus Syriza und Unabhängigen Griechen erhielt nur 41 % der Wählerstimmen, hat aber 54 % der Sitze im Parlament. Das rührt daher, daß die stärkste Partei 50 Sitze extra auf das Wahlergebnis obendrauf bekommt. Das heißt, von den 300 Parlamentssitzen werden nur 250 regulär nach der Stärke der Parteien verteilt, die restlichen 50 sind die Siegprämie.
Auch in Italien gibt es die Siegprämie, allerdings nicht für eine einzelne Partei, sondern für das siegreiche Parteienbündnis. So hat die regierende Demokratische Partei 25,4 % der Wählerstimmen bekommen und stellt 297 Abgeordnete in der Kammer. Dagegen vereinigte die Bewegung der 5 Sterne 25,6 % der Wählerstimmen auf sich, hat aber nur 109 Volksvertreter. Letztlich regiert Matteo Renzi mit 29,5 % der Wählerstimmen, wenn man seine Bündnispartner dazurechnet.
Die französischen Sozialisten regieren mit 29,4 %. Rechnet man noch Grüne und Radikale dazu sind es 36,1 %, mit denen immerhin fast 53 % der Sitze in der Nationalversammlung errungen wurden.
Nun denken sicher viele Leser, daß es in Deutschland alles anders wäre. Zwar hat die Große Koalition 67,2 % der Wählerstimmen bekommen, besetzt aber knapp 79,8 % der Sitze im Bundestag. 16 % der Wähler haben Parteien gewählt, die die 5 %-Hürde nicht übersprungen haben. FDP und AfD waren knapp an dieser Marke gescheitert.
Nun muß man noch die geringe Wahlbeteiligung beachten: Im Vereingten Königreich 65,1 %, in Griechenland 63,9 %, in Italien 75,2 %, in Frankreich 57,2 % und in Deutschland 71,5 %.
In Griechenland stehen nach Berücksichtigung der Wahlbeteiligung 26 % der Wähler hinter der Regierung, in Italien 22 %, in Frankreich 21 % und in Deutschland 48 %. Sollte Labour die Wahl in Großbritannien gewinnen, so wären es etwa 23 %. Gewinnen die Konservativen wären es 31 %.
Wenn man von einigen kleineren Ländern absieht, hat in Europa wegen der geringen Wählerzustimmung eine Legitimationskrise der Regierenden begonnen. Das ist auf zwei Ursachen zurückzuführen:
Die Länder sind bunter geworden. Alte Frontstellungen zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien sind Geschichte, weil sowohl die Arbeiterklasse wie auch das Produktionsmittel besitzende Bürgertum rein zahlenmäßig in Auflösung begriffen sind. Eine größere Rolle spielen Parteien, die am Umverteilungstropf hängen oder die dahin wollen. Zum Anderen sind die Gesellschaften auch durch Zuwanderung deutlich inhomogener geworden und immer mehr Parteien unterdrückter Völker entstehen. Schotten und Waliser, Katalanen, Russen, Basken, Korsen, Südtiroler, Iren, Ungarn, Polen, Schweden, Türken, Dänen und Deutsche. Fast überall gibt es in der EU Parteien der nationalen Minderheiten. Selbst Sarden, Bayern und Sizilianer haben eigene Parteien. Erste Moslemparteien bilden sich.
Die zweite Ursache ergibt sich aus der angewachsenen Verschuldung der Staaten. Die Korrumpierung der Wähler durch Wohltaten wird immer stärker eingeschränkt. Ein gutes Beispiel ist Griechenland, wo das Wachstum des Staatsapparats in den letzten Jahren verlangsamt bzw. gestoppt wurde.
Patentrezepte gibt es natürlich nicht, um die eingetretene Entwicklung der Elitarisierung der Politik zu stoppen. Wahlrechtsänderungen sind in einigen Staaten jedoch überfällig. Die Regierenden faseln ständig von Buntheit und Vielfalt. In den Parlamenten tun sie alles, um Buntheit und Vielfalt zu verhindern und zu ersticken, Parteien draußen zu halten. Der Bürger soll sich klaglos mit Unübersichtlichkeit und Neuerungen arrangieren. Überall entstehen Asylbewerberheime vor der Haustür. Der Politiker sperrt dagegen aus den Parlamenten alles aus, was unübersichtlich ist und ihn bei der Machtausübung sowie bei der Selbstbedienung stört. Wenn der Bürger mit Widrigkeiten zurechtkommen muß, sollte der Politiker auch betroffen sein.
Die deutsche Fünfprozentklausel wurde eingeführt, um eine Parteienzersplitterung wie in der Weimarer Republik zu vermeiden. Wenn man jedoch die Wahlergebnisse der Weimarer Republik anschaut, sieht man auf den ersten Blick, daß in der Weimarer Republik eine 5-Prozentklausel nur demokratischen Parteien geschadet hätte, kaum jedoch Kommunisten und Nationalsozialisten.
In Italien wurde die Siegprämie von Silvio Berlusconi 2005 mit der Begründung eingeführt, stabilere Mehrheiten zu erzielen. Porcellum = Schweinerei nannten die Italiener das Gesetz. Trotz dem regierungsfreundlichen Wahlgesetz wurden seitdem alle Regierungschefs vorzeitig gestürzt: Prodi, Berlusconi, Monti und Letta. Das neue Wahlrecht von 2015 sieht vor, dass im Abgeordnetenhaus die Partei, die mindestens 40 Prozent der Stimmen bekommt, automatisch eine 55-Prozent-Mehrheit erhält. Also schon wieder Manipulation des Wählerwillens, dieses Mal durch Matteo Renzi. Porcellum 2.0 ist das.
In Frankreich, Großbritannien und Deutschland ist es eigentlich überfällig, daß kleinere Parteien mit Millionen Wählerstimmen irgendwie ins Parlament kommen. Die Alternative ist die außerparlamentarische Opposition, die insbesondere in Frankreich das Regieren oft unmöglich macht. Seien es die Bombenanschläge der Korsen, die Zerstörung von Mautstellen durch Bretonen, die Hinrichtung von Karikaturisten durch Moslems oder gewerkschaftliche Proteste der Franzosen: In Frankreich geht es außerparlamentarisch immer hart zur Sache. In Deutschland etabliert sich mangels anderer Möglichkeiten auch gerade eine außerparlamentarische Kultur. In jeder größeren Stadt gibt es montags Bürgerkrieg.
Genauso wichtig wie Wahlrechtsreformen ist etwas Ehrlichkeit. Der Wähler, dem Unmögliches versprochen wird, reagiert mit Recht enttäuscht und bleibt am Wahltag zu Hause. Folgende Anekdote bildet diesen Frust ab: Ein Wahlberechtigter wird gefragt, warum er nicht zur letzten Wahl gegangen ist. „Wenn ich gewußt hätte, daß es die letzte ist, wäre ich natürlich hingegangen!“
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