Die Wähler streiken
Die Kommunalwahl in Schleswig-Holstein war hinsichtlich der Wahlbeteiligung eine ganz durchschnittliche Wahl in Deutschland. Die Nichtwähler haben mit 54 % gesiegt. Wenn man sich das Ergebnis näher ansieht, wird die Ursache klar. Viele Gemeinden haben eine Größe, die von den Bürgern nicht mehr überschaut wird und wo örtliches Engagement im großen Bürokratie- und Förderdschungel untergeht. Früher wurde das durch die Lokalzeitungen überkleistert. Sie stellten ein kommunales Traumland mit zerschnittenen Einweihungsbändern und 100jährigen Geburtstagen dar, eine Parallelwelt der Politik. Heute ist fast überall nur noch eine Gazette übriggeblieben, die maximal in jedem dritten Haushalt gelesen wird. Die meisten Bürger werden nicht einmal mehr mit Agitation und Propaganda erreicht. Die Internetauftritte der Parteien werden vor jeder Wahl frisch renoviert, sind die Zettel in die Wahlurne gefallen, versinken sie im vierjährigen Dornröschenschlaf, bis wieder Wahlen sind. Unter diesen Bedingungen wird die Größe der Kommune für die Wahlbeteiligung ausschlaggebend.
Die vier Großgemeinden in Schleswig-Holstein liegen 2013 alle unter 40 % Beteiligung.
Gemeinde |
Einwohner |
Wahlbeteiligung % |
Kiel |
236.900 |
37,2 |
Lübeck |
211.500 |
37,1 |
Flensburg |
87.800 |
35,9 |
Neumünster |
79.800 |
39,8 |
Es gibt in Schleswig-Holstein über 1.116 Gemeinden. Ich habe mal vier Orte mit mittlerer und geringer Bevölkerung ausgewählt und die Wahlbeteiligung zum Vergleich ermittelt.
Gemeinde |
Einwohner |
Wahlbeteiligung % |
Brokdorf |
980 |
62,9 |
Dagebüll |
896 |
63,7 |
Bordesholm |
352 |
71,0 |
Schönbek |
167 |
70,4 |
Es ist ganz klar, daß die kleinen Gemeinden hinsichtlich der Bürgernähe in einer anderen Liga spielen, als Groß- und Mittelstädte. Der ehrenamtliche Bürgermeister von Brokdorf hat selbst wenn er nur 3 Stunden in der Woche für die Gemeinde tätig ist 10 Minuten im Jahr für jeden seiner Bürger Zeit.
Kiel hat 237.000 Einwohner. Der hauptamtliche Bürgermeister hat im Jahr geschätzt 2.500 Arbeitsstunden. Das sind 150.000 Minuten. Für jeden Bürger sind das pro Jahr 38 Sekunden. Die Bürger sind auf die Lolkalpresse angewiesen, um überhaupt etwas von der Verwaltungstätigkeit zu erfahren. In Kiel sind die Kieler Nachrichten die einzige Lokalzeitung. Ihre Verbreitung ist von 1998 bis 2013 von 115.000 auf 90.000 zurückgegangen, also minus 22 %. Die Verbreitung beschränkt sich nicht auf Kiel, sondern umfaßt auch die Kreise Rendsburg-Eckernförde, Plön, Segeberg, Ostholstein und die Stadt Neumünster. Kurz: Zwei Drittel der Bürger erfahren über die Stadtpolitik in Kiel wenig oder nichts. Das Drittel, das die Zeitung liest, erfährt auch nur das, was die Redakteure ausgewählt und aufbereitet haben. Das ist immer etwas anderes, als wenn man dabeigewesen ist.
Die Tendenz geht überall in Europa zur Auflösung kleiner Gemeinden und zu größeren Gebietskörperschaften. Damit sinkt die Zahl der Mandatsträger absolut, die Wahlbezirke werden so groß, daß nur noch Prominenz aus Rathäusern, größeren Vereinen und Verbänden die Chance hat ein Mandat zu erringen. Insbesondere Arbeiter, Landwirte und Handwerker verschwinden aus den Ratssälen, wenn die Gemeinden größer werden. Die Politik verliert Bodenhaftung, die größeren Parteien können ihre Mitglieder nicht mehr adäquat beschäftigen, die Mitgliederzahlen sinken und immer mehr Entscheidungen fallen in Hinterzimmern von Parteizentralen.
Von bestimmten Kreisen ist das so gewollt. Es gibt viele Politiker, die kritische Stimmen aus dem wirklichen Leben und aus der Realwirtschaft nicht mehr hören wollen und sich lieber im Kreise von immer denselben treuen Parteisoldaten und Ohrenbläsern in immer denselben Gremien bewegen. Das kann man in großen Kommunen über das Ritual der Kandidatenaufstellung viel schneller erreichen, als in kleinen. Wenn man in einer kleinen Gemeinde ein kritisches Parteimitglied bei der Kandidatenaufstellung wegdrückt, taucht es in einer Wählergemeinschaft wieder auf. In einer Großstadt ist es raus, wenn es nicht spurt.
Die geringe Wahlbeteiligung ist hausgemacht. Die repräsentative Demokratie wird immer weniger repräsentativ und immer manipulativer. Die Wähler merken das und streiken.